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lokalen Gemeinschaft entworfen und andererseits, auf geistreiche und emotional ergreifende Weise, ein sexueller Missbrauch mitsamt seiner schwerwiegenden Konsequenzen geschildert (Kapitel KATJA). Brzozowski, dessen Verständnis von der Rolle der Arbeiterbewegung durch Georges Sorels Philosophie geprägt wurde, porträtiert französische Arbeiter:innen als eine „echte Elite von Menschen, le pur sang der modernen Gesellschaft“ (S. 94). Sie sind nicht nur selbstbestimmte politische Kämpfer:innen, sondern auch gebildet, tolerant, empathisch und – last but not least – frei von jeglicher Verbitterung und Ressentiments, was ihnen erlaubt ein wahrhaft glückseliges Leben zu führen. Die Idylle endet mit dem Ausbruch eines Skandals: Es wird bekannt, dass im lokalen Kloster Kinder missbraucht wurden. Die Empörung auf Seiten der Dorfbewohner:innen führt zu einem Ausbruch von Gewalt und zur Plünderung des Klosters unter der Führung von Katja Moroschkin, einer Exilantin, die vor ihrem sadistischen Mann aus Russland geflohen war. Die Problematik des Kindes- und Frauenmissbrauchs erlaubt Brzozowski mehrere Anspielungen auf Fjodor Dostojewskis Werke anzubringen, insbesondere auf die Romane Böse Geister (1873) und Die Brüder Karamazow (1880). In dem kurzen Fragment werden die Fragen angesprochen, die an den Großinquisitor oder Stawrogins Beichte denken lassen: Kindesmissbrauch und das Leid Unschuldiger als Argumente für den Atheismus sowie das akute menschliche Bedürfnis nach Wundern („Bringt euren Jesus heraus, er soll unsere Kinder wieder gesund machen. Wenn er es nicht kann, dann ist alles Lüge!“, S. 97). Den Text dominiert ein längerer Monolog von Katja (NB, lange Monologen sind für Brzozowskis Prosa charakteristisch), in dem sie die verübte sexuelle Gewalt mit einem Mordfall in Verbindung bringt. So wird die Situation von Frauen im Zarenreich, in dem Roman Flammen, vielschichtig thematisiert. In dem ausgewählten Fragment konzentriert sich Brzozowski insbesondere auf das lebenslange Trauma und die psychosomatischen Folgen einer Vergewaltigung:

      „Euch Männern wagt niemand so etwas anzutun: man kann euer Leben nicht so vollkommen, so bis in die tiefen Wurzeln hinein vergiften. Es ist, als verwandelte sich jeder Tropfen Blut zu Gift, als wäre jede Seelenfaser zertreten und in den Kot gezerrt. […] [W]erde ich jemals diese Erinnerung aus mir herausreißen können? Vergessen kann man das, was man selbst getan, nie aber das, was man mit uns gemacht hat, was in uns hineingewachsen ist. Das ist doch eine Erinnerung, das ist kein Gedanke, nicht etwas, was ich von mir werfen kann, das ist mein Blut, mein Ich.“ (S. 101)

      „Wisst ihr denn überhaupt, was Russland ist? Wisst ihr auch, dass hier ein Mensch, eine Idee nichts, gar nichts gilt? Dass wir alle Sklaven sind? […] Und wisst ihr, wie viele Tausende von Menschen Hungers sterben, wisst ihr, wie viele man zu Nikolaus‘ Zeiten totgeprügelt, wie viele man in Schlüsselburg lebendig eingemauert hat? […] Hier herrscht blinde Gewalt, Angst, Finsternis. Wenn man euch hängen wird, wird der Mob schreien, man soll euch vierteilen, wie er unter Obrutschews Galgen geschrien hat. Ihr wollt um Menschenrechte kämpfen für Tiere, und diese Tiere wird man auf euch hetzen, und sie werden euch in Stücke reißen.“ (S. 113)

      Als Illustration dieses Grauens schildert Netschajew die Situation der Frauen:

      „Ich komme aus der Welt der Verdammten. Dort leben die, die eure Welt zerstampft hat. Dort verkaufen Frauen ihren Leib und werden geschlagen. Hört ihr’s? Hört ihr’s? Frauen werden geschlagen. Es könnte doch eure eigene Schwester so geschlagen werden. Für einen lumpigen halben Rubel schleppt so ein besoffenes Tier sie in das Hinterzimmer einer Kneipe und schlägt auf sie los mit allem, was ihm nur in die Hand gerät, mit dem Stock, mit der Faust, mit dem Stiefelabsatz. Und ihr wisst, dass so eine geschändete, angespiene, grün und blau geschlagene Frau irgendwo, in einem verfaulten, stinkenden Winkel ein Kind haben kann? Und ihr wollt leben, wollt lernen, wollt denken? Solange auch nur ein Mensch in der Welt zugrunde geht, solange auch nur ein Menschenleben so in den Dreck gezerrt wird, solange verlohnt es sich nicht, zu leben. Nur ein Leben gibt es: den Kampf! Überall fließt Blut, überall Menschenblut. Mit rotem Blut sind die Bücher eurer Gelehrten geschrieben, und eure Gesetze mit den Tränen hungernder Kinder. Eure Tugend hat ihr Gewand vom Blut nicht reinwaschen können. Von Aas lebt eure Welt. Ihr wundert euch, dass ich so zu euch rede, dass ich keine glatten, feinen Worte habe. Nein, ich gehöre nicht zu euren Kreisen. Ich will nicht lernen, ich will mich nicht vervollkommnen, ich kenne nichts, nur den Kampf.“ (S. 114-115)

      Netschajew thematisiert in Brzozowskis Roman die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Frauen und prangert die Prostitution als eine Form der in Russland noch de facto existierenden Leibeigenschaft an. In seinen Augen fehlte eine solche ernsthafte Wahrnehmung der geschilderten Problematik linksliberalen Denker:innen, wie Alexander Herzen (1812-1870):

      „Die Seele eines Plantagenbesitzers hat dieser Mensch gehabt, wenn er schreiben konnte, eine Lorette [Prostituierte] habe mit Kalbskoteletten das gemeinsam, dass man sich an beiden ergötzen könne, aber nicht von ihnen reden dürfe. Eine Lorette war für ihn kein Mensch mehr, das war schon ein anderer, gefallener Mensch. Und da wollt ihr mir noch sagen, die seien nicht in Leibeigenen-Harems aufgewachsen? Einen Menschen mit Koteletten zu vergleichen!“ (S. 119)

      Obwohl Netschajew nur eine Nebenfigur ist, echoen seine Diagnosen durch den gesamten Roman, wenn auch zumeist auf subtilere Weise. Flammen schildert die Entwicklung eines Mitglieds der illegalen politischen Zirkel zu einem entschlossenen revolutionären Terroristen; im Verlauf des Romans mündet diese Radikalisierung in einer Rechtfertigung von Gewalt. Ein ganzes Kapitel (ORCIO –eine erneute Anspielung auf Krasiński; in der Ungöttlichen Komödie trägt der Sohn des Protagonisten diesen Namen) ist in der spezifischen Form einer Meditation des Haupthelden verfasst, die seine Empörung über die unerträglichen Lebensbedingungen in Russland und seine Enttäuschung über den ‚liberalen‘ (gewaltfreien) Weg zum Ausdruck bringt und mit dem Gefühl des modernen Unbehagens verknüpft wird. Seine umfassende Enttäuschung drängt den Protagonisten zu einer neuen Sinnsuche und weckt in ihm die Bereitschaf einen Terrorattentat zu verüben.

      So sehr verlogen ist der moderne Mensch, dass er sogar die eigene Freiheit nur durch Verrat erkaufen mag. Wir sehen es ganz klar, dass diese liberale Weltanschauung, die sich insgeheim den eigenen Triumph einzureden versucht, wenn die Gewalt unter unseren Schlägen erzittert, dass sie uns hetzen, verfolgen würde wie eine Meute Hunde, dass sie unsere Körper in gehässiger Weise zerfleischen würde. Knechte ihrer eigenen Feigheit, verhüllten sie ihr eigenes Elend mit Bastionen von Sophismen vor sich selbst. Sittlichkeit,

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