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1998). Die Stützkursfalle schnappt aber dann unerbittlich zu, wenn Fördermassnahmen gegen den Willen der defizitbehafteten Schüler und Schülerinnen angeordnet werden, meist und gerne im Anschluss an diagnostiziertes Ungenügen. Für viele Lernende, die bereits Bekanntschaft gemacht haben mit Stütz- und Förderbemühungen, sind solche Erfahrungen mit Enttäuschung, persönlicher Kränkung oder Fatalismus verbunden. Werden sie ein weiteres Mal mit Nachdruck oder gar offenem Druck dahin getrieben, gibt es primär ein Ziel: entkommen oder in den Abwehrmodus gehen. Das erneute Bearbeiten von Defiziten ist ein schlechtes Lernmotiv und lässt deshalb keine grossartige Erfolgsprognose erwarten. Oder wie gerne tun Sie die Dinge, die Sie am wenigsten gut können, wie erfolgreich lösen Sie Aufgaben, an die Sie mit Misserfolgserwartungen herantreten? Widerstände und Misserfolgserwartungen gehören mit zu den stärksten Verursachern von Lernbehinderungen.

      Der bestmögliche Fall, von dem die meisten Diagnostik-Apologeten per se ausgehen, tritt ein, wenn ein Lernender einsieht, dass aufgrund seiner erkannten Lücken und Defizite Fördermassnahmen notwendig sind, wenn die Lücken nicht allzu gross und ausreichend Ressourcen vorhanden sind. Dies ist eine günstige, aber noch keine ausreichende Voraussetzung, um die Stützkursfalle zu umgehen. Damit nachhaltiges Lernen tatsächlich erwartet werden kann, müssten die Förderangebote dann noch mit den Zielen der Benützer korrelieren und auf die individuellen Ressourcen abgestimmt sein. Schematische Förderangebote erfüllen diese Voraussetzungen nicht oder nur in zufälligen Ausnahmen, es fehlt ihnen die personalisierte, einvernehmliche Lernplanung.

      Lehr-Lern-Irrtümer

      Vier Lehr-Lern-Irrtümer scheinen unausrottbar, und das, obwohl wahrscheinlich kaum jemand zu finden ist, der sie verteidigen würde. Diese Irrtümer, nachfolgend richtiggestellt, sind:

      •Gelehrt ist nicht gelernt. Diese Formel wie auch Abwandlungen und Verfeinerungen davon (gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht begriffen) sind trivial und kaum bestritten. Trotzdem wird im Alltag laufend dagegen verstossen. Welche Lehrperson kennt nicht Lehrerzimmersätze der folgenden Art, meist noch gestisch verstärkt: «… ich habs ihnen doch erklärt», «… der will das einfach nicht begreifen», «… dieser Klasse muss ich alles zweimal sagen»? Spätestens bei Lernkontrollen tritt nicht selten zutage, was schon Generationen von Lehrpersonen zur Verzweiflung brachte und keine Didaktik bisher gemeistert hat: Was genau die Lernenden mit dem gelehrten Inhalt anfangen, entzieht sich weitgehend dem Einfluss der Lehrenden.

      •Lehrziele sind keine Lernziele. Auch wenn das in praktisch allen Lehrplänen so steht und es die klassische Schule der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Endlosschlaufen stipuliert: Die von der Institution, der Schule und der Lehrperson geplanten Ziele sind nicht Lernziele, sondern Lehrziele. Zu Lernzielen werden sie erst, wenn die Zielscheiben, pardon, die Lernenden das damit Bezeichnete auch tatsächlich lernen wollen, es zu ihrem eigenen Ziel machen.

      •Das Lehrmittel vermittelt nicht den Stoff, es bildet ihn lediglich ab, und zwar so dicht und komplex, dass die von Krapf kolportierte Behauptung in den mehr als zwanzig Jahren seit ihrer Publikation nichts von ihrer Relevanz verloren hat: «Bei der Einführung eines neuen Lehrmittels müsse man [die Lehrperson] mindestens einmal das ganze Buch mit einer Klasse durchgearbeitet haben, bevor man den Stoff genügend beherrsche. Durch das Lehren würde man schliesslich die nötige Sicherheit gewinnen.» Und er folgert: «In welch hoffnungsloser Lage sind die Schülerinnen und Schüler, die trotz der geringeren Vorbildung den Stoff schon im ersten Durchgang beherrschen sollten» (Krapf, 1995, S. 23).

      •Der Grundlagen-zuerst-Irrtum dürfte darauf fussen, dass eine logische Figur mit einer lernpsychologischen Abfolge verwechselt wird. Sprachlogisch baut das Besondere auf dem Allgemeinen auf, Lernprozesse funktionieren gerade umgekehrt. Die Neugierde und der Wunsch, etwas zu können, zielen zuerst auf das Konkrete, die Anwendung, den Einzelfall, den Output, das Produkt. Das Interesse an Regeln, an Erklärungen ist nachgelagert; «Grundlagen sind Endpunkte des Lernens» (Kuster, 2011, S. 11), Fragen nach Zusammenhängen von Einzelphänomenen können erst gestellt werden, wenn die Phänomene bekannt sind. Wer mit den Grundlagen der Bewegungsabläufe beginnt, lernt niemals gehen. Oder näher beim schulischen Lernen: Grammatik büffeln ist kein besonders guter Einstieg in eine neu zu lernende Fremdsprache.

      Lerngespenster und Schuldämonen

      Lerngespenster wirken umso stärker, je mehr man an sie glaubt, und sie verlieren ihren Schrecken, wenn sie ans Licht gezerrt werden. Die bekannteren unter ihnen sind diese:

      •Die fehlende Motivation kann sich in stummer Symbol- und Körpersprache äussern, aber auch lautstark artikuliert oder eskapistisch (Ablenkungshandlungen, innere Immigration). In der perfektioniertesten Form versteckt sie sich hinter einer Interesse simulierenden Attitüde: die Schülerin, die scheinbar an den Lippen der Lehrerin hängt, während im inneren Kino der Film über das letzte Wochenende abläuft.

      •Die Null-Bock-Haltung ist die grössere Schwester der fehlenden Motivation. Sie präsentiert sich oft und gerne trotzig, verbunden mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Imponiergehabe.

      •Eine negative Klassendynamik mit latent lernfeindlicher Grundstimmung ist die gespenstische Zusammenrottung von fehlender Motivation und Null-Bock-Haltung. Sie entwickelt sich oft unbemerkt, schwillt an, bis sie bleiern durch den Raum schwebt und doch nirgends und bei niemandem eindeutig festgemacht werden kann.

      •Die fehlende Leistungsbereitschaft und andere Mankozuschreibungen aus der gleichen Familie, beispielsweise «geringes Durchhaltevermögen», «mangelhafte Konzentrationsfähigkeit», geistern durch Lehrerzimmer und werden von Berufsbildnern, Branchenvertretern und Prüfungsexpertinnen beschworen. Sie müssen herhalten als vorschnelle und oft pauschalisierende Erklärungen für ganz unterschiedliche Phänomene wie persönliche Schwierigkeiten mit Lernenden, sinkende Erfolgsquoten oder einfach dafür, dass nichts mehr so ist wie früher.

      Von einer anderen Art, aber nicht minder störend sind jene Schuldämonen, die sich das System und dessen Akteure selbst einbrocken. Auch dazu ein paar besonders hartnäckige Exemplare:

      •Der Stoffdruck drückt in erster Linie die Lernenden, während er die Lehrenden dazu antreibt, zu viel Stoff in zu wenig Zeit durchzupeitschen, unbesehen davon, wie gut die Lernenden folgen können. Die Bosheit hinter dem Stoffdruck ist die, dass er sich unablässig daran zu laben scheint, den Lehrpersonen wie den Lernenden die Freude und Begeisterung auszutreiben.

      •Der Lehrplanzwang tritt äusserst selbstbewusst auf, nimmt gerne die Gestalt einer unverrückbaren Realität an mit dem Effekt, dass dadurch sein dämonisches Wesen aus dem Blickfeld gerät. Dieses zeigt sich etwa dann, wenn ich mich genötigt fühle, Themen zu besprechen oder Fertigkeiten zu beüben, obwohl für mich oder die Klasse im gegebenen Zeitpunkt anderes bedeutsam wäre.

      •Arbeitsblätter können in ganz unterschiedlicher Gestalt ihre zersetzende Wirkung ausüben, als spröde Lückentexte im A4-Format, als verführerisch aufgemachte Lerndossiers oder als elektronische Dateien. Unheimlich daran ist, dass Arbeitsblätter und deren Surrogate eingesetzt werden, weil sie da sind, weil sie mit viel Mühe erstellt wurden und oft die Erkenntnis der Erstellerin oder des Erstellers in verdichteter Form enthalten. Darob geht vergessen, dass der Erkenntnisgewinn das Resultat des Herstellungsprozesses ist – die Lernenden aber diesen Weg nicht abschreiten können, wenn sie Textlücken füllen, Zuordnungen machen und dergleichen mehr.

      •Frontalunterricht wird so oft verteufelt, dass er zum Buhmann in der Familie der didaktischen Formen geworden und doch gleichzeitig sehr prominenter Dauergast in fast allen Schulstuben ist. Weshalb peinigt er als Negativstereotyp so viele Lehrpersonen, wenn sie gewahr werden, welchen Anteil er an ihrer Lehrtätigkeit einnimmt? Besonders stark trifft es Lehrpersonen, die von der Lernwirksamkeit eigenaktiver Stoffaneignung überzeugt sind.

      •Die Normalverteilung oder auch Gauss’sche Kurve ist die fieseste Figur unter den Noten- und Bewertungsdämonen. Dem schemenhaften Glockenbild folgend, verteilen Lehrpersonen nach einer Klassenarbeit die Noten der einzelnen Schüler aufgrund dieser imaginären Kurve. Individualleistungen werden nicht mehr in Bezug auf die Zielerfüllung, sondern in Relation zur Klasse beziffert. Das beruht auf einem fatalen Irrtum. Die Normalverteilung

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