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kollabieren wir sogar, was uns davor bewahrt, uns selbst beschützen zu müssen. Oder wir stürzen uns in Ärger, mobilisieren den Körper zum »Kampf«. Ärger ist also die »Kampf«-Reaktion des Körpers, unsere Verteidigung gegen Bedrohung. Der Ärger weiß nicht, ob die Bedrohung aus einer aktuellen Gefahr stammt oder aus alten, sich gefährlich anfühlenden Emotionen. Der Ärger weiß nur, dass man ihn zur Verteidigung gerufen hat, und ist bereit, den Feind zu bezwingen. Deshalb können Sie Wut auf Ihr Kleinkind haben, wenn es vom Hochstuhl aus ständig Essen hinunterwirft. Das ist keine vernünftige Reaktion, aber es sind alte Emotionen aus der Vergangenheit, die Ihre aktuelle Wut schüren.

      Indessen der emotionale Rucksack eine nützliche Metapher ist, gibt es natürlich keinen wirklichen Rucksack. Tatsächlich tragen wir jene alten unverarbeiteten Emotionen in unserem Körper, in dem, wie Ihnen jede Physiotherapeutin bestätigen kann, viele unbewusste Erinnerungen gespeichert werden. Leider bleiben jene alten Gefühle selbst dann nicht einfach an Ort und Stelle, wenn Sie gerade nicht getriggert werden. Daher erlebt sie der Körper als ungesunde Spannung oder Kontraktion. Aber zum Glück verfügt der Körper über Selbstheilungsmechanismen. Genauso wie eine Infektion an die Oberfläche steigt, damit sie geheilt wird, steigen aus demselben Grund verdrängte Emotionen auf.

      Manchmal genügt ein Gähnen, um festgehaltene Spannung, die zunächst als Furcht, Angst oder Sorge begann, zu entladen. Oder vielleicht ertappen wir uns dabei, wie wir über etwas herzhaft lachen, wodurch der Körper ebenfalls Stress abbaut. Manchmal bringt uns auch etwas zum Weinen, ohne dass wir dazu einen Bezug haben. Das baut selbst dann Stress ab, wenn wir nicht den ursprünglichen Grund für die Traurigkeit wissen. Oder wir provozieren regelmäßig einen Streit mit unserer Partnerin, damit uns das dabei hilft, die Verstimmung durchzuarbeiten, die wir mit uns herumschleppen, weil wir in der Kindheit gelernt haben, dass Streit mit geliebten Menschen schließlich zu befreienden Tränen führt. (Wäre es nicht ein grandioser Fortschritt für unsere Beziehungen, wenn wir lernen könnten, den Streit auszulassen und dafür sofort die Tränen zu vergießen?)

      Wie läuft das nun bei Ihrem Kind ab? Ihr Sohn kann sich

      in der Schule den ganzen Tag tadellos benehmen,

      aber dann zu Hause völlig ausflippen. Das geschieht,

      weil er über den Tag seinen emotionalen Rucksack mit

      Gefühlen gefüttert hat, als ihn ein anderes Kind geschubst

      hat, er es fast nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette geschafft

      hat oder ihn der Lehrer ausgeschimpft hat. Kommt Ihr

      Sohn dann nach Hause und fühlt sich sicher, setzt oft der

      Heilungsprozess ein und all jene tagsüber aufgestauten

      Gefühle steigen an die Oberfläche, damit sie geheilt werden.

      Aber diese Gefühlsüberschwemmung fühlt sich nun gar

      nicht gut an. Schließlich wurden die Gefühle ja in den

      emotionalen Rucksack gestopft, weil sie zum sofortigen

      Verarbeiten zu aufwühlend waren. Sie sind furchterregend.

      Nun, da sie an die Oberfläche steigen, sucht das Kind eine

      Verteidigungsstrategie. Angriff ist die beste Verteidigung.

      Also provoziert Ihr Sohn einen Streit mit Ihnen, um sich von

      den aufsteigenden schmerzhaften Gefühlen abzulenken.

      Er schaut Sie geradewegs an und bricht eine Familienregel

      oder brüllt Ihnen ins Gesicht. Verständlicherweise brüllen Sie

      zurück, da Sie angegriffen wurden. Als Antwort rüstet sich

      sein Körper zum Kampf. Da dies nun für die Verarbeitung

      aufgestauter Gefühle kein guter Zeitpunkt mehr ist,

      verschwinden diese wieder im emotionalen Rucksack, um ein

      anderes Mal geheilt zu werden. Krise gebannt – Ihr Kind muss

      jene schrecklichen Emotionen aus dem Rucksack nicht fühlen.

      Allerdings stecken Sie jetzt natürlich mit Ihrem Kind in einem

      völlig überflüssigen lautstarken Streit, was Ihnen beiden den

      Tag verderben kann. Außerdem ist der Rucksack Ihres

      Sohnes jetzt sogar noch voller und wird zu einem späteren

      Zeitpunkt erneut getriggert werden.

      Jegliche Emotion, die wir für die sofortige Verarbeitung zu verletzlich fanden, kann in unserem emotionalen Rucksack verschwinden. Angst in ihren verschiedenen Facetten, einschließlich sich gefangen, abgetrennt oder machtlos fühlen, erscheint uns so bedrohlich, dass sie sehr oft in den Rucksack zurückgedrängt wird. Dasselbe geschieht mit Trauer und Einsamkeit.

      Ärger befindet sich dagegen nicht im Rucksack. Er ist die Kampfreaktion des Körpers, also ist er eine Antwort auf Bedrohung, soll Sie mobilisieren und beschützen. Daher ist Ärger, obwohl er sich instinkthaft und absolut unmittelbar anfühlt, meist eine Sekundäremotion als Reaktion auf die Gefahr, dass verletzlichere Emotionen des emotionalen Rucksacks getriggert werden könnten. Natürlich können wir als Antwort auf echte aktuelle Bedrohungen, wie zum Beispiel einen Taschendieb, ärgerlich reagieren. Aber in unserem Alltag treffen wir relativ selten auf solche extremen Ereignisse. Je mehr wir unseren emotionalen Rucksack ausleeren, umso mehr erkennen wir, dass die meisten Alltags-Bedrohungen bestenfalls Gereiztheit rechtfertigen. Meistens triggert uns der emotionale Rucksack in den »Kampfmodus« zur Schlacht ums Überleben.

      Beachten Sie, dass der Streit mit Ihnen den emotionalen Rucksack Ihres Kindes nicht leert, genauso wenig, wie es den Ihren leeren würde, wenn Sie Ihr Kind anbrüllen. Die Kampfreaktion soll Sie vor Gefahr schützen, damit Sie sich zum Angriff rüsten können. Sie unterstützt Sie jedoch nicht darin, jene empfindlichen, verstörenden Emotionen unter dem Ärger zu fühlen. Doch nur so lässt sich der emotionale Rucksack entladen.

      Es wäre um so vieles leichter, wenn Ihr Kind einfach nach Hause kommen, um eine Umarmung bitten und sich darin ausweinen könnte, anstatt einen Streit zu provozieren, der schließlich in Tränen mündet. Dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie so etwas wahrscheinlicher wird. Doch sogar Erwachsene verhalten sich oft ähnlich schwierig. Wenn Angst oder Schmerz in unserem emotionalen Rucksack getriggert werden, brechen wir genauso in Wut aus, wie unser Kind uns einfach angreift, anstatt zu weinen oder uns zu erzählen, dass es sich vor etwas fürchtet. Leider haben viele von uns (einschließlich unsere Kinder) gelernt, dass man sich mit Ärger wirksam gegen das Fühlen all jener starken Emotionen verteidigen kann, die wir vermeiden; also stürzen wir uns auf Ärger, sobald wir eigentlich Angst oder Trauer spüren. Das ist ein Grund dafür, dass Eltern so schlecht vom Schreien loskommen.

      Aber was ist, wenn …?

      Wir haben uns bisher auf Sie und Ihre Fähigkeit zur Selbstregulation konzentriert, ohne uns dem Verhalten Ihres Kindes zuzuwenden. Wenn Sie – wie so viele Eltern – das Verhalten Ihres Kindes gewohnheitsmäßig über Ihren Ärger regeln, haben Sie vielleicht viele Fragen, die mit »aber was ist, wenn …?« beginnen. Wir wollen jene Fragen beantworten.

      »Aber was ist, wenn mein Kind meinen Ärger ›verdient‹?« Erinnern Sie sich daran, dass es kein Mensch je verdient, angeschrien zu werden, egal was Ihr Kind angestellt hat. Natürlich haben Sie Anspruch auf Ihren Ärger, aber es bleibt immer Ihr Ärger, und kein anderer ist dafür verantwortlich. Niemand sonst kann uns »ärgerlich« machen.

      »Aber was ist, wenn das Benehmen meines Kindes Disziplin erfordert?« Das Kind mag wohl Grenzen benötigen (und wir werden in Teil 3: »Coaching statt Kontrolle«, erörtern, wie man Kinder wirkungsvoll unterweist), aber jede Entscheidung, die wir im Ärger treffen, ist von Angst motiviert und nicht von Liebe. Sie werden viel effektiver eingreifen und Ihr Kind anleiten können, sobald Sie sich beruhigt haben. Ich garantiere Ihnen sogar, dass Sie dann den Fehltritt Ihres Kindes nicht annähernd so schrecklich

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