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immer verlaufen ist, uns allen wohnt die Fähigkeit zu innigen, authentischen Beziehungen inne, und sie lässt sich mit etwas Übung zum Leben erwecken, indem wir lernen, uns im gegenwärtigen Augenblick uns selbst und unserem Gegenüber bewusst zuzuwenden. Das ist in jeder Form von Beziehung möglich, in der sich die Beteiligten verbindlich darauf eingelassen haben, »zu bleiben«, freundlich zu sein und miteinander zu erwachen.

      Spirituelle Freunde zu haben, ist keine oberflächliche Annehmlichkeit. Es hilft uns, aus der Trance der Getrenntheit zu erwachen, die oft so tief ist, dass wir sie nicht bemerken. In bewussten Beziehungen werden die verschiedenen Schichten unserer Gefühle von Minderwertigkeit und Einsamkeit genauso beleuchtet wie die Wahrheit unserer Zugehörigkeit. Wir fangen an, mit dem Leiden der Welt mitfühlender und aktiver umzugehen. Wir entdecken, dass unsere wahre Gemeinschaft alle Lebewesen umfasst. Wenn wir uns in diese Zugehörigkeit zu dem Netzwerk des Lebens hinein entspannen und ihr vertrauen, erkennen wir das eine Gewahrsein, welches durch jedes Wesen strahlt. Unsere spirituellen Freunde ebnen uns den Weg zu der inneren Zuflucht der bedingungslos liebenden Präsenz.

      Das Tor des Gewahrseins

      Kurz nach seiner Erleuchtung machte sich der Buddha auf den Weg, seine Erkenntnisse anderen mitzuteilen. Die Menschen staunten über seine außergewöhnliche Ausstrahlung und seine friedvolle Präsenz. Ein Mann fragte ihn, wer er sei. »Seid Ihr ein himmlisches Wesen oder ein Gott?« – »Nein«, antwortete der Buddha. – »Seid Ihr ein Heiliger oder Weiser?« Wieder verneinte der Buddha. »Seid Ihr eine Art Magier oder Zauberer?« – »Nein.« – »Aber was seid Ihr dann?« Der Buddha antwortete: »Ich bin erwacht.«

      Ich erzähle diese Geschichte gerne, weil sie uns daran erinnert, dass spirituelles Erwachen – so außerordentlich es auch scheinen mag – eine den Menschen innewohnende Fähigkeit ist. Siddhartha Gautama (so lautete der Geburtsname des Buddha) war ein Mensch, kein Gott. Wenn Buddhisten zum historischen Buddha (der Name bedeutet »der Erwachte«) Zuflucht nehmen, lassen sie sich von einem Mitmenschen inspirieren, der seine innere Freiheit verwirklichen konnte. Genau wie wir erlebte Siddhartha körperliche Schmerzen und Krankheiten, und genau wie wir musste er sich mit inneren Konflikten und Widrigkeiten auseinandersetzen. Das Nachsinnen über sein mutiges Erforschen der Wirklichkeit und sein Erwachen zu einer zeitlosen und mitfühlenden Präsenz nährt in seinen Anhängern das Vertrauen, dass dieses Potenzial auch jedem von uns innewohnt.

      Auf dieselbe Art können wir dem Leben Jesu oder Lehrern oder Heilern anderer Traditionen nachspüren. Jeder spirituell erwachte Mensch hilft uns, darauf zu vertrauen, dass auch wir erwachen können.

      Eine Ahnung dieser äußeren Zuflucht kann uns auch durch zugewandte, weise Lehrer oder Mentorinnen zukommen. Meine sechsundachtzig Jahre alte Tante, eine Spezialistin für Bluterkrankungen bei Kindern, führt ihre Liebe zur Natur und ihre Entschlossenheit, Ärztin zu werden, auf eine Naturkundelehrerin zurück, die sie in der Mittelstufe hatte. Zu jener Zeit waren Frauen auf der medizinischen Hochschule eine Seltenheit, aber diese Lehrerin, eine Frau mit einem leidenschaftlichen Intellekt, vermittelte meiner Tante die wichtige Botschaft: »Vertraue auf deine Intelligenz und lass deiner Neugier freien Lauf!« Ein afroamerikanischer Freund von mir, der in Unternehmen Diversity-Trainings durchführt, ließ sich durch seinen Pfarrer inspirieren, der sich stark in der Bürgerrechtsbewegung engagierte und ein Vorbild an Großzügigkeit, Humor und Weisheit war. Ich selbst fand in meinem ersten Meditationslehrer Stephen Zuflucht: Seine große Liebe zur Meditation und seine sich ständig weiter entfaltende Klarheit und Güte trugen dazu bei, meine Hingabe an den spirituellen Weg zu erwecken. Wir reagieren auf unsere Mentoren, weil sie Qualitäten des Herzens und des Geistes, Qualitäten des Gewahrseins ansprechen, die wir bereits in uns tragen. Ihr Geschenk besteht darin, dass sie uns daran erinnern, was alles möglich ist, und es hervorrufen. In ganz ähnlicher Weise fühlen wir uns zu spirituellen Figuren hingezogen, die uns helfen, uns mit unseren inneren Qualitäten zu verbinden.

      Vor etwa zehn Jahren begann ich, mit einer einfachen, selbst entwickelten Meditation zu experimentieren. Ich rief die Präsenz der göttlichen Mutter (des heiligen Weiblichen) an und spürte dann innerhalb einer Minute oder so, wie mich eine strahlende Offenheit umgab. Ich stellte mir den Geist dieses erwachten Wesens vor und spürte dabei eine große Weite und Klarheit. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Herzen der göttlichen Mutter zu, und diese Offenheit füllte sich mit Wärme und Empfindsamkeit. Zum Schluss richtete ich meine Aufmerksamkeit dann nach innen, um zu erkennen, wie diese zartfühlende, strahlende, alles umfassende Bewusstheit in mir lebte. Ich spürte, wie mein Körper, mein Herz und mein Geist aufleuchteten, als ob der sonnendurchflutete Himmel jede Zelle meines Körpers durchdrang und durch alle Zellzwischenräume schien.

      Inzwischen habe ich erkannt, dass ich mit dieser Meditation die Bewegung von der äußeren zur inneren Zuflucht erforschte. Indem ich mich regelmäßig mit diesen Facetten heiliger Präsenz in mir verband, vertiefte ich mein Vertrauen in mein eigenes essenzielles Sein.

      Zu erkennen, wer wir sind, erfüllt unser menschliches Potenzial. Wir spüren intuitiv, dass wir mysteriöser und umfassender sind als das kleine Selbst, welches wir durch unsere Geschichten und unsere wechselhaften Emotionen erfahren. Wenn wir lernen, uns unserem Gewahrsein direkt zuzuwenden, entdecken wir den zeitlosen und wachen Zustand unserer wahren Natur. Diese innere Zuflucht zum reinen Gewahrsein ist die höchste Form unserer Heimkehr. Sie ist die Frucht jeder spirituellen Praxis und verleiht unserem Leben Schönheit und Bedeutung.

      Beginnen Sie, wo Sie sind

      Unabhängig davon, ob wir auf dem Weg schon viele Erfahrungen gesammelt haben oder ob er uns ganz neu ist: Immer wieder gilt es, für sich selbst herauszufinden, wo wir unsere Aufmerksamkeit zu diesem Zeitpunkt unseres Lebens am sinnvollsten hinlenken. Je nach Umständen, Temperament und vergangenen Erfahrungen erscheint uns die eine oder die andere der äußeren Zufluchten gerade günstiger oder zugänglicher. Manche Menschen blühen auf, wenn sie sich durch irgendeine Art spiritueller Gruppe unterstützt fühlen. Anderen hilft es, zu den wöchentlichen Kursen zu gehen, und wieder andere fühlen sich vielleicht zum Studium der klassischen buddhistischen Texte hingezogen. Wo auch immer Sie anfangen oder welcher Zuflucht Sie sich gerade zuwenden mögen, Sie können sich darauf verlassen, dass es für Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt der richtige Ort sein wird.

      Die größte Illusion über einen Weg der Zuflucht besteht darin, dass wir auf einem Weg irgendwohin seien, dass es darum ginge, ein anderer Mensch zu werden. Letztendlich liegt unsere Zuflucht nicht außerhalb von uns und nicht irgendwo in der Zukunft – sie ist immer und bereits hier. Wie Sie in den folgenden Kapiteln immer wieder sehen werden, lässt sich die Wahrheit nur in der Lebendigkeit des gegenwärtigen Augenblicks entdecken; lässt sich Liebe nur in diesem Herzen, hier und jetzt erfahren; und lässt sich Gewahrsein nur verwirklichen, wenn wir in die Wachheit unseres eigenen Geistes eintauchen.

       Geführte Besinnung

      Wir wenden uns der Zuflucht zur Wahrheit, der Liebe und des Gewahrseins zu, indem wir auf den Ruf unseres Herzens lauschen. Jenseits aller Meditationstechniken erweckt und befreit unseren Geist vor allem die Erinnerung an das, was uns am wichtigsten ist. Ich zitiere nochmals Zen-Meister Suzuki Roshi: »Das Wichtigste ist, sich an das Wichtigste zu erinnern.« Die meisten Menschen brauchen etwas Zeit und Aufmerksamkeit, um ihre tiefste Sehnsucht zu erkennen und sich damit zu verbinden. Es gilt vielleicht, etliche Schichten unmittelbarerer Wünsche und Ängste abzutragen, bevor wir zur Quelle gelangen, zum Licht reinen Strebens. Das Verkörpern dieser Sehnsucht wird zum Kompass des Herzens, der uns den Weg nach Hause weist.

       Setzen Sie sich bequem hin und nehmen Sie sich einen Moment Zeit, sich zu lösen und zu entspannen. Werden Sie sich mit empfänglicher Präsenz des Zustands Ihres Herzens gewahr. Fühlt es sich eher offen oder eher angespannt an? Spüren Sie eher Frieden oder eher Besorgnis? Zufriedenheit oder Unzufriedenheit? Wenn gerade etwas in Ihrem Leben vor sich geht, was Ihnen besondere Sorge bereitet oder Sie sehr beschäftigt, oder wenn einfach eine starke Emotion spürbar ist, nehmen Sie es wahr und lassen Sie es zu. Vielleicht bemerken Sie zuerst, dass Sie sich wünschen, Ihr Partner möge anders mit Ihnen umgehen. Vielleicht spüren Sie deutlich, wie sehr Sie eine besonders anstrengende Arbeit

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