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wahr und erklärte: „Unser KIT hat natürlich schon ganze Arbeit geleistet. Das weiß man heute: Kinder und Jugendliche brauchen Formen und Rituale, um sich ihrem Schock oder ihrer Trauer zu stellen.“ Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: „Wir Erwachsenen natürlich auch.“ „KIT?“, fragte Hannah Mellrich zurück, das erste Wort der Kommissars-Anwärterin seit der Begrüßung.

      „Ach so“, riss sich Svenja Kaiser aus ihren Gedanken, „das sagt Ihnen natürlich nichts. Kriseninterventionsteam, KIT. Das gibt es inzwischen an jeder Schule. Und das braucht man auch. Sie glauben nicht, was in einem Schuljahr so alles passiert. Ich bin ja erst seit zwei Jahren dabei“ – ‚Aha!‘, dachte Kellert – „aber wir haben schon alles gehabt, wirklich: Selbstmord einer Schülerin, einen schweren Verkehrsunfall, in den drei Mitschüler verwickelt waren, mehrere Todesfälle von Eltern, zwei Kollegen sind gestorben …“, ihre Gedanken gingen erneut über das aktuelle Gespräch hinaus, dann fing sie sich aber wieder.

      „Na ja, alles haben wir Gott sei Dank noch nicht gehabt. Einen Amoklauf, zum Beispiel. Hoffentlich bleiben wir wenigstens davon verschont. Jedenfalls: Für all diese Fälle ist das KIT da. Das sind vor allem Kolleginnen aus den Fachschaften Religion und Ethik. Die machen das toll. Also ich weiß nicht, ob ich das könnte …“

      Sie stockte und überlegte, verlor sich in ihren Gedanken. Kellert blickte ruhig zu ihr hinüber. Plötzlich riss sich die junge Lehrerin zusammen und besann sich auf ihre aktuelle Aufgabe. Sie schloss die Augen, schüttelte einmal kurz und heftig ihren Kopf, um sich von ihren abschweifenden Gedanken zu befreien, und sprach dann weiter: „Und die Kollegen vom KIT haben hier heute Morgen gleich alles vorbereitet. Die meisten Schülerinnen und Schüler wussten natürlich schon vorher Bescheid. So etwas verbreitet sich in Friedensberg wie ein Lauffeuer. Und jetzt versuchen wir, irgendwie ins Gespräch mit den Schülern zu kommen. Ihre Fragen aufzunehmen. Raum zu geben für Trauer, Unsicherheit, Wut, Fassungslosigkeit … An normalen Unterricht ist heute natürlich gar nicht zu denken.“

      Svenja Kaiser hatte sie über die breite Treppe in den ersten Stock zum Direktorat geführt. Nun wandte sie sich an die beiden Polizisten: „Ich habe gerade zwei Freistunden. Ach je: Was sage ich denn gleich meinen Fünftklässlern? Können Sie mir da vielleicht einen Rat geben?“ Kellert schaute unsicher. Da kannte er sich nicht aus. Er überlegte. „Vielleicht gar nichts selber sagen, sondern erst mal zuhören.“

      3.

      „Konflikte!? Ob es hier Konflikte gibt? Sie scherzen, Herr Kommissar. Was glauben denn Sie?“ Ingrid Wiesmüller lachte bitter vor sich hin, warf dann ihren beiden Kollegen einen amüsierten Blick zu. Zu fünft saßen sie tief eingesunken in den weichen Sesseln im Empfangszimmer des Direktorates des KaRaGe: Kellert und PKA Hannah Mellrich, Ingrid Wiesmüller, die stellvertretende Direktorin des Gymnasiums, daneben Ulrich Schongauer, durch den weißen Kragen als Priester erkennbar, ansonsten aber leger gekleidet, sowie Thomas Brox, die beiden weiteren Mitarbeiter im Direktorat.

      Ingrid Wiesmüller war gertenschlank, dezent geschminkt, gekleidet in ein modisches, cremefarbenes, sicherlich nicht ganz billiges Kostüm. Sie mochte knapp fünfzig Jahre alt sein – etwas jünger als ich, schätzte Kellert –, trug eine goldrandeingefasste Brille mit Halbmondgläsern an einer um den Hals hängenden Kette, sprach laut, gewohnt, dass man ihr zuhörte, und – fand Kellert – so, dass man sich automatisch fügen wollte. Sie hatte sofort und wie selbstverständlich die Gesprächsführung an sich gerissen. Jetzt war sie hier die Chefin, daran ließ ihr ganzes Verhalten keinen Zweifel.

      Schongauer – sicherlich über sechzig, fast komplett glatzköpfig bis auf einen mattgrau schimmernden Haarkranz, untersetzt, in dunkler Hose, blauem Hemd mit Kollar, dem etwas zu eng anliegenden weißen Priesterkragen, sowie hellgrauem Pullunder – hatte schon bei der Begrüßung klar gemacht, was seine Funktion war: „Ich sage immer: Ich bilde sozusagen die Brücke zum Bistum. Und bin hier als Schulseelsorger eingesetzt.“ Nun seufzte er und verdrehte die Augen zum Himmel. Dass er hier nicht viel zu sagen hatte, war mehr als deutlich.

      Thomas Brox sah so aus, wie viele von Kellerts eigenen Lehrern, an die er sich noch erinnerte. Mit gebügelter Jeans, modischem Pullover, halblangen, mit einem ersten Hauch von Silbersträhnen durchsetzten braunen Haaren und einem gepflegten Dreitagesbart. Gewinnendes Lächeln, ein leicht ironischer Zug um den Mund, fester Händedruck. „Brox. Ich bin hier verantwortlich für die Klassenverteilung, den Stundenplan – alles, wofür man einen Lehrer mit Computerkenntnissen braucht“, so hatte er sich vorgestellt.

      Nun blickte er mit ein wenig Distanz zu seiner Kollegin, die plötzlich seine Vorgesetzte war. Oder sich so aufführte. Ein leicht zynisches Grinsen setzte sich in seinen Mundwinkeln fest, als er bestätigte: „Konflikte? Aber ja.“ Dass diese beiden in der Schulleitung arbeitenden Kollegen nicht immer einer Meinung waren, ließ sich schon auf den ersten Blick deutlich an Körpersprache, Gestik und Mimik erkennen.

      Ingrid Wiesmüller, Lehrerin für Deutsch, Englisch und Sozialkunde, dachte jedenfalls gar nicht daran, einem ihrer Kollegen die Gesprächsführung zu überlassen. Kellerts Frage, ob es an ihrer Schule Konflikte gäbe, fand sie offenbar wirklich amüsant. „Wir entscheiden hier tagtäglich über Lebensläufe. Über Gelingen und Scheitern. Über Vorankommen oder Stagnieren. Bei den Schülerinnen und Schülern, denen wir Noten geben. Geben müssen. Manche müssen die Schule verlassen. Andere scheitern an dem Niveau, das sie sich selbst erhoffen oder – das ist noch viel häufiger der Fall – das ihre Eltern von ihnen erwarten. Und wir“, erneut blickte sie Zustimmung heischend, aber nicht abwartend auf ihre beiden Kollegen, „wir entscheiden darüber, täglich.“

      Brox ließ sich nicht so leicht einschüchtern und mischte sich ein. „Das ist ja ganz normal, werte Kollegin, das gehört nun einmal zum gesellschaftlichen Erziehungsauftrag der Schule“, warf er ironisch ein. „Aber wenn Sie mich fragen: Konfliktträchtiger ist der Umgang mit den Kollegen. Seien wir doch ehrlich!“ „Gewiss, dazu wollte ich ja gerade auch kommen“, fuhr ihm die stellvertretende Direktorin in die Parade. „Wissen Sie, wie viele Lehrerinnen und Lehrer wir hier am KaRaGe haben?“, wandte sie sich unvermittelt an die beiden Besucher, die bislang zwar aufmerksam, aber eben doch weitgehend unbeteiligt dem Gesprächs-Scharmützel gelauscht und sich ihre Gedanken gemacht hatten. Sie waren zu verblüfft, um sofort zu antworten.

      „Na kommen Sie schon, wagen Sie einen Tipp“, ermunterte Ingrid Wiesmüller den Kommissar. „Sie auch!“, wandte sie sich an die Kommissars-Anwärterin. Kellert räusperte sich, überlegte kurz, sagte zu sich ‚Warum nicht?‘ und antwortete: „Ich sage mal siebzig?“ „Ich tippe auf knapp hundert“, sekundierte Hannah Mellrich mit selbstbewusster Stimme.

      „Nicht schlecht“, nickte die stellvertretende Direktorin, als Lehrerin gefangen in der Routine der bewertenden Rückmeldung. „Einhundertzehn Kolleginnen und Kollegen, und das bei knapp zwölfhundert Schülerinnen und Schülern. So sieht das aus.“ Irgendwie zufrieden blickte sie auf die beiden Kriminalbeamten. Von einer Erschütterung über den Tod ihres bisherigen Chefs war ihr sowieso nichts anzumerken. Ein routiniert benanntes Bedauern hatte sie gleich zu Anfang geäußert, mehr nicht.

      Sie hatte ihren Gedankengang aber noch nicht abgeschlossen. „Einhundertzehn Kolleginnen und Kollegen! Alle wollen gesehen, gelobt, beachtet werden. Alle wollen Karriere machen. – Okay, fast alle!“, korrigierte sie sich, als sie sah, dass Thomas Brox einen kritischen Einwand machen wollte. Weder gab sie ihm dazu die Gelegenheit, noch ließ sie sich in ihrem einmal aufgenommenen rhetorischen Schwung ausbremsen. „Alle haben das Gefühl, benachteiligt zu werden. Alle gehen davon aus, dass sie, sie für die spannenden und besser bezahlten Jobs am besten geeignet sind. Alle wollen gut benotet und gefördert, ach was: befördert werden. Und auch darüber entscheiden letztlich wir. Und das soll ohne Probleme und Konflikte gehen? Sie haben vielleicht Nerven!“

      „Wir entscheiden streng genommen allerdings nicht darüber, liebe Kollegin“, nutzte Ulrich Schongauer die kleine Pause, um sich mit sanfter Stimme einzubringen. „Das entscheidet letztlich allein der Chef. Wir beraten ihn natürlich dabei“, fügte er in Richtung der beiden Gäste hinzu. „Ich sage immer: Schule ist wie das Leben überhaupt“, meinte er dann in leicht predigtartigem Tonfall. „Alle Konflikte, die es im Leben gibt, bilden sich auch bei uns ab.

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