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rekapituliert das Mädchen. „Und Tante Hannah ist auch dein Kind. Und Onkel Mats.“

      „Richtig.“

      „Tante Hannah kann nichts sehen. Aber ich hab sie gern.“

      „Na klar, wenn jemand blind ist, kann man ihn ja trotzdem gernhaben. Hast du denn auch Mats gern?“

      Mia wiegt den Kopf und überlegt. „Ja, aber nicht so wie Tante Hannah“, antwortet sie schließlich.

      „Wenn dein Papa hier wäre, würdest du ihn sicher auch liebhaben.“

      „Weiß nicht. Ich kenne ihn ja nicht.“

      „Du hast ihn aber schon gesehen.“

      „Da muss ich aber noch sehr klein gewesen sein. Ich kann mich nicht mehr erinnern.“

      „Ja, das stimmt, da warst du noch ziemlich klein. Vielleicht zwei Jahre, oder zweieinhalb. Zu Mats’ Konfirmation war er das letzte Mal hier, und das ist jetzt zwei Jahre her.“

      Mia krault den Kater, und der knurrt behaglich.

      „Ich helfe Tante Hannah manchmal. Wenn sie was sucht, zum Beispiel. Weil sie’s nicht finden kann.“

      „Das ist sehr lieb von dir.“

      „Aber gehen kann sie alleine. Mit ihrem Stock, da fühlt sie immer, ob was im Weg ist. Sie kann auch ganz alleine mit dem Bus fahren. Wenn sie von der Arbeit kommt.“

      „Ja, sie weiß genau, wo es langgeht und was sie machen muss.“

      „Da könnte ich ihr gar nicht helfen. Weil ich nicht weiß, was man machen muss beim Busfahren. Aber sie weiß es.“

      Anette mischt Hackfleisch, weil sie Frikadellen braten will.

      „Du, Oma.“

      „Ja?“

      „Tante Hannah heißt Hannah, Mats heißt Mats – und wie heißt mein Papa?“

      „Florian heißt er. Er ist das älteste von meinen Kindern. Hat dir das deine Mama noch nicht gesagt?“

      „Nein. Sie hat mir nichts von ihm erzählt. Wenn ich sie frage, wird sie immer traurig. Darum frage ich sie nicht.“

      „Aber mich kannst du fragen.“

      Mia hebt den Kater hoch und drückt die Wange in sein Fell. „Dich hab ich lieb, Oma. Und Melanchton auch.“

      „Und deine Mama doch sicher auch?“

      „Ja, die auch. Und Tante Hannah. Und ein bisschen auch Mats.“

      Der Landwirt August Knabe tuckert mit seinem Traktor über den Acker. Als er aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung auf der Straße wahrnimmt, blickt er auf. Wer rast denn da so verrückt auf einer schmalen Landstraße, deren Asphalt auch schon ziemlich löchrig ist? Ein gelber Kleinwagen!

      Der Rentner Ottfried Lieb bleibt so plötzlich auf seinem Spaziergang stehen, dass sein Stock, den er gerade beim nächsten Schritt aufsetzen wollte, oben bleibt und ziemlich genau auf das gelbe Fahrzeug weist. Das Ding wird ja immer schneller! Das kann doch nicht gutgehen!

      Es bleibt ihm fast das Herz stehen, als er sehen muss, wie das Auto mit ungeheurer Wucht gegen den einzelnen Kastanienbaum kracht, der da am Straßenrand steht. Das Fahrzeug knautscht zusammen, einzelne Teile fliegen durch die Luft. Es scheint dem Rentner, als wäre diese Bewegung merkwürdig verlangsamt, so als sollte ein Beobachter die Szene auch richtig auskosten können. Erst einen Augenblick später kommt der Knall bei ihm an.

      Ottfried Lieb kann nicht mehr rennen, aber er beschleunigt seinen Schritt und kommt fast gleichzeitig mit dem Bauern Knabe an. Der springt vom Traktor und zieht sein Handy aus der Tasche. Er tippt 110 und spricht.

      Ottfried Lieb traut sich nicht näher heran. Man weiß ja, aus Filmen und so, dass solche Unfallautos plötzlich explodieren können. Wenn das auslaufende Benzin sich am heißen Motor entzündet.

      Knabe tritt neben ihn. „Das war kein Unfall!“, sagt er.

      „Wie?“

      „Das war kein Unfall. Das war Selbstmord!“

      „Meinen Sie?“

      „Wie der gerast ist!“

      „Die!“, verbessert Lieb. „Es ist eine Frau.“

      Knabe traut sich vorsichtig etwas näher hin. „Wenn sie noch lebt, müssen wir versuchen, sie herauszuholen. Falls der Wagen brennt.“

      „Sie lebt sicher nicht mehr! Nach dem Aufprall kann sie nicht mehr leben!“

      Knabe geht noch näher ran. „Nein“, bestätigt er, „da ist mit Sicherheit nichts mehr zu retten.“

      Er ist jetzt bei dem Auto und reißt an der Tür. Sie bewegt sich nicht. Dann geht er um das Fahrzeug herum und probiert es an der anderen Seite. „Ich helfe!“, ruft der Rentner und kommt auch. Aber auch mit vereinten Kräften können sie die Tür nicht öffnen. Das Auto wackelt nur ein wenig. Das bewirkt, dass der Kopf der eingeklemmten Frau hinter dem Steuer etwas zur Seite fällt.

      „Sie war nicht angeschnallt!“, stellt Lieb fest.

      „Die kenne ich!“, sagt Bauer Knabe. „Irgendwoher kenne ich die. Ist das nicht die – wie heißt sie? –, die Jenni, die das Kind vom ältesten Drostesohn hat?“

      „Ach ja, das kann sein“, murmelt Ottfried Lieb, der Rentner. Da hören sie auch schon die Sirene.

      Es sind nur ungefähr dreihundert Schritte von der Bushaltestelle zum Haus. Hannah ist hier schon tausendmal gegangen. Unterwegs grüßen einige Dorfbewohner, und Hannah ist stolz darauf, jede – oder fast jede – Stimme zu erkennen und mit Namen zurückzugrüßen.

      Als sie eben die zwei Stufen zur Haustür hinaufgehen will, kommt ihr jemand entgegen. „Guten Tag!“, grüßt eine Frauenstimme, dann entfernen sich die Schritte. Sie ruft „Hallo“ hinterher, steigt die Stufen hinauf und betritt das Haus.

      „Mama?“

      Mats antwortet aus dem Wohnzimmer: „Sie ist oben. Mit Mia. Es ist was Schlimmes passiert.“

      Hannah geht ins Wohnzimmer und setzt sich. „Was? Wer war das eben?“

      „Jenni ist tot!“

      Hannah zieht erschrocken die Luft ein.

      „Sie ist mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren.“

      „Ein Unfall?“

      „Die Polizei ist sich noch nicht sicher, ob es ein Unfall war, oder … oder Absicht.“

      „So ein Mist!“

      „Als ich aus der Schule kam, war die Polizei gerade da. Eine Polizistin ist mit Mia in einen anderen Raum gegangen, damit sie das nicht gleich mitbekommt. Im Moment ist Mama dabei, es ihr zu erklären.“

      Eine Weile sagt niemand etwas, dann meint Hannah: „Sie war depressiv. Sag ich mal so, als Laie. Ein Arzt würde es vielleicht anders ausdrücken.“

      „Ja, stimmt. Und es hat mit Florian zu tun. Nicht nur, aber auch.“

      „Sie hat immer noch darauf gehofft, dass er zurückkommt und sie heiratet.“

      „Hast du mit ihr drüber gesprochen?“

      „Ein paarmal“, nickt Hannah. „Allerdings ist sie auch schon immer etwas – wie soll ich sagen? – pessimistisch veranlagt.“

      „Gewesen.“

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