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an einem von Techno-Bässen geschüttelten Geländewagen vorbei, in dem ein einzelner Mann saß. Er hatte das Fenster heruntergekurbelt und ließ eine Hand heraushängen, in der er eine Dose Cola hielt. Dahinter war ein glänzender Golf, dessen Heckklappe offen stand. Aus seinem Inneren drangen die Beats der Reykjavíker Hip-Hop-Helden XXX Rottweiler Hundar. Unbeeindruckt davon, dass die Heckklappe im Sturm zitterte, saßen zwei Jungs im Kofferraum und redeten gleichzeitig auf ein Mädchen ein, das zwischen ihnen saß. Sie tranken Bier aus Dosen, ihre Beine berührten fast die Straße. Das Mädchen sprang heraus, rannte auf ein anderes Mädchen zu, das gerade im 22 verschwinden wollte, und rief den Jungs zu: «Das ist meine Cousine. Meine Cousine Hulda.«

      Weil viele Autofahrer Fußgänger trafen, die sie zumindest hupend begrüßen mussten, wenn sie nicht sogar anhielten, um sich grölend über das Ziel der bevorstehenden Nachtvergnügung zu verständigen, kam der Verkehr vollkommen zum Erliegen.

      Auf den Parallelstraßen wäre man viel schneller vorangekommen, und doch fuhren alle den Laugavegur hinab. Alle halfen mit, wenigstens freitags und sonnabends einen Verkehrsstau zu erzeugen, wie er sich in Reykjavík sonst selbst im dichtesten Berufsverkehr nicht einstellen wollte. An den Wochenenden zwischen ein und sechs Uhr wirkte die Stadt so großstädtisch wie nie. Alle stürzten sich in das Nachtleben, diese kollektive Auflehnung gegen den Winter, die Dunkelheit, Langeweile, Pizzabringdienste, Chat-Rooms und Pay-TV.

      Wir ließen eine Ginflasche kreisen, wobei – ein richtiger Kreis war es nicht. Eher eine Gerade, auf der die Flasche hin- und herpendelte, zwischen Matilda und mir. Dabei freute ich mich nicht nur auf die Nacht, sondern auch auf den nächsten Morgen. Es kam immer so, dass wir, wenn wir überall gewesen waren, bei Matilda weitertranken, bis der Erste von uns auf einer ihrer Fensterbänke einschlief, die leer waren und breit wie Betten. Nirgendwo schlief ich so gut wie dort, Reykjavík mit seinen erleuchteten Hügeln und der schwarzen Bucht unter mir. Und das Aufwachen in der übersäuerten Einsamkeit des nächsten Tages war niemals schrecklich, weil wir weder allein aufwachten noch in dem Bett eines unbekannten, im aufkommenden Tageslicht hässlicher werdenden Menschen.

      Wir waren auf dem Weg ins kaffi gógó. Dort waren wir das erste Mal vor vierzehn Jahren gewesen, als wir gerade angefangen hatten, in uns mehr zu sehen als den Jungen und das Mädchen mit den Kleinbildkameras. Wir hatten unsere Freundschaft aus den Kinder- und Lebertranpillentagen herübergerettet in ein Erwachsenengefühl, das seit einiger Zeit wie ein dem Schlamm Nibelheims entstiegenes Monster in uns herumtorkelte. Wir hatten uns vorgenommen, zum ersten Mal in der Innenstadt betrunken zu werden. Wir wollten endlich Kontakt aufnehmen mit dem erwachsenen Leben, das aus Freundschaften zu Barkeepern, Türstehern und Tresenmädchen zu bestehen schien. Wir wollten dazugehören, zu den hart gesottenen Twens, geheimnisvollen Fischerburschen und trägerlosen Björk-Nachahmerinnen, die an der Bar im kaffi gógó ihre Nierenknuffe setzten und im Obergeschoss auf den Sofas knutschten. Matilda hatte ihre Mutter gebeten, zum Schwarzen Schwan am Busbahnhof Hlemmur zu gehen und französische Zigaretten in roten Schachteln zu kaufen. Zusätzlich hatte ich aus Hamburg zwei Zigarettenpackungen mitgebracht, von deren Steuermarken wir eine Eins und eine Zwei ausschnitten und über die Fünf der 1975 auf unseren Ausweisen klebten. So kamen wir an dem Türsteher vorbei. Drinnen verlangte ich mit einem Nuscheln, das zumindest damals für mich der kettenrauchenden Nonchalance eines Godard-Schauspielers ebenbürtig war, einen Aschenbecher und kaufte Bier. Der erwartete Kampf an der Bar blieb dabei aus, denn bis auf uns war noch keiner da. Wir setzten uns im Obergeschoss auf die Fensterbank unter dem Straßenschild aus Amsterdam und schauten lange in den regennassen Hinterhof mit den Lüftungsschächten. Als sich das gógó langsam füllte, entpuppte sich die Fensterbank als Logenplatz, um zuzusehen, wie um uns herum alles aus dem Ruder lief. Eine Frau in hohen Stiefeln schlug ihrem Freund weinend ins Gesicht. Ich unterhielt mich mit einer betrunkenen Krankenschwesterschülerin, die sich mühsam an der Handtasche unter ihrem Arm festhielt und mich zweimal grinsend fragte: »Deine Freundin ist nicht deine Freundin, oder?« Als die Krankenschwesterschülerin mich küssen wollte, ging Matilda aufs Klo, und als ich die Krankenschwesterschülerin nicht küssen wollte, sagte diese: »Denk dran, ich werde Krankenschwester. Irgendwann wird dein Leben einmal in meiner Hand sein.«

      Am Anfang dieses ersten Abends im Reykjavíker Nachtleben war ich fest entschlossen, mich im kaffi gógó zu bewegen wie ein The Clash hörender Nordengländer mit einer Narbe in der Augenbraue und einer Rule Britania-Tätowierung auf dem mächtigen Bizeps. Als ich jedoch zum dritten Mal die Treppe hinabging, um für Matilda und mich ein viertes Bier zu holen, wurden meine Beine plötzlich leicht. Mir war Barbra Streisand eingefallen, und während ich langsam, Schritt für Schritt, die Treppe hinunterstieg, sang ich leise vor mich hin: There’s no business like show business.

      Wie jeder Stammgast hatte ich eine Theorie, warum das kaffi gógó nie aus der Mode kam: Es war der einzige Club mit einer Dramaturgie. Im gógó musste man keine Fragen stellen und keine Entscheidungen treffen: Das gógó könnte mindestens bis sechs Uhr offen bleiben wie die meisten anderen Clubs, machte aber um vier Uhr fünfzehn dicht. Punkt vier Uhr fünfzehn. Weil das alle wussten, achteten sie darauf, um zwei in bester Stimmung zu sein und sich um halb vier vor der Bar in erbitterte Kämpfe um ein letztes Getränk zu verwickeln. Wenn dann genau um vier, mitten im Lied, die Musik abbrach und das Licht anging, konnte man sich noch eine Viertelstunde an die Reste der Nacht klammern. In den anderen Läden, die bis sechs offen hatten, zerfaserte die Nacht. Dort waren einige bereits um Mitternacht betrunken, während die anderen blöd guckten, und wenn die, die um Mitternacht noch blöd geguckt hatten, um drei betrunken waren, waren die anderen, bereits um Mitternacht Betrunkenen, schon gar nicht mehr wach.

      Immer schneller ging ich mit Matilda den Laugavegur hinunter. Dies war die Zeit, zu der sich vor dem kaffi gógó oft eine Schlange bildete, und ich wollte auf keinen Fall warten. Matilda bemerkte den Rauch zuerst. Ich hatte ihn für eine verirrte Wolke gehalten, bis ich den beißenden Geruch wahrnahm und das Flackern des Blaulichts sah. Als wir an die Polizeiabsperrung herangingen, sahen wir, dass eines der alten Häuser auf dem Laugavegur in Flammen stand.

      Matilda sagte:

      »Da wohnt doch Dagur.«

      »Wer?«

      »Na, Daggi!«

      Aus den Dachfenstern des mit Wellblech gedeckten Hauses, deren Scheiben schon gesprungen waren, quollen im Wechsel schwarze und graue Schwaden hervor. Durch die Stellen, an denen die Wellblechbahnen auf dem Dach zusammengenagelt waren, kroch ebenfalls Rauch, in ordentlichen Linien. Vor dem Haus war ein Gewirr aus gelbem Absperrband, Schläuchen und Drehleitern entstanden. Wie ein Vorhang aus Gaze legte sich feine Löschwassergischt um die Feuerwehrautos. Wir tauchten unter der Absperrung hindurch und gingen auf einen roten Bus zu, in dessen Fenster ein Schild hing, auf dem »Feuerwehr Reykjavík « stand und dass hier die geretteten Bewohner betreut würden. Der Bus war leer.

      Ein Polizist in einem schwarzen Schneeanzug, der mit den Reflektorstreifen an Armen und Beinen aussah wie ein übergroßes Schulkind, scheuchte uns hinter die Absperrung zurück.

      »Hat sich jemand verletzt?«, fragte Matilda den Polizisten. Er hielt eine Tasse in der Hand, aus der Dampf aufstieg.

      »Wir wissen noch nichts Genaues.«

      »Ein Freund von mir wohnt da drin. Sind denn alle raus?«

      »Das können wir noch nicht sagen.«

      Wir stellten uns auf den Parkplatz, der dem brennenden Haus direkt gegenüberlag. Ein gelber, fast quaderförmiger Wasserwerfer der Flughafenfeuerwehr rangierte sich in Position, um die Brandschutzwand zu dem Haus mit dem Schuhgeschäft zu bespritzen. Alle Feuerwehren aus Südwestisland schienen ausgerückt zu sein. Die ankommenden Feuerwehrmänner entluden hastig ihre silbern glänzenden Atemschutzgeräte. Sie trugen Gummistiefel, die aussahen wie Köpfe von riesigen Gelbwangenschildkröten. Es war kalt und merkwürdigerweise auch still. Nur das Rattern der Dieselmotoren war zu hören; gelegentlich heulte ein Elektromotor auf und eine Drehleiter schob sich in die Höhe. Da erschien der dichte schwarze Rauch, der auf der Rückseite des Hauses aufstieg, plötzlich in einem roten Feuerschein. Wenig später flackerte es in den Fenstern des obersten Stockwerks auf. Das Feuer schien an dem Wasser vorbei zu brennen, die Flammen

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