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Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
Читать онлайн.Название Verfassungsprozessrecht
Год выпуска 0
isbn 9783811492806
Автор произведения Christian Hillgruber
Жанр Языкознание
Серия Schwerpunkte Pflichtfach
Издательство Bookwire
14
Dass letztlich nur das BVerfG, genauer: der Senat, der entschieden hat, wissen kann, welches die tragenden Gründe seiner Entscheidung gewesen sind, steht auf einem anderen Blatt[16]. Nur das BVerfG selbst kann sein eigener authentischer Interpret sein. Die tragenden Entscheidungsgründen gehören daher zu den arcana imperii; ihre alleinige Kenntnis bildet das Herrschaftswissen des BVerfG, mittels dessen es seine Verfahrensherrschaft (s. dazu Rn 21 ff) ausübt.
15
Im Ergebnis bedeutet § 31 Abs. 1 BVerfGG, dass die Auslegung, die das BVerfG im Rahmen seiner Entscheidungen dem GG gibt, nicht nur in dem Sinne praktisch wirksam ist, dass sich alle staatlichen Organe, wollen sie nicht Gefahr laufen, in Karlsruhe „aufzulaufen“, in ihrem Verhalten darauf einstellen werden, sofern nicht ausnahmsweise ersichtlich ist, dass sich das BVerfG, das selbst keiner Bindung an seine Rechtsprechung unterliegt (BVerfGE 4, 1, 38 f; 85, 117, 121 f), von dieser Auslegung in der ihm eigenen Souveränität wieder lösen könnte. Vielmehr ist diese Auslegung auch rechtsverbindlich, so dass von ihr nicht in zulässiger Weise abgewichen werden darf; etwas anderes gilt lediglich für den Gesetzgeber, der keinem Normwiederholungsverbot unterliegt (vgl BVerfGE 77, 84, 103 f; 96, 260, 263; 135, 259, 281; aA allerdings der Zweite Senat, vgl BVerfGE 1, 14, 15 (LS 5); 69, 112, 115) und damit den Anstoß für eine – im Falle einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle mögliche – Überprüfung dieser Auslegung durch das BVerfG selbst geben kann[17].
16
Die Verbindlichkeit der Verfassungsauslegung durch das BVerfG macht dieses Gericht nicht zum authentischen Interpreten der Verfassung, wodurch es Anteil an der Verfassungsgesetzgebung hätte; da ihm die Verfassung als Maßstab vorgegeben ist, kann es nicht zugleich selbst über sie verfügen. Wohl aber liegt bei ihm die Kompetenz zur autoritativen, letztverbindlichen Auslegung des Grundgesetzes, was ihm die im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Interpretationsherrschaft verschafft.
17
Das BVerfG besitzt kein Interpretationsmonopol hinsichtlich der Verfassung, aber in Sachen Auslegung der Verfassung das maßgebliche letzte Wort. Die anderen Verfassungsorgane sind dagegen lediglich zur Erst- oder Zweitinterpretation der ihr Handeln verfassungsrechtlich determinierenden Grundgesetzbestimmungen berufen. Der vom BVerfG (BVerfGE 106, 310 ff) abschließend entschiedene Streit um das wirksame Zustandekommen des so genannten Zuwanderungsgesetzes macht dies deutlich. Die Interpretation der hier maßgeblichen Vorschrift des Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG lag zunächst in der Hand des Bundesrates, genauer: in der Hand des die Verhandlungsleitung innehabenden und die vom Bundesrat gefassten Beschlüsse feststellenden Präsidenten des Bundesrates, sodann – in Zweitinterpretation – beim Bundespräsidenten, der vor Entscheidung über die Ausfertigung des Gesetzes dessen ordnungsgemäßes Zustandekommen gemäß Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG prüfen musste. Das entscheidende letzte Wort gebührte dann dem in einem abstrakten Normenkontrollverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG angerufenen BVerfG.
18
Durch das Letztentscheidungsrecht des BVerfG wird die Erst- und Zweitinterpretation durch sonstige Verfassungsorgane jedoch nicht etwa bedeutungslos. Das gilt zum einen deshalb, weil zum Zeitpunkt der mit ihrer Interpretation zeitlich zusammenfallenden Anwendung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen noch gar nicht feststeht, ob das BVerfG in zulässiger Weise angerufen werden wird, so dass es seine Letztentscheidungsbefugnis ausüben kann. Zum anderen hat die vorgängige Erst-, auf jeden Fall aber die Zweitinterpretation des Grundgesetzes durch den zur Ausfertigung von Bundesgesetzen berufenen Bundespräsidenten im Fall der Anrufung des BVerfG unter Umständen eine entscheidende Bedeutung, nämlich dann, wenn bei der Entscheidungsfindung des BVerfG im zuständigen Senat Stimmengleichheit auftreten sollte[18]. Dann kann ein Verstoß gegen das GG, der mit dem Antrag geltend gemacht wird, nicht festgestellt werden (§ 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG)[19]. Es unterliegt also in diesem Fall der Antragsteller; es obsiegt der Antragsgegner. Es kann daher letztlich entscheidend sein, welche Seite aufgrund der zunächst maßgeblichen Erst- bzw Zweitinterpretation der Verfassung in die „Angreiferrolle“ gezwungen wird und welche Seite die bequemere „Verteidigungsposition“ einnimmt. Schon deshalb dürfen Bundespräsidenten sich bei Ausübung ihres formellen und – wenn auch auf Evidenzfälle begrenzten – materiellen Prüfungsrechts nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG nicht einfach damit begnügen, „den Weg nach Karlsruhe frei zu machen“. Der Weg nach Karlsruhe steht immer offen. Fraglich ist nur, wer ihn beschreiten und damit das Risiko des Unterliegens, insbesondere einer für ihn nachteiligen Vier-zu-Vier-Entscheidung tragen muss.
19
Die Kompetenz des BVerfG, vom Parlament erlassene Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren und bei Feststellung der Unvereinbarkeit für nichtig zu erklären, begründet eine außerordentliche Rechtsmacht in der Hand des Verfassungsgerichts, die das politische Koordinatensystem entscheidend verändert: Es kommt zum Übergang des parlamentarischen Gesetzgebungs- zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat[20]. Wer dagegen vorbringt, Verfassungsgerichtsbarkeit füge doch der materiellrechtlichen Bindung an die Verfassung, dh dem Vorrang der Verfassung, der sich auch der Gesetzgeber beugen müsse (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) nichts hinzu, übersieht geflissentlich die Interpretationsfähigkeit und -bedürftigkeit der Verfassung und die durch die Befugnis zur letztverbindlichen Interpretation der Verfassung begründete Interpretationsherrschaft des BVerfG[21]. Anders formuliert – in Anlehnung an Carl Schmitts berühmtes Diktum: „Souverän ist, wer über die Verfassungsinterpretation gebietet“[22].
20
Denkt man sich das „(Verfassungs-)Haus ohne Hüter“, also die Institution des BVerfG, wie sie das GG verfasst hat, einmal hypothetisch weg, dann unterläge zwar die Verwaltung wegen der Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG einer gerichtsförmigen Kontrolle am Maßstab auch der Verfassung, und auch die anderen Fachgerichte könnten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aufgrund ihrer unmittelbaren Bindung an die Grundrechte und die Verfassung im Ganzen (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) deren Unverbrüchlichkeit verbürgen. Der parlamentarische Gesetzgeber wäre aber keiner prinzipalen Kontrolle unterworfen, und Gesetze könnten, sofern sie nicht in Individualrechte eingreifen und dagegen fachgerichtlicher Individualrechtsschutz mobilisiert werden kann, nicht auf ihre objektive Übereinstimmung mit der Verfassung überprüft werden. Daher liegt in der Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, welche die umfassende Zuständigkeit für eine abstrakte und konkrete, prinzipale und inzidente, unmittelbare und mittelbare Kontrolle von formellem Gesetzesrecht besitzt, eine partielle Entmachtung des Gesetzgebers. Nur der verfassungsändernde Gesetzgeber kann – als authentischer Interpret der Verfassung