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auch völlig unklar, ob es überhaupt für eine Rückreise nach England ausreichen würde. Ihre Abfahrt verzögerte sich durch ein ganz praktisches Problem: Die gewaschene Wäsche, die eine Einheimische dem Trio brachte, war noch nicht trocken, weswegen man einen Tag später nach Luzern aufbrach.

      Und so begann die lange Rückreise mit einer Bootsfahrt im Regen, morgens um sieben Uhr, sehr unbequem, mit Wolken, die dicht über den Köpfen der Reisenden hingen. In Luzern stiegen sie auf ein Flussboot um, das war damals die mit Abstand billigste Art zu reisen. Abenteuerlich war auch diese Fahrt auf Reuss und Rhein, in Richtung Basel, über Stromschnellen: «Von Luzern aus fuhren wir auf der Reuss stromabwärts – in der hier und dort gefährliche Felsen lagen – wir flogen wie ein Blitz über eine Stromschnelle, wie das hier genannt wird – ich wage zu behaupten, dass es mindestens 8 Fuss waren, die wir hinabstürzten», berichtete Claire.

      Die kurze Episode in der Zentralschweiz hat eine kleine, feine Spur in Mary Shelleys Werk hinterlassen: Als sie zwei Jahre später in der Villa Diodati am Genfersee, im Jahr ohne Sommer, ihren Roman-Erstling und Bestseller Frankenstein or the Modern Prometheus schreibt, scheint der Vierwaldstättersee in einer kurzen Episode auf. Aber entweder täuscht sich die Figur, die da erzählt, oder aber Mary verändert den See, den sie ja mit eigenen Augen gesehen hat, absichtlich, denn grüne Inseln gab es auch damals nicht im Vierwaldstättersee. Wohl aber den Föhnsturm, der dem Urnersee ganz plötzlich ozeanische Dimensionen verleiht. Er habe, so berichtete Doktor Frankensteins bester Freund Henri Clerval, Echo von Marys Tagebuch, «landschaftliche Szenen von grösster Schönheit in meinem eigenen Land gesehen; ich habe die Seen von Luzern und Uri besucht, wo die schneebedeckten Berge beinahe senkrecht ins Wasser abfallen und dabei schwarze, undurchdringliche Schatten werfen. Dies könnte düster, ja traurig wirken, wären da nicht die sattgrünen Inseln, die das Auge erlösen durch ihre heitere Erscheinung. Ich habe diesen See gesehen, aufgepeitscht durch einen Sturm. Als der Wind Wirbelstürme aus Wasser entfachte, bekam man eine Vorstellung davon, wie eine Wasserhose draussen auf dem grossen Ozean aussehen könnte; und die Wellen schlugen voller Wut an die Felswände […].»

      Man mag diese Flucht in die Schweiz, diesen – so rasch gescheiterten – Ausbruch aus den Fesseln der Gesellschaft naiv oder sogar lächerlich finden. Oder man kann, wie Alexander Pechmann schreibt, diese Reise «auch als Versuch werten, die Ideale der Romantik an der Wirklichkeit zu erproben. Gleiches gilt für die Experimente freier Liebe, die in Marys Briefen deutlich werden.» Was bleibt – neben Texten der Weltliteratur –, sind Zeugnisse von Menschen, die ein anderes Leben wagten, als es die Gesellschaft damals sowohl für Männer wie auch für Frauen vorgesehen, ja vorgeschrieben hatte. Fast könnte man meinen, Marys unbändiger Freiheitsdrang sei – von welcher höheren Instanz auch immer – hart bestraft worden. Die brutalen Schicksalsschläge folgten dicht aufeinander, und es ist ein Wunder, dass sie an all dem Unglück nicht zerbrach: Von ihren vier Kindern, die sie zusammen mit Percy zeugte, überlebte nur eines. Der Schock, als das erste Kind, nur wenige Tage nach der Geburt, starb, muss besonders gross gewesen sein, und die Zeilen, die Mary in ihr Tagebuch schrieb, bewegen einen noch heute tief: «Sonntag, i9.März. Träume, mein Baby würde wieder lebendig werden – dass ihm nur kalt gewesen sei & dass wir es am Feuer rieben & es lebte – ich erwachte & finde das Baby nicht.» Ihre Kinder Clara und William starben mit nur einem halben Jahr Abstand. Nur der Jüngstgeborene, nach seinem Vater ebenfalls Percy genannt, blieb am Leben. Den Unfalltod ihres geliebten Mannes musste Mary im Juli 1822 erleben, da waren sie neun Jahre ein Paar, sieben davon verheiratet. Shelley, der Nichtschwimmer, ertrank beim Untergang seines Segelbootes an der italienischen Küste zwischen La Spezia und Livorno.

      Der Schweiz und ihren Landschaften hat Mary unsterbliche literarische Denkmäler gesetzt. Nicht nur in Frankenstein spielt die Bergwelt, vor allem der Genfersee in einem Gewitter, eine grosse Rolle, sondern auch in ihrem apokalyptischen Science-Fiction-Roman The Last Man (1826), der am Ende des 21. Jahrhunderts spielt, in einer Welt, die von der Pest entvölkert und von einer schwarzen Sonne beschienen wird. Darin verarbeitet sie nochmals die Erinnerungen an die Reisen von 1814 und 1816 (siehe das Kapitel über Lord Byron, Seite 7579) und verknüpft sie mit Hommagen an Shelley und Byron, die zwar unter anderem Namen, aber deutlich erkennbar auftauchen. Die Pest wütet in ganz Europa, als ein paar Überlebende aus England beschliessen, ein besseres, kälteres Klima aufzusuchen – ihr Ziel sind die Schweizer Berge: «[…] to reach Switzerland, to plunge into rivers of snow, and to dwell in caves of ice, became the mad desire of all», die Schweiz zu erreichen, in Ströme aus Schnee einzutauchen und in Höhlen aus Eis zu hausen, das wurde zum wahnwitzigen Wunsch von allen.

      Beim Überqueren der französischen Grenze kann man einen überraschenden Unterschied zwischen den beiden Völkern feststellen, die auf den gegenüberliegenden Seiten hausen. Die schweizerischen Bauernhäuser sind viel sauberer und hübscher, und ihre Bewohner weisen denselben Unterschied auf. Die Schweizerinnen tragen sehr viel weisses Leinen, und ihre ganze Kleidung ist immer völlig sauber. Diese grössere Sauberkeit kommt hauptsächlich von den unterschiedlichen Religionen: Deutschlandreisende weisen auf denselben Kontrast zwischen protestantischen und katholischen Städten hin, obwohl sie nur einige Meilen voneinander entfernt sind.

      Die Landschaft während dieser Tagesreise war göttlich, mit ihren bewaldeten Bergen, kahlen Felsen und grünen Flecken übertraf sie jede Vorstellungskraft. Nachdem wir beinahe eine Meile zwischen hoch aufragenden Felsen hinabgestiegen waren, die mit Kiefernwäldern bedeckt sind, durchsetzt von grünen Lichtungen, wo das Gras kurz und weich und wundervoll grün ist, kamen wir in das Dorf St. Sulpice.

      Das Maultier hatte vor kurzem zu lahmen begonnen, und der Mann war dermassen ungehorsam, dass wir uns entschlossen, für den Rest des Weges ein Pferd zu mieten. Unser voiturier war uns vorausgeeilt, ohne uns im mindesten seine Absichten mitzuteilen: Er hatte beschlossen, uns in diesem Dorf zu verlassen und zu diesem Zweck Vorbereitungen getroffen. Der Mann, den wir nun anheuerten, war ein Schweizer, ein Bauer der höheren Klasse, der auf seine Berge und sein Land stolz war. Auf die Lichtungen zeigend, von denen die Wälder durchsetzt waren, informierte er uns darüber, dass sie sehr schön und ausgezeichnetes Weideland wären; dass die Kühe dort gediehen und entsprechend vorzügliche Milch geben würden, aus der man den besten Käse und die beste Butter der Welt mache.

      Nach St. Sulpice wurden die Berge noch höher und schöner. Wir kamen durch ein schmales Tal zwischen zwei von Wäldern bedeckten Bergketten, an deren Fuss sich ein Fluss entlangzog, aus dessen schmalem Bett sich jäh die Grenzen des Tales erhoben. Die Strasse lag etwa in der Mitte des Berghanges, der eine der Seiten bildete, und wir sahen die vorspringenden Felsen über und unter uns, enorme Fichten und den Fluss, den man nur durch die Reflexion des Himmelslichts weit unten wahrnehmen konnte. Die Berge dieser wunderschönen Schlucht liegen so eng beieinander, dass man während des Krieges mit Frankreich eine eiserne Kette von einem zum anderen geworfen hat. Zwei Meilen von Neuchâtel sahen wir die Alpen: Eine schwarze Bergkette nach der anderen erstreckt sich weiter und weiter, und weit hinter allem überragen die schneebedeckten Alpen jedes andere Landschaftsmerkmal. Sie waren hundert Meilen entfernt, aber ragten so hoch in den Himmel auf, dass sie wie jene blendendweissen Wolkenformationen aussahen, welche sich während des Sommers am Horizont sammeln. Ihre ungeheure Grösse überwältigt die Vorstellungskraft, und sie übersteigen jedes Fassungsvermögen so weit, dass es einiger Anstrengung des Verstandes bedarf, um glauben zu können, dass sie wirklich Teil dieser Welt sind.

      Von diesem Punkt stiegen wir nach Neuchâtel hinab, das in einer schmalen Ebene zwischen den Bergen und seinem riesigen See liegt und keine sonstigen Merkmale von besonderem Interesse aufweist.

      Wir blieben den folgenden Tag in dieser Stadt, mit der Überlegung beschäftigt, welcher nächste Schritt wohl am ratsamsten wäre. Das Geld, das wir aus Paris mitgebracht hatten, war beinahe aufgebraucht, doch wir erhielten für einen Wechsel ungefähr £ 38 Sterling von einem der Bankiers in der Stadt, und damit setzten wir unsere Reise in Richtung Uri See fort, um in diesem romantischen und reizvollen Land ein Häuschen zu finden, wo wir einsam und in Frieden verweilen könnten.

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