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die Information, dass der Verblichene die erste Woche der Marburger Sommerakademie und damit seine letzten Tage bzw. Nächte auf Erden in einem Wohnmobil auf dem Parkplatz vor dem Gassmann-Stadion verbracht hatte.

      Die Spurensicherung konnte leider nicht feststellen, ob nun irgendjemand das Wohnmobil gründlich durchwühlt hatte, oder ob Horst Weigand einfach nur ungewöhnlich kreativ gewesen war. Anzeichen für einen Kampf waren jedenfalls genauso wenig zu entdecken, wie irgendwelche Indizien, die auf einen Verdächtigen oder wenigstens auf ein Motiv hingewiesen hätten. Kommissar Lang tappte also in jeder Hinsicht in der gleichen Dunkelheit, in der die weitläufigen Sportstätten und Schulhöfe in diesem Teil der Stadt bei Nacht lagen. Nur, dass Weigand tatsächlich ermordet worden war, stand nach der Obduktion fest, denn unter der Achsel des Toten fanden sich die Abdrücke eines Elektroschockers. Das hieß, dass er vermutlich von hinten angegriffen worden war, denn von vorn lässt man Mitmenschen, die ein solches Gerät in der Hand halten, gemeinhin nicht so nahe an sich heran. Aber wo das geschehen und demnach der Tatort war, blieb unklar, auch nachdem man den weiteren Umkreis des Wohnmobils gründlich abgesucht hatte. Das hier war nämlich bei Nacht eine zwar finstere, aber eigentlich ruhige Gegend, und Dealer, Diebe und andere lichtscheue Zeitgenossen hätten sie erst mal finden müssen. Gut, auf den zahlreichen Bänken, Mauern und manchmal sogar auf der Haupttribüne des Gassmann-Stadions betranken sich gelegentlich Jugendliche, die das eigentlich noch nicht durften. Durch eine kurze Internetrecherche wusste Kommissar Lang auch bald, dass es bei den pubertierenden Schülern der umliegenden Bildungsanstalten zeitweise eine Art nächtlicher Mutprobe gewesen war, im Mittelkreis des Stadions dem Drängen der körperlichen Liebe nachzugeben – allein, zu zweit, in der Gruppe, je nach Möglichkeit, Wagemut und Alkoholkonsum. Bei Facebook waren vor zwei Jahren entsprechende Fotos aufgetaucht und hatten für einen Skandal im mittleren Bereich der städtischen Aufregungsskala gesorgt. Aber die letzten Nächte waren eigentlich zu kalt für Wiederholungstäter und zu dunkel für Aktzeichner oder andere mögliche Zuschauer gewesen. Nein, wenn man Weigand als Zufallsopfer betrachtete, konnte es sonst wer gewesen sein, und sonst wer ließ sich kriminaltechnisch immer so sauschwer ermitteln. Man musste notgedrungen nach einem Motiv suchen und es gab nur einen Ort, wo man sinnvollerweise damit anfangen konnte. Einen Ermittler inkognito als kunstbeflissen in einen Malkurs einzuschleusen, hätte aber zum einen ein entsprechendes Talent erfordert, von dem Kommissar Lang bei keinem seiner Kollegen ausging. Andererseits wäre es bei der hohen Kursauslastung der Sommerakademie mit ihren kilometerlangen Wartelisten technisch anspruchvoll geworden. Ein so prompt auftauchendes neues Gesicht würde jeden Täter wohl auch äußerst misstrauisch machen und sehr viele andere Möglichkeiten, sich unauffällig in »Malerei/Zeichnen – Akt« einzuschleichen gab es nicht. Also sagte Kommissar Lang schließlich mit etwas verkniffenem Grinsen: »Meinert, Sie machen doch FKK!?«

      Schon nach einer Stunde war ihr Hintern so kalt, sie hätte ihn auf Cocktailpartys als Erfrischung reichen können. Judith Meinert merkte das aber erst, als sie sich selbst kurz berührte, denn im Kopf war ihr so warm, dass sie Angst hatte, sie wäre knallrot angelaufen. Sie machte eigentlich kein FKK, wenn man mal von ein paar lebensfrohen Sprüngen in die Ostsee absah, die sie im ersten Zelturlaub mit ihrem ersten Freund nach der ersten gemeinsamen Nacht vollführt hatte. Aber dabei hatte sie gottlob niemand beobachtet und inzwischen waren Urlaub, Freund, Nacht und Nacktheit im Morgennebel glücklich verjährt. Also sagte sie einfach nur »Nein«, als Kommissar Lang seine seltsame Frage gestellt hatte.

      »Aber Sie kommen doch aus dem Osten …«, war die Erwiderung gewesen.

      »Wir sagen: Mitteldeutschland, Chef«, hatte sie gesagt. »Ich bin Jahrgang 91!«

      »Also jung und schön!« hatte er geantwortet, was man einerseits vielleicht als sexistischen übergriff hätte werten können, was aber andererseits kaum eine Frau rundheraus abstreiten würde. Zumal ihr sein Plan, inkognito Informationen über Horst Weigand und sein letztes soziales Umfeld zu sammeln, aus ermittlungstaktischen Gründen durchaus einleuchtete. Nach einigen einsamen Gläsern Wein und deutlich mehr langen, selbstkritischen Blicken in ihren Schlafzimmerspiegel hatte sie schließlich am nächsten Morgen zugesagt – und stand mit diskreter Unterstützung des Akademiebüros schon am Nachmittag zum ersten Mal nackt vor einem gewissermaßen zahlenden Publikum. Und obwohl sie sich immer wieder zwang, ganz Auge und Ohr zu sein, war sie dabei am Anfang doch vor allem Knie, Bauch, Brüste, Hüften, Hinterbacken, Schultern, Hände, Ellenbogen, mit einem Wort: nervös. Denn während sie sich gestern Abend vor dem Spiegel irgendwann ganz passabel gefunden hatte, kam sie sich hier wie eine schlecht zusammengesetzte Marionette vor. Besonders, weil Kursleiter Seidemann, der hinter den Staffeleien seine Korrekturrunden drehte, immer wieder Sachen sagte wie: »Da am Knie kommt noch eine ganz starke Form raus!« Irritiert sah Judith an sich hinunter und dachte: ›Um Himmels Willen, was kommt denn da für eine Form raus?!‹ Kryptisch blieb zunächst auch die Äußerung: »Das linke Bein ist eins der Schwierigsten!« Dabei fiel ihr aber schmerzhaft auf, dass sie ja seit einer halben Stunde auf dem rechten stand, ihr Spielbein also als weniger gewichtsbelastet eine malerische Herausforderung darstellte. ›Stimmt‹, dachte sie da, ›wie macht man das eigentlich?‹ Sich selbst in dieser Weise als technisch-künstlerisches Problem betrachtend, kam Judith sich eine Weile etwas weniger nackt vor. Bis die Fliege sie entdeckte. Sie dachte jedenfalls, dass es eine Fliege war, die sich unter ihre rechte Achsel gesetzt hatte und nun so gemächlich wie ein Rentner, der den Tag vor sich hat, Richtung Hüfte und Pobacke spazierte. Ein hartnäckiges Biest! Judith hatte mehrfach mit dem Schulterblatt gezuckt, die Fliege damit aber lediglich zu einer etwas schnelleren Gangart veranlasst. Das brachte sie immerhin irgendwann in Schlagweite und – Klatsch! – schlug die Kommissaranwärterin sich plötzlich auf den eigenen Schenkel, traf und zerschmetterte aber nur einen dicken Schweißtropfen. Und noch während sie überrascht registrierte, wie kalt ihre Haut war, wurde sie fürchterlich rot und dachte: ›Oh Mann, ich steh hier nicht nur mit nacktem Arsch, ich schwitze auch noch wie ein Schwein!‹ Judith Meinert schwor sich in diesem Moment, das Motiv des Mörders um jeden Preis zu finden und flüchtete sich in der Pause dankbar in ihren Bademantel.

      Währenddessen zeitigten auch die weniger körperintensiven Ermittlungen immer mehr Resultate. Anwohnern des Teichwiesengrabens waren in der Mordnacht zwei Betrunkene unangenehm aufgefallen, weil sie »Einmal noch nach Bombay« gesungen hatten. Zwei Zeugen hatten sie lediglich gehört, aber eine Medizinstudentin, die wegen irgendeiner letztmaligen Gottesurteil-Wiederholungsprüfung eine Nachtschicht fuhr, hatte sie tatsächlich auch gesehen: zwei schwankende Männer, unterwegs Richtung Gisselberger Straße. Aber gesungen habe nur der, der den anderen stützen musste. Aufgrund ihrer von der Prüfungsvorbereitung zweifellos überreizten Sinne erkannte sie auf den Fotos sogar Horst Weigand als den nichtsingenden Part des Duos wieder. In dessen Leiche hatte ein sportlich herausgeforderter Gerichtsmediziner inzwischen absurd hohe Mengen Blei, Kupfer und sogar Arsen nachgewiesen, eine akute Vergiftung allerdings ausgeschlossen. Weigand musste das Zeug über Jahre hinweg aufgenommen haben, aber niemand konnte erklären, wie und warum. Niemand wusste auch, wie er seine kleine aber geschmackvolle Villa in Oberursel finanziert oder wovon der Mann überhaupt gelebt hatte. Angehörige, die diese Fragen hätten klären können, gab es nicht. Die Nachbarn redeten vage von einer Erbschaft und einem offenbar bevorstehenden Umzug. Mehrfach habe Weigand in letzter Zeit Kisten und sperrige Pakete aus dem Haus geschleppt und in sein Wohnmobil geladen. Dort hatte Kommissar Lang allerdings nichts gefunden, was auf diese Beschreibung passte. Er ging deshalb versuchsweise davon aus, dass seine Leiche noch irgendeine andere Wohnung besessen hatte. Am besten in der Nähe einer Chemiefabrik, dann ließen sich auch die giftigen Rückstände in seinem Körper erklären, dachte er missmutig. Lang war ein bisschen sauer auf sich selbst, denn die meisten dieser Ermittlungsarbeiten waren in den letzten vier Tagen an ihm hängen geblieben, während Kommissaranwärterin Meinert sich malen ließ. Und wenn sie nicht bald ein Motiv fand, wusste er auch nicht mehr weiter.

      Judith war inzwischen selbst ein begehrtes Motiv geworden. Sie wurde sogar von den Kursteilnehmern privat gebucht, also abends und am Wochenende eingeladen, wenn in der Turnhalle kursunabhängig gemalt wurde. Obwohl sie es sich nicht gern eingestand, hatte das ihrer weiblichen Eitelkeit geschmeichelt, denn natürlich wusste sie nicht, dass jedes neue Aktmodell dazu eingeladen wurde. In der Sommerakademie gab es nämlich auch – vorwiegend männliche – Modelle, die man euphemistisch als Veteranen bezeichnen könnte. Alte Säcke, die schon seit zehn, zwanzig

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