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Davonschleichen.

      Irgendwann einmal, Wochen später, die eine oder andere Botschaft in die ehemalige Heimat. Damals denkt er nicht im Traum daran, er könnte sich eines Tages abermals klammheimlich aus seinem Leben davonstehlen.

      Jetzt, hinter Gittern, will Musa Verantwortung übernehmen. Für seine Mutter. Für die Schwestern. »Ich habe sie im Stich gelassen, möchte für sie da sein. Was bin ich bloß für ein Mensch?« Sie denken bestimmt, hier im Gefängnis sei es ähnlich verheerend wie in einem Gefängnis in Tschetschenien. Ob ich vermittelnd einspringen könne? Zugleich beklagt er auch, dass es kein Halal-Fleisch gebe.

      »Die Juden kriegen ihr koscheres Essen. Warum nicht auch wir?«

      Musa fühlt sich als Opfer. Beim Thema halal kann ich ihm nicht helfen. Dafür gelingt es mir, ihn aus der Isolation der Einzelhaft zu holen, zu bewirken, dass er in eine Zwei-Mann-Zelle kommt. Musa erträgt die Einsamkeit nicht. Ein aus der Außensicht womöglich nichtiger Teilerfolg, doch er festigt Musas Vertrauen in mich zusätzlich.

      Und so kommen wir abermals auf die Verantwortung zu sprechen – auf die Verantwortung abseits jener, die er neuerdings für seine Familie zu haben glaubt. Allzu rasch steht wieder das Wort Opfer im Raum. Unausgesprochen, doch klar umrissen wie ein Phantasma, das sich sichtbar macht, um jeden Zweifel über seine Existenz auszuräumen.

      »Diese Verbrecher ziehen den Koran in den Dreck«, poltert er los.

      Ich bin froh, dass er das so sieht. Doch dann, fast trotzig, setzt er hinterdrein: »Der Prediger ist schuld. Dieser Arsch!«

      Wiederum einer dieser aufblitzenden Momente, da ich an seinem Prozess der Läuterung ernsthaft zweifle. Denn in diesen Momenten fühlt er sich nicht als Täter. Er ist, wenngleich er das Wort nicht in den Mund nimmt, Opfer. Opfer der Umstände. Zuerst die Sache im Park. »Wir haben uns gegenseitig hochgepuscht. Die Gruppe.«

      Natürlich, denke ich. Nichts öffnet die Schleusen für Verführung und falsche Führung leichter und weiter als ein Gefühl von Verlorenheit, und doch kann und will ich ihn nicht aus der Pflicht seiner Täterschaft entlassen.

      »Du hast also auch … hochgepuscht?«

      »Ich habe nicht damit angefangen.«

      »Nein?«

      »Nein. Ich wollte bloß dazugehören.«

      »Und dann?«

      »Der Prediger. Er hat uns manipuliert. Er hat Gehirnwäsche mit uns betrieben. Ich habe das nie gewollt. Glauben Sie mir, Imam! Die anderen auch nicht.«

      »Du bist kein Opfer«, sage ich, um hinterdrein zu denken: Du bist ein Täter. Ein Täter mit Ausrede. Wie alle anderen auch, die unverzüglich irgendwelche Ausreden ins Treffen führen. Doch das sage ich nicht, denn meine Aufgabe als Seelsorger besteht nicht in der Aburteilung von Straftätern (was ohnedies vor Gericht geschieht), sondern in der Aufgabe, die Menschen wie Musa die eigene Einsicht zu fördern, sie gezielt hinzuführen zu dem Wendepunkt, wo sie ein Einsehen haben, wo sie ihre Täterschaft begreifen, die Schwere ihrer Schuld erkennen und für sich anerkennen.

      »Du selbst hast die Entscheidungen getroffen«, sage ich also. »Du selbst hast gehandelt. Du allein.«

      Musa reagiert geradezu wehleidig. »Wieso sagen Sie das, Imam? Sie kennen meine Geschichte. Was bin ich sonst als ein Opfer?!«

      »Sind denn immer bloß die anderen schuld, Musa?«

      Manchmal hat Musa Tränen in den Augen. Es hat den Anschein, als überfordere ihn seine Rolle im syrischen Krieg in der Rückbeschau. Was ist er? Ein gnadenloser Mörder? Ein Hetzer? Dennoch: Meine Worte über den Koran, über Allahs Wunsch eines friedfertigen Miteinanders der Menschen aller Konfessionen und Hautfarben, fallen auf fruchtbare Erde bei ihm. Wiewohl ich mir bis zuletzt nicht sicher bin, wieweit dieser Same der Wiederkehr ins Gefüge einer demokratischen Gesellschaft und ihrer Werte in ihm gedeihen wird.

      »Ich sehe in dir einen Menschen, der sich auf die Suche nach Allahs Vergebung begibt«, sage ich.

      Dafür müsse er allerdings bereit sein, die Frage der Verantwortlichkeit aufzulösen. Er müsse sich bekennen zu dem, was er getan hat. Vor sich bekennen. Und natürlich vor Allah. »Nur wer echte Reue zeigt, dem vergibt Gott.«

      Wenn du Reue zeigst, wird dir Allah vergeben. Das ist eine der Kernbotschaften, mit der ich in der JA Josefstadt arbeite. Vielleicht haben junge Männer wie Musa ihre Probleme damit, weil ein barmherziger Gott für sie so wenig greifbar ist, weil er dem widerspricht, was ihm und Seinesgleichen von klein auf als Gottesbild indoktriniert worden ist.

      Nicht erst ein verführerischer, mit der Gewitztheit eines professionellen Schauspielers auftretender Prediger gibt Menschen wie Musa das Bild eines »Nur-Strafenden« Gottes ein.

      Oftmals erfolgt dies bereits in frühester Kindheit – als schändlicher Auswuchs einer nach wie vor sprießenden Gepflogenheit, die vorgibt, getreulicher Ausdruck des Koran zu sein, tatsächlich aber das Abbild archaischer Machtstrukturen ist. Eine Ausformung von Angstpädagogik, die längst über Bord geworfen gehörte.

      »Schau«, sage ich dann, »Allah ist der Allgerechte, und so zieht er die Menschen auch zur Rechenschaft – auf seine Weise.«

      In solchen Augenblicken, da ich den Zweifel an der prinzipiellen Barmherzigkeit Allahs in den Augen meines Gegenübers aufblitzen sehe, muss ich an meinen Großvater denken. Daran, dass er es gewesen ist, der mich maßgeblich auf meinem Weg zum Imam geprägt und begleitet hat. An seine Anfänge im deutschen Ludwigshafen, wohin er – dreitausend Kilometer von der Heimat, einer anatolischen Kleinstadt, entfernt – in den Siebzigern gekommen ist. Als typischer Vertreter der Gastarbeitergeneration. Erst Jobs am Bau. Später beim Chemieriesen BASF. Der mühselige Aufbau eines Stückchens Lebenswelt. Erst der Mann als Vorhut aus der Türkei ins Ausland, später Frau und Kinder nachgeholt. Wie man es kennt.

      Großvater ist seit jeher ein Mann der Tat, und als solcher lerne ich ihn auch kennen. Er bringt seinen Sohn, meinen Vater, ebenfalls bei BASF unter. Und auch mir, Ramazan, soll dergleichen widerfahren. »Sie suchen Mechatroniker«, sagt Vater eines Tages, als er von der Arbeit heimkehrt. Für ihn liegt der Fall, mein Fall, klar auf der Hand.

      Meine Pläne indes sind andere. Sowohl eine Jobmöglichkeit dort wie auch ein Angebot von der Universitätsklinik zu Heidelberg, wo man mich als aktenschleppenden Zivildiener kennengelernt hat und auch übernehmen will, schlage ich zum Entsetzen meines Vaters aus. Auch Halal-Metzger will ich nicht werden. Eine Marktlücke, braust mein Vater auf. Ich würde Millionen machen. Ich lehne entschieden ab, denn mir steht anders im Sinn. Auch bin ich meilenweit entfernt, ein einziges Huhn schlachten zu können. Obwohl ich Huhn für mein Leben gerne esse, und es auch nicht frei von humorvoller Pikanterie ist – aus heutiger Sicht –, dass meine Eltern mich ausgerechnet Ramazan genannt haben, benannt nach dem Fastenmonat Ramadan.

      Das Thema Halal-Metzger scheint vom Tisch. Bis mein Vater mich am Vorabend meiner Abreise nach Wien (wohin es mich der Liebe wegen verschlägt) vom Abschiedfeiern mit meinen Freunden nachhause holt. Im Wohnzimmer blicke ich in sieben todernste Mienen. Mein Vater schweigt die ganze Zeit, die anderen jedoch, allesamt seine Freunde, beginnen, auf mich einzureden. Teils blumige, teils eindringliche Worte. Der Druck wächst und wächst. Ein Argument stichhaltiger als das andere. Ich müsse bloß die Ausbildung machen, sie würden den Rest organisieren. Alles würden sie auf die Beine stellen. Bis hin zum Schlachthof.

      Ab und zu, wenn ich einen jungen Muslim vor mir sitzen habe, mir seine Geschichte anhöre – Abkehr vom Weg, Werdegang der Radikalisierung –, muss ich genau daran denken. An die grimmig entschlossenen Gesichter der Freunde meines Vaters, die dann erneut vor mir erstehen. An die Flut ihrer Argumente, die mich rumkriegen sollen. Natürlich ist die Karriere eines angehenden Halal-Metzgers mit der eines Extremisten nicht gleichzusetzen, doch ich sehe es als Parabel auf das Leben – dafür, wie wichtig es ist, sich nicht leichtfertig den Vorstellungen von Einflüste rern zu ergeben. Niemand kommt als Radikaler zur Welt. Erst die Umstände machen einen Menschen dazu, insbesondere aber die Aufgabe der Treue zu sich selbst und die Missachtung einer natürlichen inneren Stimme, die zur Vorsicht mahnt.

      Nein,

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