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zeigen, dass die textuellen Prinzipien der Kohäsion und Kohärenz (vgl. Averintseva-Klisch 2013) durchaus beachtet werden. Grobe Verstöße würden die Texte unverständlich machen. Dennoch wird deutlich, dass es in (6), (7) und (8) Herausforderungen beim Textverstehen gibt, die bei einem gewöhnlichen Textanfang wie in (5) nicht bestehen. Die entsprechende Bildinformation unterstützt sicherlich die Gewinnung einer Interpretation, die für den weiteren Lesevorgang nützlich ist: Bei (5) das Bild eines Floßes und eines nackten Mannes, bei (6) das Bild des Teddybären Ottos, bei (7) das Bild des Schweinehunds, der auf Florentines Schulter hockt, und in (8) das Bild von Anna, die schaukelt, während ihr Papa auf sie wartet. Dennoch sind die Texte auch ohne diese Bildinformationen verständlich, wenn ihre Markiertheit im Vergleich zu einem „normalen“ Textanfang erkannt wird. Zusätzlich spielt die Gliederung der Sehfläche, d.h. die Anordnung des Texts auf einer Seite oder Doppelseite, die Kombination verschiedener Schriften sowie die Gliederung eines Textes durch Abschnitte eine Rolle und kann bei der Gesamtinterpretation herangezogen werden.

      Ein letztes Beispiel zeigt, dass es Textanfänge gibt, bei denen die Information über Figuren, Raum und Zeit unklar oder vage ist (Fettdruck im Original):

(9) There are woolvs in the sitee. Oh, yes! In the streets, in the parks, in the allees. In shops, in rustee playgrownds. In howses rite next dor.
And soon they will kum. They will kum for me and for yoo And for yor bruthers and sisters, Yor muthers and fathers, yor arnts and unkils, Yor grandfathers and grandmuthers.
No won is spared.
(Margaret Wild und Anne Spudvilas, Woolvs in the Sitee, 2006)

      In diesem Text wird behauptet, dass es Wölfe in der Stadt gibt und dass sie bald den Sprecher (me), den oder die Angesprochenen (yoo) und deren ganze Familie (bruthers, sisters, muthers, fathers, arnts, unkils, grandfathers, grandmuthers) angreifen werden. Wer genau spricht, ist nicht klar. Doch die auffällige falsche Schreibweise, die klar markiert ist relativ zur orthografischen Norm, mag einen ersten interpretatorischen Hinweis geben und zu mehreren Mutmaßungen Anlass geben: Der Sprecher oder die Sprecherin (tatsächlich ist es ein Junge) könnte schlecht in der Schule sein, oder die falsche Schreibweise ist ein Hinweis auf einen ängstlichen Geisteszustand, oder es handelt sich um einen bestimmten Slang, usw. Die begleitende Illustration gibt keine expliziten Informationen zu der sprechenden Figur preis. Das Bild zeigt den Ausblick (vermutlich aus einem Fenster) auf eine düstere Stadtszenerie mit Dächern, einem Strommast, von dem Kabel herunterhängen, und einer Straßenlaterne. Das dämmrige Licht und die dominierenden Grau- und Schwarztöne bestärken den Eindruck einer bedrohlichen Atmosphäre.

      Wir haben am Beispiel von Textanfängen von Bilderbüchern gezeigt, dass die Annahme von markierten vs. unmarkierten Texten sinnvoll ist. Unsere Hypothese ist, dass zur Erschließung der Bedeutung markierter Texte unter anderem die Maxime der Art und Weise oder das M-Prinzip herangezogen werden muss. Markierte Texte fordern die Aufmerksamkeit der Leserin heraus, weil diese besondere Stilmerkmale aufweisen. Wenn also ein Text gegen die Maxime der Art und Weise verstößt, etwa indem er ambig ist, die erwartbare Reihenfolge von Informationen nicht beachtet oder zur Weitschweifigkeit oder Aufzählung neigt, dann stellt sich alsbald die Frage, warum diese stilistischen Mittel gewählt worden sind und welche Bedeutung sie für die nachfolgende Narration haben.

      3.2 Markiertheit auf der Bildebene

      Die Maxime der Art und Weise und das M-Prinzip beziehen sich auf den Sprachgebrauch. Im Rahmen der Bilderbuchanalyse ist es möglich, diese Prinzipien auch auf Bilder zu beziehen. Die fundamentale Annahme ist, dass es Erwartungen in Bezug auf „normale“ Bilder gibt, gegen die in der Bildkunst mit Absicht verstoßen wird, so dass neuartige Bildinterpretationen gewonnen werden können. Eine Adaption des M-Prinzips für Bilder könnte so aussehen wie in (10):

(10) M-Principle (adapted for pictures)
Author’s maxim: Indicate an abnormal, nonstereotypical situation by using marked pictures that contrast with those you would use to represent the corresponding normal, stereotypical situation.
Recipient’s corollary: What is represented in an abnormal way indicates an abnormal situation, or marked pictures indicate marked situations (…).

      Was kann man unter einem (für Kinder) „markierten“ Bild verstehen? Betrachtet man die Bilder von Äpfeln oder Bällen, die man in Frühe-Konzepte-Büchern findet (vgl. Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2005), die sich an etwa 12 Monate alte Kinder richten, so stellt man eine erhebliche Variation fest: Es gibt Bilder in Schwarzweiß und in Farbe, es gibt Zeichnungen und Fotografien, die Abbildungen folgen dem Prinzip des Realismus, jedoch gibt es auch Bilder mit einem hohen Abstraktionsgrad. Dennoch, so kann man vermuten, wird es unter diesen Bildern Abbildungen geben, die einen prototypischen Charakter haben. Sie erleichtern optimal die Erkennung des Dargestellten und passen zu den Bildkenntnissen bzw. der Visual Literacy der Kinder. Markiert dürften dagegen (zumindest für heutige Kinder) die Schwarzweiß-Fotografien von Edward Steichen in The First Picture Book (1930) wirken. Diese Fotografien folgen den Prinzipien der Neuen Sachlichkeit und heben die Alltagsgegenstände durch die Perspektivwahl, das Arrangement im Raum und die Lichtregie bewusst hervor, so dass ihnen eine gewisse ‚Aura‘ verliehen wird. Auch die abstrakten Bilder von Dick Bruna in Erste Bilder (1987) dürften als „markiert“ wahrgenommen werden. Hierbei sind die jeweiligen Gegenstände in einer Weise abstrahiert, dass nur noch wesentliche Merkmale wie ihre Form bzw. Umriss wiedergegeben werden, bis hin dazu, dass eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Objekt nicht immer möglich ist.

      In Bezug auf herausfordernde Bilderbücher möchten wir hier nur erstens die Collage und zweitens ungewöhnliche graphische Markierungen nennen.1 Verfahren der Collage, z. B. die Kombination von Zeichnung und Fotografie, finden wir in vielen herausfordernden Bilderbüchern, so etwa in den bereits genannten Bilderbüchern von Stian Hole und Karoline Kehr, aber auch in Neil Gaimans Die Wölfe in den Wänden (2005), mit Illustrationen von Dave McKean, oder Shaun Tans Die Fundsache (2009). Nach Elina Druker (2018: 49) ist die Collage „the process of assembling fragments of different materials to create a composite image“. So verwendet Stian Hole Fotografien und Zeichnungen, die mithilfe von Photoshop zusammengefügt werden, um hyperrealistische Effekte zu erzielen. Shaun Tan collagiert Zeichnungen mit Ausschnitten aus technischer Literatur und Textinserts, so dass eine technisch-nostalgische Welt assoziiert werden kann. Dave McKean kombiniert Zeichnungen, Fotoausschnitte und übereinander geklebte Teile aus Buntpapier, um darzustellen, dass die Welt der im Fokus stehenden Familie aus den Fugen gerät. Karoline Kehr baut dreidimensionale Modelle, die fotografiert werden, so dass die Fotografie mit kolorierten Zeichnungen von Figuren oder Gegenständen bemalt und eventuell am Computer bearbeitet werden kann. Aus Platzgründen können wir nicht auf die vielfältigen und komplexen Verfahren der Collagenerstellung eingehen. Hier genügt die Einsicht, dass auf diese Weise markierte Bilder entstehen.

      Ungewöhnliche graphische Markierungen tragen ebenfalls zur Markierung von Bildern bei. Hiawyn Orams Angry Arthur (1984), mit Illustrationen von Satoshi Kitamura, ist hierfür ein gelungenes Beispiel. Das Bilderbuch thematisiert die Wut eines kleinen Jungen, der sich darüber ärgert, dass er abends nicht mehr fernsehen darf. In diesem Buch findet man Bilder, die von Zickzacklinien durchzogen sind. Diese stehen in einem Gegensatz zu den vorherigen Bildern ohne Zickzacklinien, die Arthur in einem normalen emotionalen Zustand zeigen. Markiert sind diese Zickzacklinien auch dadurch, dass sie in einem realistischen Setting, nämlich einem Kinderzimmer, verankert sind. Da sie nicht Bestandteil einer realistisch-fiktionalen

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