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kann. So etwas lernt sie nicht in der Schule.«

      Tahnee hatte keine Angst. Sie vertraute ihrem Großvater, der der beste Bootsführer auf dem ganzen Atoll war. Doch nicht nur das: Neben ihrer Großmutter war es der Großvater, zu dem sie die engste Beziehung hatte. Nach dem Tod von Tahnees Tante hatten die Eltern Tahnee, die gerade erst ein Jahr alt war, nach Lakena gebracht, damit sie, wie es Tradition war, ihre Großeltern über den Verlust ihrer eigenen Tochter hinwegtrösten sollte. Sie war bei ihnen aufgewachsen, bis sie wie viele Schüler Nanumeas mit 14 Jahren auf die Internatsschule nach Vaitupu kam, einer 345 Kilometer entfernten Insel, um dort die weiteren Klassen zu besuchen.

      Und jetzt war der Großvater irgendwo da draußen auf dem weiten Meer verschwunden. Tränen liefen Tahnee über das Gesicht. Sie wollte so gerne glauben, was Petala gesagt hatte, aber sie wusste auch, dass es nach einem solchen Sturm mit Monsterwellen keine große Hoffnung mehr gab.

      Endlich hatte sie Lakena erreicht. Sie zog ihr Boot ein Stück den Strand hinauf, in sicherer Entfernung zum Haus ihres Onkels Wawe, das am Rande des Dorfes lag. Sonst führte ihr erster Weg immer dorthin. Sie wusste, dass sie willkommen wäre und zum Essen eingeladen würde. Aber sie wusste auch, dass er sie dann im Dunkeln nicht mehr zu ihrer Großmutter lassen würde, die eine halbe Stunde Fußweg entfernt am anderen Ende der Insel lebte.

      Der einzige Weg dorthin verlief mitten durch das Dorf und dann weiter durch den Dschungel. Überall vor den Häusern flackerten die Holzkohlefeuer, sie hörte die lachenden Stimmen von Menschen, die beim Essen zusammensaßen. Nur einige Hühner und Schweine liefen noch herum.

      Eine Straßenbeleuchtung gab es auf Lakena nicht und zum Glück schien auch der Mond nicht, sodass Tahnee unbemerkt durch das Dorf schleichen konnte.

      Nachdem sie das letzte Haus passiert hatte, schaltete sie ihre Lampe wieder ein. Vorbei an Brotfrucht-, Pandanusbäumen und Kokosnusspalmen führte der Sandweg ins Innere der Insel. Etwas weiter Richtung Südstrand stand das Haus der Großeltern, das noch ganz im traditionellen Stil auf Pfählen und mit einem Dach aus Pandanusblättern gebaut war. Es war nach allen Seiten offen, sodass der Wind hindurchwehen konnte. Das machte das Leben bei großer Hitze angenehmer als in dem Haus aus Zement und Wellblech, das der Vater vor einigen Jahren für die Familie auf Nanumea gebaut hatte. Am Dach waren kunstvoll geflochtene Matten befestigt, die man herunterlassen konnte, um Schatten zu bekommen und den Regen abzuhalten.

      So hatte das Haus zumindest bei ihrem letzten Besuch vor einer Woche noch ausgesehen. Jetzt lag einer der großen Kokosnussbäume, die das Haus umgaben, quer über dem Dach und hatte es unter seinem Gewicht zerdrückt. Die dicken Holzbalken waren zersplittert, als wären sie dünne Zweige, die Plattform, auf der das Haus gebaut war, lag in mehrere Teile zerbrochen darunter.

      Tahnee stand für einen Moment regungslos da. Es war alles noch schlimmer als erwartet. Von dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, war nicht viel übrig geblieben. Es würde ein neues Haus gebaut werden, vielleicht sogar größer und schöner als das alte, nur ohne die vielen Erinnerungen, die in jeder Ecke des alten Hauses gewohnt hatten.

      3

      Die Großmutter stand allein an der Feuerstelle vor der Kochhütte und rührte in einem ihrer großen Töpfe. Als sie Tahnee sah, lächelte sie. »Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte sie und umarmte Tahnee.

      Früher hatte es Tahnee manchmal erschreckt, wenn die Großmutter Dinge zu wissen schien, die sie eigentlich gar nicht wissen konnte. Sie besaß die Kraft ihrer Vorfahren, in die Zukunft zu sehen.

      Tahnee klammerte sich an ihre Großmutter und fing an zu weinen. Lange standen sie da, fest umschlungen, bis Tahnee sich losmachte. Schließlich war sie hergekommen, um die Großmutter zu trösten. »Morgen kommen sicher auch Vater und Petala, um dein Haus wieder aufzubauen«, sagte sie, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht rieb.

      Großmutter nickte. »Gut so. Ich hoffe, auch dein Onkel Wawe und die Leute vom Dorf werden kommen, damit es schneller geht. Denn ich werde hierbleiben. Hier ist mein Zuhause, auch wenn Großvater nicht mehr zurückkommt.«

      Tahnee schluckte. Dann riss sie sich zusammen und versuchte, sich und ihrer Großmutter Mut zu machen. »Er kennt das Meer und vielleicht befindet er sich längst an Bord eines dieser großen Fischfangboote. Er …«

      Die Großmutter schaute sie an. »Wir wissen doch beide, dass sein Boot nur eine winzige Kokosnussschale war, mitten in den Wellen, so hoch wie der Kirchturm in eurem Dorf«, sagte sie leise. »Aber du hast recht, man soll die Hoffnung nie aufgeben.«

      Schweigend saßen sie anschließend am Feuer und aßen Großmutters paw paw, ein Bananenbrei, der hier bei ihr am besten schmeckte.

      »Lass uns schlafen gehen«, meinte die Großmutter nach dem Essen. »Die Männer werden morgen sehr früh hier sein und wir müssen die Mahlzeiten für sie vorbereiten.«

      Sie hatte bereits einige der Schlafmatten aus dem zerstörten Haus in die Kochhütte getragen und so schliefen sie eng aneinander gekuschelt auf dem Boden ein.

      Am nächsten Morgen wachte Tahnee vom Gegacker der Hühner auf, die draußen frei herumliefen. Die Großmutter bereitete vor der Kochhütte das Frühstück vor und graue Rauchwolken zogen zu Tahnee herüber. Tahnee sprang auf, schöpfte Wasser aus dem Eimer neben der Regentonne und wusch sich das Gesicht.

      Dann nahm sie eine der leeren Kokosnussschalen und kletterte auf den Kokosnussbaum neben dem Haus, so wie sie das seit Jahren jeden Morgen machte, wenn sie hier war. Großvater hatte Stufen eingeschnitzt, sodass Tahnee schnell vorankam bis zur Spitze in zehn Metern Höhe. Dort hing eine ausgehöhlte Kokosnussschale, die den toddy genannten weißen, dickflüssigen Saft aus der eingeritzten Rinde auffing. Großmutter machte daraus Marmelade oder, wenn er gegoren war, Palmwein für die Erwachsenen.

      Nach einem schnellen Frühstück, zu dem es neben den Resten vom gestrigen Abendessen Großmutters neuen Lieblingssalat aus Tomaten und Zucchini gab, machten sie sich auf den Weg zum Grundstück der Familie.

      Jede Familie auf dem Atoll besaß hier auf Lakena ein Grundstück mit Obstbäumen und pits, riesigen mit kompostierter Erde aufgefüllten Gruben. Sie waren über Generationen ausgeschachtet worden bis zur Süßwasserlinse hinunter, die unterhalb der Insel lag, und waren der kostbarste Besitz einer Familie. In diesen pits wurden Taro und Pulakaknollen angepflanzt, die zu jeder Mahlzeit gehörten.

      Als Tahnee und ihre Großmutter die pits erreichten, trafen sie auf Tahnees Urgroßonkel, der mit seinem Sohn Malaki gekommen war, um ebenfalls beim Hausbau zu helfen.

      Tahnee zuckte zusammen, als Malaki so plötzlich vor ihr stand. Seit dem Sturm war nicht eine Minute vergangen, in der sie nicht an ihn gedacht hatte. Ging es ihm gut? Hatte er sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können? Und nun stand Malaki da und lächelte sie an. Am liebsten wäre sie zu ihm gelaufen und hätte ihn in den Arm genommen. Malaki, der das wohl ahnte, schüttelte warnend seinen Kopf. Darum nickte sie ihm nur kurz zu und begrüßte dann ihren Urgroßonkel, der aufgeregt auf die Großmutter einredete und sie kaum beachtete.

      »Das Wasser in den pits ist salzig geworden. Salzig wie das Meer!«, sagte er.

      »Es ist immer ein bisschen salzig. Die Pulakas vertragen das«, meinte Großmutter.

      Aber er schüttelte den Kopf. »Es ist zu viel Salz. Das Meerwasser steigt jetzt schon durch den Boden bis nach oben. Wenn das so weitergeht, werden alle Pflanzen sterben. Und was essen wir dann? Schau dir die Bananen an!« Er zeigte auf eine große Staude, bei der sich die Spitzen der Blätter bereits braun gefärbt hatten. »Man kann ihnen beim Sterben zusehen, so schnell geht es.«

      »Ich bin froh, dass ich meinen neuen Gemüsegarten habe«, sagte die Großmutter und lächelte Tahnee zu. Tahnee hatte ihr schon in den letzten Ferien aus dem Schulgarten Setzlinge von Tomaten, Bohnen, Salat und Zucchinis mitgebracht. Gemeinsam mit Onkel Wawe hatten sie ein Hochbeet gebaut, wo Großmutter ihr Gemüse nun salzfrei mit Regenwasser aus der Tonne züchten konnte.

      Während der Urgroßonkel Großmutters kleinen Handwagen

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