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Glaube und Tun

      Der große Vertrauensverlust der Kirche beeinflusst auch die Frage nach dem Glauben. Denn für viele Menschen hängt die Hinwendung oder Abkehr vom christlichen Glauben eng zusammen mit dem, was die Kirche tut, sagt oder lässt. Ist oder erscheint das Tun und Sagen der Kirche in gewissen Bereichen unglaubwürdig oder doppelbödig, wachsen die Zweifel, ob der Glaubensbotschaft der Kirche zu trauen ist. Jeder Skandal in der Kirche rund um Geld, Sex oder Macht wirft für viele „normale Gläubige“ einen Schatten auf die kirchliche Verkündigung. Wenn sich bestimmte Gruppen von Menschen von der Kirche zurückgesetzt und ungerecht behandelt oder von Wortmeldungen von kirchlichen Vertretern oder von „Rom“ gar beleidigt fühlen, dann stellt sich für viele die Frage, wie das mit dem hoffnungsfrohen, barmherzigen und wahrhaft inklusiven Evangelium zusammenzubringen ist. Hier entstehen Risse und Wunden, die nicht so leicht zu kitten und zu heilen sind.

      Der aktuelle Zustand der Kirche schadet demnach auch der christlichen Botschaft. Das tut mir sehr weh. Denn ich halte das Evangelium und insbesondere die Person und das Lebensschicksal von Jesus Christus für absolut überzeugend und vertrauenswürdig. Dieser Jesus ist wie ein Licht und aus meiner Sicht ist es die Aufgabe der Kirche, diesem Licht zum Strahlen zu verhelfen. Ganz im Sinne der ermutigenden Worte aus der Bergpredigt: „Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben […]. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Matthäus 5,14ff).

      Mit diesen Worten benennt Jesus ganz klar: Erfahren die Menschen bei den Christen und der Kirche etwas vom göttlichen Licht und erkennen deren gute Taten, dann wird auch ein Weg zu Gott und zum Lobpreis Gottes geöffnet. Daher ist es so schmerzhaft, wenn viele Menschen – oft zu Recht – den Eindruck haben, dass die Kirche das Licht Christi eher hinter kalten Paragrafen und „gnadenlosen“ Kategorisierungen und Entscheidungen dimmt oder nahezu auslöscht. Dabei will die Kirche doch auch laut eigenem Bekunden einen gnädigen und liebenden Gott verkünden. Nur leider wirkt sie oft wie die Verkünderin eines großen Neins statt eines bedingungslosen Jas.

       Das persönliche Wagnis

      Für mich ergeben sich daraus zwei Folgerungen: Zum einen geht es darum, die Spannung und die Unterschiede zwischen „der“ Kirche und dem persönlichen Glauben auszuhalten und einen gewissen Spagat zu wagen. Ich weiß, es gibt keine hundertprozentige Deckungsgleichheit zwischen meiner Vorstellung vom Evangelium, meinen Glaubensidealen und der real existierenden Kirche und übrigens auch meines konkreten Versuchs, den Glauben zu leben und Kirche zu gestalten. Ich plädiere daher dafür, nicht nur zu dekonstruieren und nur das Schlechte zu sehen, sondern auch positiv Kirche zu konstruieren, mitzuprägen und trotz allem Leiden an der Kirche und aller Abgründe die Verbindung zu halten und vielleicht sogar die Kirche neu schätzen und lieben zu lernen.

      Zum christlichen Glauben gehört immer auch die Gemeinschaft, die Vernetzung von Vergangenheit und Zukunft, das größere Ganze. Ohne tragende Glaubensgemeinschaft, also ohne Kirche, ist eine beständige christliche Existenz für mich kaum oder gar nicht denkbar. Daher habe ich die Kirche noch nicht aufgegeben und möchte vor allem in Kapitel 9 zeigen, wie man in der Kirche Gott „livehaftig“ erfahren kann. Ich bin überzeugt, jeder und jede kann einen Platz in der Kirche finden.

      Zum anderen scheint es aber zugleich Gebot der Stunde zu sein, der ganz persönlichen, individuellen Ebene des Glaubens große Aufmerksamkeit zu schenken – weg von den Negativmeldungen über Kirche und ihre Vertreter und weg von bloßen allgemeingesellschaftlichen Trends.

      Der Glaube richtet sich zunächst an das Du, an das konkrete und persönliche Du. Und damit sind wir wieder bei der Frage vom Anfang des Kapitels: Woran glaubst du?

      Glaube ist eine Sache zwischen dir und Gott. Und zwar eine Sache des Vertrauens. Kannst du dich von Jesus, von seinem Evangelium, vom Licht des Glaubens angesprochen fühlen? Lösen die Worte Jesu, die Hoffnung des Glaubens eine Resonanz in dir aus? Dazu möchte ich in den folgenden Kapiteln meine zentralen Gedanken mitteilen und aufzeigen, inwiefern Glaube bedeutet, das Wagnis Vertrauen einzugehen.

      2. Glaube bedeutet Vertrauen

      Nicht nur die Kirche und viele christliche Gemeinschaften haben ein Glaubwürdigkeitsproblem und leiden unter Vertrauensverlust. Auch bei anderen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen gerät etwas ins Wanken. Werden sie durch Skandale erschüttert, gelten sie daraufhin als wenig vertrauenswürdig. Das betrifft politische Parteien genauso wie Interessensverbände, Automobilkonzerne, Sportvereine, und zwar nicht nur den DFB, bis hin zu kleinen Ortsgruppen. Denkt man daran, kommen einem eigene Bilder aus der Vergangenheit und entsprechende Skandale in den Kopf. Doch die damit schnell verbundene Einsicht „auch andere haben viel Dreck am Stecken“ macht selbstverständlich das Tun und Lassen der Kirche nicht besser. Der Blick auf „die anderen“ ist mir an dieser Stelle nur wichtig für die Gesamteinordnung, um zu verdeutlichen, wie ausschlaggebend Glaubwürdigkeit und wie fatal ein Vertrauensverlust für eine Gemeinschaft oder Gruppe sind.

      In unserem Alltag wissen wir aus eigener Erfahrung: Werte wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Verantwortung und Treue können in unseren Beziehungen enttäuscht werden. Wir erleben Beziehungen, Cliquen, Partnerschaften und Ehen als zerbrechlich. Für Liebe und Freundschaft gilt so gesehen auch das treffende Bild, das der Apostel Paulus in der Bibel für den Glauben benutzt. Nämlich dass wir diesen Schatz in „zerbrechlichen Gefäßen“ tragen (vgl. 2. Korinther 4,7). Es handelt sich um fragile und daher um besonders schützenswerte Güter. Wohl gerade deshalb ist da bei vielen, insbesondere bei jungen Menschen, eine große Sehnsucht nach Klarheit, verlässlichen Haltungen und Werten. In Umfragen werden regelmäßig Familie und Freunde als die beiden wichtigsten Werte für das Leben angegeben.

      Nach Ansicht einiger Zukunftsforscher ist die Familie sogar die neue Glaubensgemeinschaft der Deutschen: Die Menschen könnten einfach nicht anders, als im Leben an etwas Unangreifbares zu glauben, um den Halt und Sinn des Lebens nicht zu verlieren; daher „glaubten“ sie vor allem an die Familie, weil sie ohne das Gefühl der Geborgenheit nicht leben könnten.5 Gerade in der letzten Zeit, insbesondere verstärkt nach den Erfahrungen in der Coronapandemie, werden vor allem von Psychologen und Soziologen gute Freunde und tragende Freundschaften als noch zentraler als die Familie angesehen. Und wissenschaftliche Studien zeigten immer wieder, dass sich Beziehungen positiv auf Körper und Seele auswirken würden. Wer von guten Freunden umgeben sei, habe sogar eine höhere Lebenserwartung.6 Der Psychologe und „Freundschaftsforscher“ Wolfgang Krüger stellt dazu fest: „Herzensfreundschaften dauern länger als viele Ehen.“ Und weiter: „Wir brauchen Freundschaften quasi als den Ort einer großen Verlässlichkeit im Leben.“7 Das alte Lied der Comedian Harmonists „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt“ hat demnach nichts von seiner Gültigkeit verloren.8

      Glauben heißt, sich auf etwas zunächst Unbekanntes einzulassen

       Ein Zeitalter des Vertrauens?

      Die Bedeutung und Wertschätzung von Freundschaft und Familie lassen sich wohl auch einordnen in eine aktuelle Großwetterlage, in der in vielen Kontexten der Slogan vertreten wird: „Wir brauchen wieder mehr Werte.“ Man spricht von den „Werten Europas“ oder einer „Werte-Gemeinschaft“. Einiges deutet darauf hin, dass dieser Trend – man erfährt vielfältigen Vertrauensverlust und sehnt sich gleichzeitig nach Halt, Werten und Stabilität – sich durch die Coronapandemie weiter verstärkt. Die Krise hat vieles, was schon unterschwellig da war, sichtbarer gemacht und wie unter einer Lupe vergrößert. Vielleicht hast du in den Monaten des Lockdowns auch innegehalten sowie klarer gesehen und stärker gespürt, was du wirklich brauchst und im Leben vermisst. So ein Blick richtet sich schnell auf zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliche Phänomene: Auf wen konnte ich mich in der Krise verlassen? Wer oder was gibt mir Hoffnung? Wie möchte ich zukünftig mein Leben gestalten?

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