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Aus den Schneeflocken auf ihrer Wange waren kleine Flecken geworden. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals einen Menschen so genau betrachtet zu haben. Das war nicht mehr die Matilda, die ich kannte, obwohl sie noch dieselbe graue Daunenjacke trug. Ich betrachtete sie so lange, bis ich erkannte, was anders geworden war. Ihr Blick erschien mir härter; wo sie früher verletzlich gewirkt hatte, wirkte sie nun verletzt. Zum ersten Mal fand ich, dass Matilda sehr nordisch aussah, und zum ersten Mal bedeutete dieses Wort für mich so etwas wie trist. Meine Matilda war auf dem Weg, eine einsame Gestalt aus einem Film von Aki Kaurismäki zu werden, ein vom vielen Kaffee blass gewordenes Orakel der Polarnacht. Sie musste hier weg.

      »Was guckst du mich so an?«

      »Nichts.«

      Der Sturm jagte Schnee und Eisregen inzwischen fast waagerecht über den Parkplatz. Das Auto zitterte bei jeder Bö wie der Spinning Racer auf dem Hamburger Dom, der vibrierte, kurz bevor er anfing, sich rasend in Bewegung zu setzen. Matilda zog sich tiefer in ihre Daunenjacke zurück, deren Außenhaut bei jeder Bewegung leise knisterte.

      »Willkommen zu Hause, Lárus.«

      Lárus.

      Das bin ich.

      DUNKLER NACHMITTAG

      Den dunklen Nachmittag verbrachte ich in einer Videothek, um einen Film auszuleihen, den ich am Abend mit Matilda angucken wollte. Ich stellte es mir schön vor, mit einem Film zu beginnen, um uns bewusst zu machen, dass wir einen ganzen Monat Zeit hatten, um miteinander zu reden. Ein etwa achtzehnjähriger Junge stand zwischen Kartoffelchipstüten und Schokoriegeln an der Kasse. Er griff die leere Hülle des Films, den ich ausgesucht hatte, und zielte mit dem Scanner darauf, bis es piepte.

      »Deine Personenkennzahl?«

      »171175-2599.«

      Er tippte die Zahlen ein und zögerte.

      »Noch mal, bitte.«

      »171175-2599.«

      »Wie heißt du?«

      »Lárus.«

      Er sah wieder auf den Monitor. Ich dachte mir nichts dabei, dachte nur daran, wie praktisch es sei, dass man hier ein Video ausleihen konnte, indem man nur seine Personenkennzahl sagen musste, die sich aus dem Geburtsdatum und einer vierstelligen Zahl zusammensetzte. Der Junge tippte mit der rechten Hand in seinen Rechner, sah auf den Bildschirm, der sich in seinen Brillengläsern unter der Schirmmütze spiegelte.

      »Lárus Lúðvígsson?«, fragte er.

      »Ja.«

      »Du bist tot.«

      »Was?«

      »Du bist im Einwohnerverzeichnis als tot eingetragen.«

      »Aber ich bin Lárus.«

      »Ich kann einem Toten kein Video ausleihen.«

      »Wann bin ich denn gestorben?«

      »Das steht hier nicht.«

      »Ist ja auch egal. Ich bin nämlich nicht tot.«

      »Das glaube ich dir gerne. Du kannst das Video natürlich trotzdem haben, dann musst du dich nur registrieren lassen. Das kostet fünftausend Kronen Pfand.«

      Ich verließ die Videothek, um eine Zigarette zu rauchen. Es war nicht so wichtig mit dem Film. Irgendwann in den nächsten Tagen würde ich zum Einwohnermeldeamt gehen und mich beschweren. Vorerst beschloss ich jedoch, nicht weiter darüber nachzudenken, zumal der staatliche Alkoholladen bald schließen würde.

      ZWEI FISCHE

      Das Foto, das vor mehr als zwanzig Jahren den Beginn unserer Freundschaft markierte, entstand auf der Walfangstation am Wal-Fjord. Matilda und ich waren mit meinem Onkel Ágúst in seinem durchgerosteten Opel Rekord hingefahren, bei dem ich einmal die Fußmatte anhob und direkt auf die Schotterstraße sehen konnte. Dem Wal hatten sie eine Kette um die Schwanzflosse gelegt und ihn auf die Rampe gezogen. Ich hatte mir das Armband meiner Kleinbildkamera um das eine Handgelenk geschlungen und hielt mir mit der anderen Hand die Jacke vor die Nase, gegen den tranigen Gestank aus dem Schornstein. Matilda hatte mit ihrer Kleinbildkamera ein Foto von mir gemacht, wie ich die Männer in Ölzeug fotografierte, die auf dem toten Wal herumliefen. Die Männer schnitten ihm mit Messern, deren Klingen größer waren als ihre gelben Gummistiefel, in Bahnen die fettgepolsterte Haut von den Knochen – rot und weiß wie Zahnpasta. Viele der Erwachsenen sagten damals im Scherz, dass wir wohl später einmal heiraten würden. Matilda und ich dachten das auch.

      Am nächsten Tag hatte ich ein Foto von Matilda gemacht, wie sie im Streichelzoo von Reykjavík einen Nerz fotografierte. In den nächsten Jahren folgten viele weitere Bilder: Matilda auf Mallorca beim Minigolfspielen, ich auf Mallorca, wo mich ein rothaariger Isländer und ein dicker Finne im Pool hin und her warfen, Weihnachtsbilder, Ferienhaus-Trinkbilder, Heiße-Quelle-Trinkbilder, Reykjavík-Trinkbilder, Hamburg-Trinkbilder. Doch die Unbefangenheit der ersten beiden Fotos, dieser kindlich verwackelten Studien über das Verhältnis von Betrachter und betrachtetem Objekt, wurde nie wieder erreicht.

      Die Bilder, die uns gemeinsam zeigten, waren am schlimmsten. Einer von uns hatte immer den Mund aufgerissen, die Augen zugekniffen oder sprach gerade ein Ü. Vielleicht lag es daran, dass wir uns irgendwie ähnlich sahen: irgendwie blond, irgendwie mittelgroß, irgendwie blauäugig. Das war mehr Irgendwie als ein einziges Bild verkraften konnte. Aus diesem Grund begannen wir mit zwölf oder dreizehn, alle Bilder, die uns gemeinsam zeigten, zu vernichten. Es war die Zeit, in der uns langsam klar wurde, dass das mit dem Heiraten wohl doch keine so gute Idee war.

      Ein Jahr, nachdem Matilda das Foto von mir gemacht hatte, auf dem ich das Foto von den Männern auf dem toten Wal machte, gingen mein Vater, meine Schwester und ich nach Deutschland. Mein Vater zog einer Deutschen namens Elke hinterher, die er im Sommer im Goethe-Institut von Reykjavík kennen gelernt hatte und die Bibliothekarin in Hamburg war. Damals fehlten in Norddeutschland gerade Tierärzte, und man freute sich geradezu über ihn. So wurde Elke meine zweite Mutter und Tornesch bei Hamburg meine Heimat, in der ich mit neun mein erstes Gewitter erlebte sowie verwundert feststellte, dass es Sandkisten gab, in denen der Sand nicht schwarz war. In der Nähe von Tornesch bei Hamburg kam ich in eine Grundschule aus rotem Backsteinklinker, wo mir eine Praktikantin von der Pädagogischen Hochschule erzählte, dass es bald keine Wale mehr gäbe, wenn Island so weitermachte. Wenig später beobachtete ich diese Praktikantin vor der Eisdiele an der Hamburger Straße mit einer anderen Frau bei dem ersten Zungenkuss, den ich in meinem Leben sah, und kurz danach wurde der Walfang verboten.

      Vor dem Fenster der Wohnung, die mein Vater gekauft hatte, damit wir jederzeit auf Island sein konnten, lagen die Walfangboote Hvalur 6, 7, 8 und 9, die seit dem Verbot den Hafen nicht mehr verlassen hatten. Ihre schwarzen Rümpfe waren in der Dunkelheit kaum vom Wasser zu unterscheiden, und an den Masten hingen Körbe für einen Ausguck wie bei Piratenschiffen. Nun rosteten sie schon seit fast fünfzehn Jahren auf ihren Liegeplätzen vor sich hin, während gegenüber ein Schiff mit Panoramafenstern für Walbeobachtungen an- und ablegte.

      Vor den Walfängern stand der Trawler Tryggvi Jónsson im Trockendock und wurde blau gestrichen. Zwischen den Lagerschuppen und dem Betongebäude, in dem sich das Restaurant Zwei Fische befand, wirkte das Schiff deplaziert, wie von einer Flutwelle abgeworfen. Die Ampel dort, wo die Straße zur Mole auf die Hauptstraße traf, wurde grün, und ich wunderte mich einen Moment lang, warum der Trawler Tryggvi Jónsson nicht losfuhr. Während der letzten Zigarette waren drei Autos vorbeigefahren; es war zu spät für den Abend- und zu früh für den Nachtverkehr. Ich sah, wie ein Cabrio in den grauen Matsch am Straßenrand fuhr und noch einige Meter rutschte, bevor es zum Stehen kam. Matilda stieg so schwungvoll aus, als hätte sie noch den Impuls der beschwingten Autofahrt in sich, und stolperte direkt in meinen Hauseingang.

      »Das ist wieder so eine Lárus-Idee!«, sagte Matilda kurze Zeit später, während sie an der Plastiklasche des Dreiliter-Weißweinzapfkartons aus dem staatlichen Alkoholladen herumzog, bis ein

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