Скачать книгу

abbrachen.

      In die Stille hinein begann Tahnees Mutter zu singen, andere Frauen aus ihrem Kirchenchor fielen ein. Schließlich sangen alle, Stunde um Stunde gegen die Angst. Auch Tahnee sang, bis sie heiser war. Tupou schlief friedlich auf ihrem Schoß.

      Irgendwann wurde es ruhig in der Kirche. Auch Tahnee war eingeschlafen und wachte erst wieder auf, als ihre Mutter sie an der Schulter schüttelte. »Es ist vorbei!«, sagte sie.

      Draußen schien die Sonne, ein leichter Wind wehte winzig kleine Wellen ans Ufer und der Himmel war wolkenfrei, so als hätte es die letzte Nacht nicht gegeben.

      Gemeinsam mit den anderen machte Tahnee sich auf den Weg nach Hause durch kniehoch stehende Pfützen, in denen das Meerwasser in schlammigen Blasen aus dem Boden quoll, vorbei an umgestürzten Kokospalmen, die einige der Häuser beim Fallen zerdrückt hatten.

      Ihr Haus stand noch, aber das Wellblechdach war davongeflogen, die Regentonne mit dem kostbaren Wasser umgekippt. Der Vorrat an getrockneten Kokosnussschalen an der Feuerstelle vor dem Kochhaus war durchgeweicht, sodass sie mit dem Kochen warten mussten, bis die Sonne die Schalen getrocknet hatte. Im Haus war alles nass und durcheinandergewirbelt worden.

      Tahnee seufzte. Die Aufräumarbeiten würden wieder mehrere Tage dauern. Während ihr großer Bruder Petala und der Vater sich auf die Suche nach dem Wellblechdach machten, half Tahnee der Mutter im Haus.

      Sie arbeiteten schweigend, jede wusste genau, was zu tun war. Es war nach jedem Sturm dasselbe. Auch ihre Gedanken gingen in die gleiche Richtung: Wie ging es den anderen aus der Familie? Den Großeltern, Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen und ihren Familien, die in den Dörfern auf den drei anderen bewohnbaren Inseln des Atolls lebten. Das Telefonnetz war kaum ausgebaut, kaum einer der sechshundert Einwohner von Nanumea besaß einen Anschluss und so gab es keine Möglichkeit, sie schnell zu erreichen.

      »Hoffentlich ist niemand schwer verletzt«, meinte die Mutter leise und seufzte. Das einzige Krankenhaus des gesamten Inselstaates Tuvalu, zu dem Nanumea gehörte, befand sich in in der Hauptstadt auf dem vierhundertsechzig Kilometer entfernten Atoll Funafuti. Eine Flugverbindung gab es nicht und das nächste reguläre Schiff lief Nanumea erst in drei Wochen an. So blieb nur die kleine Krankenstation, die aber Schwerverletzte nicht versorgen konnte.

      »Sie hätten Boten geschickt, wenn einer von ihnen verletzt wäre.« Tahnee umarmte ihre Mutter. Sie wusste genau, woran sie dachte. Es waren diese Bilder im Kopf, die nach jedem Sturm wie ein immer wiederkehrender Albtraum zurückkamen: Kurz nach Tahnees Geburt hatte eine Monsterwelle die jüngste Schwester ihrer Mutter gegen einen Baum geschleudert. Das Rettungsschiff konnte wegen des Sturms und des hohen Seegangs nicht aus dem Hafen der Hauptstadt auslaufen, doch es wäre ohnehin zu spät gekommen.

      Auf Nanumea, der Hauptinsel des Atolls, auf der Tahnees Dorf lag, hatte es zum Glück diesmal keine Toten gegeben, nur einige leicht Verletzte. Sie hatten es alle überlebt, aber die Angst vor dem nächsten Sturm, der so sicher kommen würde wie Ebbe und Flut, blieb und wurde mit jedem Sturm größer.

      2

      »Der große Kokosnussbaum ist auf Großmutters Haus gefallen!« Mit dieser Nachricht kam Petala am Tag nach dem Sturm aus Lakena zurück. Der Vater hatte ihn auf die kleine Insel am Rande der Lagune geschickt, um zu sehen, wie es den Eltern von Tahnees Mutter und der Familie ihres Bruders ergangen war.

      Die Mutter schrie erschrocken auf.

      »Sie lebt«, beruhigte Petala sie, »Onkel Wawe hat vorgeschlagen, dass Großmutter zu ihm zieht, aber sie will einfach nicht.«

      »Das verstehe ich nicht!«, sagte Tahnee. »Warum soll sie denn zu Onkel Wawe ziehen? Warum baut ihr das Haus nicht einfach wieder auf? Das habt ihr sonst auch immer gemacht! Was sagt Großvater denn dazu? Soll der auch umziehen? Das wird er bestimmt nicht machen!«

      Petala schwieg und schaute erst die Mutter, dann den Vater an. »Großvater ist vor zwei Tagen zum Fischen aufs Meer gefahren …«

      Entsetzt starrten ihn alle an.

      »Er … er ist nicht zurückgekommen … noch nicht. Ich meine … er ist vielleicht auf einer Insel gestrandet …« Petala versuchte verzweifelt, seiner Nachricht das Schreckliche zu nehmen. »Vielleicht hat er den Sturm kommen sehen und hat sich in Sicherheit gebracht …«

      »Hoffen wir das Beste!«, meinte der Vater. »Aber wir alle wissen doch, dass es da draußen weit und breit keine Inseln gibt!«

      Tahnee hatte mit weit aufgerissenen Augen und starr vor Entsetzen zugehört. Doch plötzlich schob sie ihren Bruder beiseite und rannte aus dem Haus, die Treppe hinunter mitten in eine Riesenpfütze hinein.

      Das Wasser spritzte nach allen Seiten. Um sie herum kreischten ihre beiden jüngeren Brüder mit ihren Freunden vor Freude, hüpften in der Pfütze herum und bespritzten sie. Sie schubste sie aus dem Weg und rannte weiter bis zu einem kleinen Seitenpfad, der zur Lagune führte. Hier am Ufer lag ihr Kanu.

      Tahnee stieg ein und paddelte, so schnell sie konnte, in die Mitte der Lagune. Dort setzte sie ihr Segel. Sie musste sich beeilen. Wenn die Sonne unterging, würde es schlagartig dunkel werden. Dann war es zu gefährlich, noch bis zur Großmutter nach Lakena zu segeln. Außerdem hatte die Ebbe schon eingesetzt und bald würden überall in der Lagune kleine Felsen aus Korallen herausragen, die man bei Nacht leicht übersah.

      Der Wind war günstig und sie kam gut voran. Trotzdem ging die Sonne unter, bevor sie auch nur die halbe Strecke geschafft hatte. Sie holte aus ihrem Boot eine Lampe, band sie sich um den Kopf und segelte vorsichtig weiter, angestrengt auf das dunkle Wasser blickend.

      Wenn der Lichtschein auf einen Schwarm fliegender Fische traf, flogen sie erschrocken hoch. Einige der silbrigen Fische landeten sogar in ihrem Boot.

      Tahnee musste an ihren Großvater denken, der ihr das Auslegerkanu mit Segel vor sieben Jahren zu ihrem achten Geburtstag aus einem Brotfruchtbaum geschnitzt und ihr das Segeln beigebracht hatte.

      Mädchen bekamen eigentlich kein Boot, sie fuhren auch nicht zum Fischen aufs Meer. Aber dem Großvater war das egal. Er nahm sie sogar manchmal mit zu seinen Nachtfahrten, bei denen er auf die andere Seite des Korallenriffs fuhr, um fliegende Fische zu fangen.

      In diesen Nächten musste es stockdunkel sein, auch der Mond durfte nicht scheinen. Auf dem Motorboot befanden sich dann neben Tahnee und ihrem Großvater meist noch zwei weitere Männer aus dem Dorf. Großvater steuerte, während ein anderer am vorderen Ende des Bootes hockte – ausgestattet mit einem großen Netz und einem Helm mit einer starken Lampe. Der dritte saß in der Mitte des Bootes, ebenfalls mit einem Netz in der Hand.

      Tahnee kauerte auf dem Boden des Bootes und klammerte sich fest, während das Boot durch das Wasser flog. Die Lampe erschreckte die Fische, sodass sie in Scharen aus dem Wasser flogen, um dem Lichtkegel auszuweichen.

      Mit den Netzen wurden die fliegenden Fische eingefangen und auf den Boden des Bootes geworfen. Schon nach kurzer Zeit war Tahnee von zappelnden silbrigen Fischen umgeben. Manchmal landete auch einer mitten in ihrem Gesicht. Die schönsten Momente waren die, wenn Delfine auftauchten, um mitzujagen. Große, graue Schatten, die leise durch das Wasser flogen, dann in die Luft sprangen und dabei laut pusteten.

      Großmutter aber sah es nicht gerne, wenn Großvater sie mitnahm. Bei hohen Wellen konnten auch die besten Fischer leicht die Orientierung verlieren, da die Inseln sehr flach waren und nur wenige Meter aus dem Meer herausragten. Oder wenn dichte Wolken die Sonne oder die Sterne versteckten, mit deren Hilfe schon ihre Vorfahren über Tausende Kilometer ihren Weg durch das Meer gefunden hatten.

      Tahnee hatte das Lachen ihres Großvaters noch in den Ohren, mit dem er jedes Mal auf die Ängste seiner Frau antwortete. »Was soll schon passieren?«, sagte er. »Es gibt keinen auf der Insel, der das Meer besser kennt.«

      »Aber das Meer hat sich verändert«, erwiderte Großmutter dann. »Die Natur ist nicht mehr unser Freund. Wir verstehen sie nicht mehr so wie früher.«

      Großvater nickte dann immer. Er wusste, dass sie recht hatte.

Скачать книгу