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Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
Читать онлайн.Название Verfassungsprozessrecht
Год выпуска 0
isbn 9783811492806
Автор произведения Christian Hillgruber
Жанр Языкознание
Серия Schwerpunkte Pflichtfach
Издательство Bookwire
VI. Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzgeber
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Bei dem Spannungsverhältnis zwischen BVerfG und Gesetzgeber geht es um die Gegenläufigkeit von politischer Rechtsetzungsmacht einerseits und der verfassungsgerichtlichen Befugnis andererseits, in Normenkontrollverfahren Gesetze des Parlaments außer Kraft zu setzen, sofern und soweit diese dem GG widersprechen. Ein solches richterliches Prüfungs- und Verwerfungsrecht am Maßstab der Verfassung verändert die Gewaltenbalance zum Nachteil der gesetzgebenden Körperschaften; ihre Rolle im Prozess der Verfassungskonkretisierung reduziert sich auf die eines „gestaltende[n] Erstinterpret[en]“[42] und Erstanwenders der Verfassung (vgl BVerfGE 101, 158, 236). Zwar folgt schon aus dem Vorrang der Verfassung gewissermaßen spiegelbildlich der Nachrang des Gesetzes; aber erst das Letztentscheidungsrecht des BVerfG auch hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit vom Parlament erlassener Gesetze führt dazu, dass das Parlament nur noch das Recht des ersten interpretativen Zugriffs auf die Verfassung hat, in der „Vorhand“ ist, aber sich der maßgeblichen Letztinterpretation der Verfassung durch das kontrollierende BVerfG ausgesetzt und unterworfen sieht. Nicht nur der Gesetzgeber, der sich in unzulässiger Weise seiner verfassungsrechtlichen Bindungen entledigen will, sondern auch der redliche, die offenen und daher häufig mehrdeutigen Verfassungsbestimmungen lege artis auslegende Gesetzgeber sieht seine Verfassungsinterpretation durch das letzte Wort, das dem BVerfG gehört, überspielt („overruling“). Dieses Ergebnis tritt häufig ein, weil das BVerfG die verfassungsinterpretierende und -konkretisierende Staatspraxis anderer Staatsorgane bei der Auslegung der diese verpflichtenden Verfassungsbestimmungen nur äußerst selten berücksichtigt oder gar als für die Auslegungsfrage präjudiziell beachtet (vgl ausnahmsweise BVerfGE 62, 1, 1 f (LS 4), 38 f zu Art. 68 GG – Bundestagsauflösung 1983)[43].
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Das BVerfG garantiert den Vorrang der Verfassung (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) auch vor dem Willen der demokratischen Mehrheit. Diese verfassungsgerichtliche Kontrolle schränkt die demokratisch legitimierte Entscheidungsmacht des Gesetzgebers effektiv ein. Auch und gerade gegenüber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber kommt dem BVerfG das entscheidende letzte Wort in Verfassungsfragen zu[44]. Dabei ist das BVerfG zwar an die Verfassung als seinen Prüfungsmaßstab gebunden, aber die Auslegung dieses Maßstabes liegt in seiner eigenen Hand. Nichts anderes meint der berühmte Ausspruch des amerikanischen Chief Justice Charles E. Hughes aus dem Jahre 1907: „We are under a constitution, but the constitution is what the judges say it is“[45].
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Der politische Handlungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers kann durch engmaschige verfassungsgerichtliche Vorgaben in Konkretisierung der vagen verfassungsrechtlichen Vorgaben empfindlich beschnitten werden[46]. Gegen die verbindliche Verfassungsinterpretation des BVerfG kann sich die demokratische Mehrheit jedoch nicht durch Rechtsverwahrung wehren[47]. Ihr kann nur der verfassungsändernde Gesetzgeber mit qualifizierter Mehrheit (Art. 79 Abs. 2 GG) wirksam entgegentreten. In dieser Konstellation droht die demokratische Mehrheit entmachtet zu werden. Daher erhebt sich die Frage, wie der verfassungsrechtlich gebundene demokratische Souverän wieder in sein Recht gesetzt und wie verhindert werden kann, dass die demokratische Willensbildung des Volkes ihre entscheidende Bedeutung verliert. Gesetzgeberische Gestaltung darf nicht zum bloßen Verfassungsvollzug nach Maßgabe diesbezüglicher Anweisungen durch das BVerfG degradiert werden. Im Kern geht es also um die Frage nach den Grenzen der Grenzen der Demokratie.
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Es besteht die Gefahr einer schleichenden, durch extensive Verfassungsinterpretation bewirkten „Veränderung des vom Grundgesetz festgelegten gewaltenteiligen Verhältnisses zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht“, die Gefahr eines Einbruchs des BVerfG in den originären Kompetenzbereich des Gesetzgebers (vgl BVerfGE 93, 121, 151 f – SV Böckenförde; siehe auch BVerfGE 135, 1, 29, 32 – SV Masing: „Zu entscheiden, was Recht sein soll, ist im demokratischen Rechtsstaat grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, der hierfür gewählt wird und sich in einem politischen Prozess vor der Öffentlichkeit verantworten muss.“
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Wie kann die Gefahr gebannt werden? Wo liegt die Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit? Umfang und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit werden durch den dem BVerfG durch das Grundgesetz und auf dessen Grundlage erteilten Kontrollauftrag bestimmt. Seine Funktionsgrenze wird durch seine auf die Verfassung als Prüfungsmaßstab begrenzte Kompetenz gezogen: „Denn richterliche Entscheidungen sind als Entscheidungen durch Amtsträger, die der Bürger durch die Ausübung seines Wahlrechts weder unmittelbar noch mittelbar zur Verantwortung ziehen kann, vor dem Demokratie- und dem Gewaltenteilungsprinzip nur als Entscheidungen nach rechtlichen Regeln gerechtfertigt“ (Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 134, 366, 419, 421).
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Das BVerfG wahrt also den eigenständigen Funktionsbereich der anderen Verfassungsorgane, wenn es sich – entsprechend seinem Kontrollauftrag – darauf beschränkt nachzuprüfen, ob sich die zu kontrollierenden Staatsgewalten, auch der Gesetzgeber, innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen gehalten haben, die das GG als verfassungsrechtliche Rahmenordnung der ihnen im Übrigen zukommenden Gestaltungsfreiheit gezogen hat. „Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das BVerfG ihrer Verletzung entgegentreten“ (BVerfGE 62, 1, 51). Die Kognitionskompetenz des BVerfG ist wie alles richterliche Entscheiden auf „determinationskräftige rechtliche Maßstäbe“ angewiesen (Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 134, 366, 419, 421). Im Ergebnis sind damit genuin politische Fragen von der verfassungsgerichtlichen Befassung ausgenommen, wie dies die vom BVerfG nicht übernommene political-question-Doktrin postuliert.
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Soweit verfassungsrechtliche Maßstäbe existent sind, kann das BVerfG sich dieser ihm aufgetragenen Kontrollfunktion aber auch nicht entziehen. Kompetenzen sind zugleich Wahrnehmungspflichten. Die Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt genau dort, wo es an (Verfassungs-)Rechtsnormen fehlt[48]. Es besteht also ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen der Funktion und Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit und dem ihr zugewiesenen Prüfungsmaßstab des materiellen Verfassungsrechts: Das BVerfG hält sich im Rahmen der ihm von der Verfassung aufgetragenen Funktion immer dann, wenn es nicht selbst Politik betreibt, sondern die ihm zugewiesenen Kontrollaufgabe ausschließlich am Maßstab der Verfassung vornimmt, also seiner Funktion als Gericht gerecht wird.
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Aus der Maßgeblichkeit der Verfassung als Prüfungsmaßstab des BVerfG folgt, dass nicht das Gericht, sondern – gegebenenfalls – die Verfassung selbst entweder zurückhaltend oder fordernd ist. Nicht das BVerfG erkennt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu oder an, sondern das GG selbst[49]. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist mit anderen Worten das, was nach Abzug der verfassungsrechtlichen Bindungen, die das BVerfG erkennt, an verfassungsrechtlicher Ungebundenheit übrig bleibt. Das Problem verlagert sich damit (wieder) auf die dem BVerfG aufgegebene Auslegung des Grundgesetzes; sie kann zurückhaltend(er) ausfallen oder extensiv(er) betrieben werden. Je nach dem verbleibt dem Gesetzgeber mehr oder weniger freier Gestaltungsspielraum, dem Gesetz mehr oder weniger Selbstand gegenüber der Verfassung.
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Dagegen führt die in der Literatur propagierte Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnormen im Bereich der Verfassung in die Irre. Handlungs- und Kontrollnorm sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das, was aus der Sicht des in Pflicht genommenen