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ist. Das hat mit jahrhundertelanger, systematischer Ausbeuterei durch Kolonialstaaten ebenso zu tun wie mit archaischen Mustern und Rollenbildern so manch muslimisch geprägter Länder, was beispielsweise Erziehung und Status der Frau betrifft. Extremisten verstehen es auf oftmals beklemmend brillante Weise, sich diesen massiven Wandel der Gesellschaft in der jüngeren Weltgeschichte zunutze zu machen, indem sie die Veränderungen als Verlust eines religiösen Erbes beklagen – und mit aller Gewalt den Erhalt dieses Erbes vorantreiben, das in Wahrheit nichts anderes ist als ein Mix längst überkommener Traditionen und Kulturen. Die Religion wird als Mittel gegen den Zerfall nur vorgeschoben und damit aufs Schändlichste instrumentalisiert.

      Und diese Geschichte des so genannten Islamismus (das macht sie mitunter zu einem zutiefst innerislamischen Problem) ist auch eng verknüpft mit der Geschichte der Versklavung der Frau, der Stigmatisierung alles Weiblichen schlechthin.Überspitzt könnte man es als Selbstbefruchtung bezeichnen, eine Art ungewollter Schwangerschaft, die die Geburt einer nur noch schwer zu bändigen Bestie gezeitigt hat. Dennoch ist der Islam – dies an dieser Stelle vorausgeschickt, weil es gar nicht oft genug betont werden kann – zu keiner Zeit eine frauenfeindliche Religion gewesen, und er ist es auch heute nicht.

      Ich erkläre das meinen Häftlingen bei jeder Gelegenheit in einfachen, eingängigen Worten, wieder und wieder – zitiere gebetsmühlenartig Stellen aus dem Koran, die explizit auf Stellung und Bedeutung der Frau im Islam gemünzt sind, weil ich sehe, dass viele junge Männer, geprägt durch Elternhaus und Verwandtschaft in den Herkunftsländern, oftmals mit genau diesen alten Modellen aufwachsen. Schon zu Zeiten des Propheten Muhammad haben die Frauen in der islamischen Gesellschaft eine bedeutende Rolle gespielt. Und so haben wir es bei dem Phänomen Islamismus in erster Linie mit überkommenen Leitbildern zu tun, mit archaischen, vom Patriarchat geprägten Wertvorstellungen, die ins Kleid von Kultur und Tradition schlüpfen und dabei vorgeben, unabwendbarer Bestandteil der Religion zu sein. Damit wird ein grundfalsches Verständnis von dem vermittelt, was tatsächlich den Islam ausmacht, was tatsächlich im Koran festgeschrieben steht, was tatsächlich also der unverbrüchliche Wille Allahs ist.

      Und noch etwas gehört hierher, weil untrennbar verbunden mit dem Phänomen Extremismus und dem politisch motivierten Missbrauch des Islam (in den Medien immer politischer Islam genannt) – es ist dies der Begriff der Heuchelei.

      Seine Ursprünge reichen wiederum bis zu Napoleon und seinem Ägyptenfeldzug (1798) zurück, und seine Wirkmächtigkeit ist heute ausgeprägter denn je. Schon damals, in Berichten des reisenden Chronisten Henry Laurens beispielsweise, taucht immer wieder das Wort Heuchelei auf, wie auch der bereits erwähnte Psychoanalytiker Fethi Benslama aufzeigt. Der Begriff fußt auf dem arabischen munafiq, was ursprünglich jene beschrieben hat, die ihre Ungläubigkeit zu verschleiern versuchen, indem sie sich als Muslime ausgeben. Mehrfache missbräuchliche Umdeutung bzw. Verstärkung über die Jahrhunderte hat den Begriff im Bewusstsein heutiger Radikaler als das Übelste vom Üblen einzementiert. Er wird über all jene Glaubensbrüder gegossen, die sich – völlig zu Recht, wie ich meine – einer Politisierung ihrer friedfertigen Religion Islam verweigern, die Bestrebungen der Radikalen unterwandern und sich somit zu Todfeinden machen. Diese Heuchler stellen sich auf die falsche Seite, stehen in den Augen der Extremisten auf dem Podest des Verachtungswürdigen noch über den Ungläubigen.

      Wie tief der Begriff Islamismus in den Köpfen vieler Menschen als Synonym für Islam Wurzeln geschlagen hat, zeigt auch folgendes, ausgenommen krasses Beispiel aus meinem eigenen Umfeld. Hätte ich es nicht selbst vom Betroffenen (im Nachhinein kleinmütig) bestätigt bekommen, bekäme ich es also bloß erzählt, ich würde es als launige, doch jeden Funken Wahrheit entbehrende Maskerade abtun.

      Doch gerade dieses Beispiel zeigt eindringlich, was im Sprachgebrauch schieflaufen kann: Ein Kollege aus meinem ehemaligen Brotberuf islamischer Religionslehrer an einer Wiener Schule gerät eines Tages in Konflikt mit dem Vater eines Schülers. Anlass ist ein Missverständnis bei einer Gruppenarbeit, die als Aushang auf dem Schulgang gelandet ist und den Vater des Buben angesichts arabischer Schriftzeichen (im Unwissen, was die Schrift bedeutet) dazu anhält, heftig mit dem Lehrer zu diskutieren. Ein Wort ergibt das andere, eine Beschwerde bei der Direktorin folgt. Sie nimmt meinen Kollegen beiseite, fragt ihn eindringlich, ob es denn stimme, was der Vater behaupte, dass er nämlich zugegeben habe, ein Islamist zu sein.

      »Natürlich bin ich Islamist«, ruft der Lehrer mit einiger Dynamik und auch Ernsthaftigkeit. »IslamIST. So wie ChrIST. Oder BuddhIST.«

      Erst die Widerworte der Direktorin, welch fatale Wirkung Begriffe wie Islamist und Islamismus in unserer Gesellschaft zeitigen, bringt Aufklärung. Der Lehrer ist zutiefst bestürzt, auf welche – grundfalsche – Seite er sich (aus einigermaßen beschämendem Unwissen heraus) gestellt hat.

      Apropos richtige oder falsche Seite: Richtig und Falsch sind Kategorien der Moral. Ich versuche in meinen Predigten und auch Einzelgesprächen, diese Moral von Anbeginn nicht wie einen unüberwindbaren Schild vor mir herzutragen.

      Die Erfahrung lehrt mich, dass gerade das Antreten unter dem Panzer der Gerechtigkeit dazu führt, dass die allermeisten Gefangenen zwar wohlwollend nicken, doch augenblicklich zumachen. Sie machen zu, verpuppen sich zur Larve, die wider die Abläufe der Natur beschlossen hat, das Schlüpfen bleibenzulassen. Womit sich – mit dem Bild der Larve – der Bogen wieder auf den Tschetschenen Musa senkt.

      Als Musa erstmals beim Freitagsgebet auftaucht, sticht er mir sofort ins Auge. Der Blick in eine Schar von fünfunddreißig Augenpaaren ist immer auch der Blick in die Gesichter der Proponenten gegenläufiger Strömungen und Ansichten. Da gibt es jene, die mit ehrlichem Eifer und angespannter Aufmerksamkeit bei der Sache sind, die ihrem Prediger jedes Wort von den Lippen ablesen und auch später in den Diskussionen viel preisgeben. Dann gibt es die Wankenden, die Unsicheren, die schon während der Predigt, scheint’s, ihren inneren Kampf ausfechten, wieder und wieder die Stirn in Falten legen, schließlich aber nicht den Mut aufbringen, sich in der anschließenden Gesprächsrunde mit Fragen oder Kommentaren einzubringen. Vertreter der Gruppe der Gleichgültigen gibt es so gut wie nie, denn sie haben kein Interesse, ihren gläubigen Brüdern einen Platz zu versitzen. Und dann, am anderen Ende der Skala, finden sich jene, die dir als Prediger von Anbeginn signalisieren, wie klein und mickrig, welch ein Nichts du in ihren Augen bist. Die ihre Mundwinkel verächtlich herabziehen, Körpersignale purer Ablehnung aussenden, wie Gurus Grüppchen Gleichgesinnter um sich scharen und nicht selten die Predigt durch provokante Zwischenrufe stören.

      Musa erscheint mir als Vertreter des Typus Wankelmut, Tendenz Larve. Ich nehme ihn als neues Mitglied meiner Gemeinde zwischendurch vermehrt in Augenschein, und ich sehe, er folgt meinen Ausführungen mit einigem Interesse. Selbst zu Wort meldet er sich aber nicht. Erst nach der Frage-Antwort-Runde fasst er sich ein Herz, tritt in einem unbeobachteten Moment dicht an mich heran. »Imam, darf ich zu Ihnen kommen«, haucht er mir ins Ohr. »Jetzt?«

      Ich muster ihn kurz, lehne dann höflich, aber bestimmt ab. Ich hätte ein anderes, längst vereinbartes Treffen mit einem Gefangenen, der gleich dort drüben stehe und warte.

      »Es ist dringend, Imam. Wirklich dringend!«

      Musa blickt beschämt zu Boden. Er ist aufgewühlt, nestelt am Bündchen seines Kapuzensweaters, dann gleiten seine Hände fahrig an den Hosennähten auf und ab. Ich überlege nicht lange, nehme den wartenden Häftling beiseite und bitte ihn um Verständnis. Ein Notfall. Wenig später treffe ich Musa im Besprechungsraum im vierten Stock wieder.

      Ein andermal, Musa und ich sind schon so etwas wie alte Bekannte, sitzt er anfangs nur mit hängenden Schultern da. Beklemmendes Schweigen legt sich über uns wie eine Decke aus schwerem Brokat. »Sie sind doch Imam«, sagt er endlich.

      Irritiert blicke ich ihn an. »Natürlich, das weißt du doch.«

      »Sie wissen also, was richtig und ist und was nicht. Sie wissen, was Allah will.«

      Zweifel keimen in mir auf. Eine Zeitlang habe ich wohl gedacht, Musa gehörte zu jenen, die dem Bösen bereits abgeschworen haben oder wenigstens auf bestem Wege dorthin sind. Doch nun hat es den Anschein, als sei der innere Kampf des jungen Mannes noch lange nicht ausgefochten, als erleide er gerade einen massiven Rückfall.

      »Sie

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