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Stadt umfasst in Bahnhofsnähe zu finden. Sie ist auch heute in Privatbesitz und nur ausnahmsweise zu betreten, das Häuschen, in dem Kleist wohnte, ist in den 1940er-Jahren abgerissen worden. Aber eine Fotoserie des Thuner Fotografen Christian Helmle vermittelt einen Eindruck von diesem Rückzugsort: alter Baumbestand, belaubte Äste, die sich bis zum türkisblauen Wasserspiegel hinabsenken, Wege und Bänkchen, im Hintergrund die Berge, die Wolken. Hier also hat Kleist geschrieben, über eine bis aufs Blut verfeindete Familie, deren zwei Zweige sich gegenseitig ausrotten wollen – inspiriert hat ihn Shakespeares Romeo und Julia. Am Ende werden zwei sich liebende junge Menschen durch die Hand ihrer Eltern sterben. Überhaupt trieft das Drama vor Gewalt und Pessimismus.

      Wichtiger als die Berner Oberländer Natur (von der er in seinen Schriften kaum Gebrauch macht, die Familie Schroffenstein spielt in Schwaben) waren für Kleist die Gesprächspartner in Bern: In der Gerechtigkeitsgasse diskutierte Kleist mit Heinrich Zschokke, Ludwig Wieland und Heinrich Gessner, Buchhändler, Verleger und Sohn des berühmten Idyllendichters Salomon Gessner. In dessen Verlag erschien 1803, anonym, die Familie Schroffenstein. Als Kleist erkrankte und vorerst für mehrere Wochen nach Bern übersiedelte, gab er den Traum vom Selbstversorgerleben endgültig auf. Sein Bildnis, das Wilhelmine ihm nach Auflösung der Verlobung (ohne dass sich die beiden noch einmal gesehen oder gespochen hätten) nach Thun schickte, vergass er, packte es jedenfalls nicht ein, ob nun absichtlich oder unabsichtlich. Mitte Oktober 1802 verliess er die Schweiz, um schon im Sommer 1803 zurückzukehren, diesmal in Begleitung seines Jugendfreundes Ernst von Pfuel. Unterbrochen von Ausflügen nach Meiringen und ins Reichenbachtal sowie Abstechern nach Bellinzona und Varese, hielten sie sich im August und September erneut in Thun und Bern auf. Offenbar zeigte Kleist dem Gefährten seine alten Aufenthaltsorte – und just da kam es zu Szenen, die die (biografische) Kleist-Forschung ganz schön auf Trab brachten. Vor einigen Jahren erst tauchte nämlich ein Brief auf, datiert auf den 7. Januar 1805, in dem Kleist an seinen Freund schreibt: «Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei dir schlafen können, du lieber Junge; so umarmte dich meine ganze Seele! Ich habe deinen schönen Leib oft, wenn du in Thun vor meinen Augen in den See stiegest, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet. Er könnte wirklich einem Künstler zur Studie dienen.» Über diesen zweiten Schweizaufenthalt ist relativ wenig bekannt – dafür wuchern die Interpretationen über Kleists sexuelle Ausrichtung. Sicher ist: Anfang Oktober führte die Spur des rastlosen Dichters wieder nach Paris, wo er, frustriert über das Misslingen seines Guiskard-Projekts, das dazugehörige Manuskript verbrannte. Der Kreis scheint sich zu schliessen, Kleist war zurück im Grossstadt-Moloch, haltloser als je zuvor. Die Schweizer Monate waren womöglich eine (allzu) kurze Atempause in diesem erschütternd unruhigen Leben. Zumindest lassen die leicht dahingetupften Schilderungen der Thunersee-Idylle das glauben.

      Auf der Aarinsel bei Thun, 1. Mai, 1802: Mein liebes Ulrikchen, ich muss meiner Arbeit einmal einen halben Tag stehlen, um dir Rechenschaft zu geben von meinem Leben; denn ich habe immer eine undeutliche Vorstellung, als ob ich dir das schuldig wäre, gleichsam als ob ich von deinem Eigenthume zehrte.

      Deinen letzten Brief mit Inschriften u Einlagen von den Geliebten, habe ich zu grosser Freude in Bern empfangen, wo ich eben ein Geschäft hatte bei dem Buchhändler Gessner, Sohn des berühmten, der eine Wieland, Tochter des berühmten, zur Frau, u Kinder, wie die lebendigen Idyllen hat: ein Haus, in welchem sich gern verweilen lässt. Drauf machte ich mit Zschokke und Wieland, Schwager des Gessner, eine kleine Streiferei durch den Aargau – Doch das wäre zu weitläufig, ich muss dich überhaupt doch von manchen andern Wunderdingen unterhalten, wenn wir einmal wieder beisammen sein werden. – Jetzt leb’ ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluss des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, ¼ Meile von der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemiethet u bewohne es ganz allein. Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der andern Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht u auswirft. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirthschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli. Mit der Sonne stehn wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu euch; dann essen wir zusammen; Sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, u nach der Andacht kehren wir beide zurück. Weiter weiss ich von der ganzen Welt nichts mehr. Ich würde ganz ohne alle widrigen Gefühle sein, wenn ich nicht, durch mein ganzes Leben daran gewöhnt, sie mir selbst erschaffen müsste. So habe ich zum Beispiel jetzt eine seltsame Furcht, ich mögte sterben, ehe ich meine Arbeit vollendet habe. Von allen Sorgen vor dem Hungertod bin ich aber, Gott sei dank, befreit, obschon Alles, was ich erwerbe, so grade wieder drauf geht. Denn, du weisst, dass mir das Sparen auf keine Art gelingt. Kürzlich fiel es mir einmal ein, u ich sagte dem Mädeli: sie sollte sparen. Das Mädchen verstand aber das Wort nicht, ich war nicht im Stande ihr das Ding begreiflich zu machen, wir lachten beide, u es muss nun beim Alten bleiben. – Übrigens muss ich hier wohlfeil leben, ich komme selten von der Insel, sehe niemand, lese keine Bücher, Zeitungen, kurz, brauche nichts, als mich selbst. Zuweilen doch kommen Gessner, oder Zschokke oder Wieland aus Bern, hören etwas von meiner Arbeit, u schmeicheln mir – kurz, ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine grosse That. Denn das Leben hat doch immer nichts Erhabneres, als nur dieses, dass man es erhaben wegwerfen kann. – Mit einem Worte, diese ausserordentlichen Verhältnisse thun mir erstaunlich wohl, und ich bin von allem Gemeinen so entwöhnt, dass ich gar nicht mehr hinüber mögte an die andern Ufer, wenn ihr nicht da wohntet. Aber ich arbeite unaufhörlich um Befreiung von der Verbannung – du verstehst mich. Vielleicht bin ich in einem Jahre wieder bei euch. – Gelingt es mir nicht, so bleibe ich in der Schweiz, und dann kommst du zu mir. Denn wenn sich mein Leben würdig beschliessen soll, so muss es doch in deinen Armen sein. – Adieu. Grüsse, küsse, danke Alle. Heinrich Kleist.

      N. S. Ich war vor etwa 4 Wochen, ehe ich hier einzog, im Begrif nach Wien zu gehen, weil es mir hier an Büchern fehlt; doch es geht so auch u vielleicht noch besser. Auf den Winter aber werde ich dorthin – oder vielleicht gar schon nach Berlin. – Bitte doch nur Leopold, dass er nicht böse wird, weil ich nicht schreibe, denn es ist mir wirklich immer eine erstaunliche Zerstreuung, die ich vermeiden muss. ln etwa 6 Wochen werde ich wenigstens ein Dutzend Briefe schreiben.

      Quelle: An Ulrike von Kleist (Brief Nr. 68). In: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke, Band 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. Herausgegeben von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns. Frankfurt am Main: © Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 305–307.

      Mary

      Godwin &

      Percy Bysshe

      Shelley

      London —

      Dover —

      Calais —

      Paris —

      Neuchâtel —

      Aarberg —

      Sursee —

      Luzern —

      Brunnen —

      Luzern —

      Laufenburg —

      Rheinfelden —

      Basel —

      Breisach —

      London

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      Blick auf Brunnen, im Hintergrund Rigi-Hochfluh. Hier wollten sich Mary Godwin und Percy Bysshe Shelley im Sommer 1814 niederlassen. Kolorierte Aquatinta, gezeichnet von Johann Jakob Wetzel (1817).

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