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ihr und betrachtete sie. »Schau mal, wäre sie nicht krank geworden, hätte sie den Applaus bekommen und nicht du. Vergiss nicht, wie lange wir darauf hingearbeitet haben! Jetzt kann keiner mehr sagen, Jessica Wagner wäre nur schmückendes Beiwerk. Das war deine Chance, und du hast sie genutzt!«

      »Ich kann mich nicht richtig freuen, solange es Katha schlecht geht und mir die anderen den Erfolg nicht gönnen.«

      Er runzelte die Stirn. »Von wem sprichst du?«

      »Das weißt du genau.«

      »Sag es mir.«

      Sie zögerte einen Moment. »Alle. Jürgen und Clarissa. Und natürlich Katharina und Max.«

      Er winkte ab. »Du machst dich verrückt. Katharina hat ihre Chance gehabt, aber ihre besten Zeiten sind vorbei. Ihre Stimme trägt nicht mehr, sie sieht nicht mehr ganz so gut aus wie früher. Sie muss damit fertigwerden, dass jetzt für sie der Hammer fällt. Ich schicke sie in Rente. Jeder Mensch ist ersetzbar, das ist leider Fakt. Irgendwann ist Schluss. Das ist das Business, das läuft überall so. Man muss anpassungsfähig bleiben, sonst laufen einem auf Dauer die Fans weg. Und neue kommen nicht hinzu, weil unsere Band langsam überaltert. Manchmal muss man einfach Entscheidungen treffen, auch wenn sie im ersten Moment nicht schmecken.«

      »Und irgendwann bin ich dann weg vom Fenster«, sagte Jessica nachdenklich.

      »Quatsch, irgendwann ist nicht heute. Heute bist du gut. Sogar saugut, um es auf den Punkt zu bringen. Und jetzt wird gefeiert!« Er nahm ihren Arm, um sie mitzuziehen.

      Sie stemmte sich dagegen. »Nein, Carsten, sei mir bitte nicht böse, aber ich komme nicht mit.«

      Er konnte seine Unzufriedenheit nicht verbergen. »Was soll das heißen, du kommst nicht mit?«

      »Mir ist nicht danach.«

      Zwischen seinen Augen bildete sich eine Furche. »Willst du mich strafen, weil ich mit dir Schluss gemacht hab? Ist es das?«

      Sie errötete. »Nein, ist schon okay. Das ist es nicht.«

      Er sah sie eindringlich an und redete ruhig auf sie ein. »Du musst dich entscheiden, zu wem du gehören willst, Jessica, zu den Gewinnern oder zu den Verlierern. Gewinner glauben an sich, während Verlierer nur auf andere schauen und aus Angst, ihnen nicht das Wasser reichen zu können, den Kopf in den Sand stecken. Willst du das? Aufgeben? Ist es das, was du willst? Zeig ihnen, dass du dazu gehörst und sie ab heute mit dir rechnen müssen!«

      Plötzlich verdüsterte sich ihre Miene. »Sie war da, oder? Ich meine, ich hätte sie im Publikum gesehen, rechts vor der Bühne.«

      Er steckte die Hände in die Jeanstaschen und stieß die Luft aus. »Ja, du hast recht. Sie war da.«

      »Hast du ihren Gesichtsausdruck gesehen?«

      Er seufzte. »Jessi, hör mir zu, wisch das alles beiseite. Ich mache mir manchmal Sorgen um dich, weil du so sensibel bist und leicht Stimmungen von anderen aufnimmst. Das ist nicht gut. Lass dich nicht runterziehen, hm? Vor allem nicht von ihr. Sie muss allein damit fertigwerden. Es ist ihre Sache. Sie ist erwachsen und schafft das. Erfolg kann man nicht im Laden kaufen, nach dem Motto: ›Hey, gib mir mal eine Portion Erfolg für drei Euro!‹ Nee, so läuft das nicht. Vor allem nicht in diesem Business.«

      »Ich weiß, aber es ist ein verdammt blödes Gefühl.«

      »Denk dran, was ich dir gesagt habe. Denk positiv. Denk nur an dich. Jessi first. Sonst geht die Rolltreppe wieder abwärts, und das willst du doch nicht. Ich will dich oben sehen, Jessi, ganz oben, da gehörst du hin!«

      Sie sah an ihm vorbei. »Ich glaube, ich kann das nicht, Carsten. Ich habe Angst.«

      »Oh doch, das kannst du. Das musst du sogar. Ich verlange es von dir, schließlich hab ich eine Menge Kohle in dich gesteckt. Ich habe viel in dich investiert, vergiss das nicht, nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Herzblut. Ich will, dass sich das auszahlt! Du lässt mich nicht im Stich, Jessi. Du ziehst das durch. Und was die Fehler anbelangt, bleib cool. Ein kluger Mann hat mal gesagt, ich glaube, es war Dietrich Bonhoeffer: ›Der größte Fehler, den man machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.‹ Und jetzt wird gefeiert! Wir wollen noch ein paar Bier zischen. Und ich will dich dabeihaben.« Wieder versuchte er, sie mitzuziehen.

      Sie machte sich steif. »Heute nicht, Carsten. Die letzten Tage waren extrem anstrengend, die Proben und so, ich bin total durch den Wind und will früh schlafen gehen.«

      »Schlafen gehen?« Er streifte sie mit einem Blick der Verachtung. »Du kannst genug schlafen, wenn du tot bist. Wir feiern heute Abend vor allem dich, Prinzessin! Deinen Aufstieg zur Frontsängerin! Sei nicht so undankbar! Ein Bierchen, mehr nicht. Danach schläfst du wie ein Baby. Wir treffen uns ja morgen erst um zehn.«

      Sie winkte ab. »Ich mach mich vom Acker, ehrlich. Ich bin fertig. Da hat keiner was von. Außerdem will ich jetzt nicht mit den anderen reden, will mich nicht rechtfertigen müssen. Hab keine Lust auf ihre mürrischen Gesichter. Die ziehen mich runter. Wir sehen uns morgen bei der Probe.«

      Carsten setzte eine enttäuschte Miene auf und rückte seinen Hut zurecht. »Okay. Wenn du es dir anders überlegst, kommst du einfach nach. Wir sind am Maibrunnen auf dem Marktplatz, vor der Marienkirche, du weißt schon.«

      »Ja, ich weiß.« Jessica schulterte ihre Tasche und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.

      Kapitel 2

      Samstag, 6. Mai

      Der Lieneschweg gehörte zu den Top-Adressen Osnabrücks. In den goldenen 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten hier betuchte Osnabrücker Beamten- und Unternehmerfamilien ihre Villen errichtet – fernab vom Lärm, der Hektik und der Geruchsbelästigung der Innenstadt. Große, elegante Stadthäuser, im Laufe der Jahre aufwendig saniert, reihten sich wie Perlen entlang der begrünten Allee und prägten das Bild einer gehobenen Lebensart. Einige Villen waren zu Mehrfamilienhäusern umgebaut worden, weil die Familien kleiner geworden waren und kein Personal mehr mit im Haus untergebracht werden musste. Die Lage war ideal – nicht weit zu den Einkaufsmeilen Lotter Straße und Innenstadt und ebenfalls nicht weit entfernt vom Naherholungsgebiet Westerberg. Auch das weitläufige Waldgebiet Heger Holz mit dem idyllisch gelegenen Rubbenbruchsee war mit einem etwas längeren Spaziergang zu erreichen.

      Das Villenviertel lag am Samstagmorgen noch verschlafen da, als Else Leinweber bereits ihren Hausputz erledigt hatte. Energisch zog die Mittsiebzigerin die Wohnungstür hinter sich zu. Sie ärgerte sich darüber, dass die Sängerin aus der Erdgeschosswohnung trotz mehrmaliger Aufforderung das Treppenhaus nicht geputzt hatte. Es war schon öfter vorgekommen, dass sich die Nachbarin über Regeln und mündliche Absprachen hinweggesetzt hatte. Else Leinweber war es leid, die Arbeit für die junge, verwöhnte Dame mit zu erledigen. Ihr Hals schwoll an, als sie im Vorbeigehen Wollmäuse in den Ecken und feinen grauen Staub auf dem Geländer bemerkte.

      Sie ordnete ihre bläuliche Lockenfrisur und läutete im Erdgeschoss neben dem Namensschild mit der Aufschrift »Jessica Wagner«. Die Tür war nicht richtig ins Schloss gezogen worden. Else Leinweber klingelte ein zweites Mal und ging einfach hinein. Ein eigentümlicher Geruch strömte aus der Wohnung. Die Bewohnerin musste da sein, denn das Radio lief.

      »Hallo? Frau Wagner?« Mit einem beklemmenden Gefühl blieb Else Leinweber im Flur stehen. Es roch nicht nur ungelüftet, sondern auch süßlich, metallisch. Sie kannte das aus dem Pflegeheim, wenn sie ihren dementen Bruder dort besuchte. Ein unangenehmes Geruchspotpourri aus Urin, Kot, Blut, Reinigungs- und Desinfektionsmittel und billigem Eau de Toilette, das aus Duftspendern aus den Ecken kam, im verzweifelten Versuch, für ein angenehmes Raumklima zu sorgen. Else Leinweber runzelte die Stirn. War die Nachbarin in der Nacht etwa volltrunken nach Hause gekommen? »Frau Wagner?« Langsam tastete sie sich vor, sie kannte sich ja aus. Die Wohnung hatte den gleichen Schnitt wie ihre eigene. Oft genug war sie hier gewesen, um der Nachbarin etwas zu bringen, was der Bote bei ihr abgegeben hatte. Die jungen Leute bestellten ja nur noch im Internet. Sogar Essen ließ sich die kaufsüchtige Person anliefern. Oft bekam sie Kartons einer bekannten Supermarktkette. Die Hälfte des Inhalts landete hinterher

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