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Frühstück sitzen am Tisch gegenüber fünf junge Männer in Arbeitskleidung und unterhalten sich in einer mir unbekannten Sprache. Sie verabschieden sich beim Gehen höflich von der Wirtin, und ich frage sie anschließend nach der Herkunft dieser Männer. Es sind Letten, die in einer Fabrik in der Nähe arbeiten und hier wohnen. Sie kennt jeden mit Namen, und da sie offenbar stets die selbe Sitzordnung einnehmen, geht die Wirtin von Stuhl zu Stuhl und sagt: »Hier sitzt der … und hier der …«. So hat jeder leere Stuhl einen Namen. Ich komme mir vor wie bei Schneewittchen und den sieben Zwergen. Die fünf Letten sind bei dieser Wirtin sicherlich gut aufgehoben.

      Sie berichtet mir auch, dass es im Hunsrück – wie auch in Bayern – immer schwieriger wird, der zunehmenden Anzahl von Wildschweinen Herr zu werden. Sie finden in den Wäldern genügend Eicheln, und im Sommer machen sie sich in den Maisfeldern breit. Vor die Flinte geraten sie deshalb immer seltener, und so gibt es die auf der Speisekarte aufgeführte Wildschweinsülze schon seit längerem nicht mehr.

      Meinen Weiterweg habe ich im Navi programmiert, nur endet der auf der topografischen Karte verzeichnete Pfad, auf dem ich zahlreiche Wildschweinfährten sehe, irgendwann im Nichts. Da ich nicht wieder zurückgehen will, muss ich mich durch dichten, weglosen Fichtenwald kämpfen. Mit Hilfe des Navis und seines Kompasses komme ich schließlich auf einen guten Waldweg und bald auf eine Anhöhe mit weitem Rundblick. Irgendwo zwischen den Hügeln fließt der Rhein, von hier aus unsichtbar. An einer Wegkreuzung stehen zwei Wegweiser mit insgesamt elf Richtungsschildern. Darunter glücklicherweise eines, das zu meiner Zwischenstation zeigt, der Lauschhütte. Dort informiert eine große Tafel über das »Ökosystem Freileitungstrasse«. Der Binger Wald wird hier nämlich von Hochspannungsleitungen durchschnitten. Der zuständige Energieversorger hat dies zum Anlass genommen, darüber zu informieren, dass eine solche Trasse das Ökosystem nicht etwa zerstört, sondern dass die Natur sich hier ein neues Ökosystem geschaffen hat. Natürlich ist das Ganze sehr positiv dargestellt. Andererseits wird aber anhand einfacher Beispiel aufgezeigt, dass sich notwendige Infrastrukturbauten mit der Umwelt in Einklang bringen lassen. Ich halte diese Form der Unterrichtung der Allgemeinheit für eine gute Idee und ein nachahmenswertes Beispiel.

      Kurze Zeit später komme ich zum Salzkopf mit einem beeindruckenden Aussichtsturm, ganz aus Holzbalken gebaut. Er bietet einen Panoramablick über die Baumwipfel hinweg bis zur Eifel und zum Taunus. Auch ein Stück vom Rhein ist tief unten zu sehen.

      Das ist das Besondere am Rheinhöhenweg: Man geht Stunden lang durch tiefe Laubwälder und stößt dann immer wieder auf unerwartete, schöne Aus- und Fernblicke. Über die öfters unzulängliche Markierung muss ich nicht meckern, denn schließlich ist es mein primäres Ziel, den Weg der Nibelungen nachzugehen. Dass ich dabei den Rheinhöhenweg benutze ist reine Bequemlichkeit, denn sonst hätte ich eine eigene Route ausfindig machen müssen, die vielleicht nicht viel anders gewesen wäre.

      Wie ich da oben auf dem Turm stehe, fällt mir auch ein, wie leichtsinnig es eigentlich ist, meinen Rucksack mit allen Wertsachen unten liegen zu lassen. Jeder, der vorbeikommt, könnte mit ihm davonlaufen, und ich müsste von oben herab hilflos zusehen. Aber es gibt hier keine Räuber. Es gibt nicht einmal Wanderer, denn ich habe schon seit Tagen unterwegs keinen Menschen mehr getroffen.

      Der Wald wird hier offenbar stark forstwirtschaftlich genutzt, aber verrottende Eichenstämme am Wegesrand sollten es nicht sein! Mir will sich der volkswirtschaftliche Nutzen nicht erschließen, der darin liegen soll, stattliche Eichen zu fällen, die Äste zu entfernen, die Stämme aus dem Wald herauszuschaffen und auf gleiche Länge zu sägen, nur um sie anschließend auf einem Stapel verfaulen zu lassen. Hinzu kommt, dass Holz beim Verfaulen ebensoviel CO2 frei setzt wie der Baum in seinem Leben aus der Atmosphäre gebunden hat. Da hätte man die Eichen gleich verbrennen und die dabei entstehende Hitze nutzen können.

      Mein Gedankengang wird durch eine Bronzetafel an einem Findling unterbrochen, die zum Andenken an einen Waidmann vor über einhundert Jahren hier angebracht wurde. Woran mag der Jäger wohl gestorben sein? Ich verkürze mir die Zeit damit, mir verschiedene Todesarten auszudenken und beschließe endlich, dass der Jäger von einem waidwunden Hirsch zu Tode geforkelt wurde. Ich bin richtig stolz auf diesen Einfall, auf den Ludwig Ganghofer wahrscheinlich neidisch gewesen wäre. Wer Ganghofer nicht kennt: Der lebte in der Zeit, in der dieser Waidmann hier zu Tode kam, und hinterließ der Menschheit so bedeutsame Werke wie Der Edelweißkönig, Der Jäger von Fall oder Der Dorfapostel, um nur einige zu nennen.

      Vor dem Abstieg nach Bingen gibt es eine weitere Gedenktafel für einen Jäger. Diesmal ist die Todesursache angegeben: Er wurde 1920 »durch ruchlose Hand erschossen«. Das erspart mir, erneut eine Todesart erfinden zu müssen.

      In Sichtweite der tausendjährigen Drususbrücke überquere ich die Nahe und gelange so nach Bingen, wo ich direkt am Rhein ein Hotelzimmer bekomme. Da die Geschäfte noch offen haben, beschließe ich, mir bei einem Friseur einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt verpassen zu lassen. Als ich bezahle und der jungen Friseurin ein Trinkgeld gebe, bedankt sie sich zu meiner Verblüffung mit einem Knicks. Noch nie hatte eine Frau vor mir einen Knicks gemacht! In gehobener Stimmung verlasse ich das Geschäft und suche mir ein Gasthaus für ein frühes Abendessen.

      Ich bin jetzt zwölf Tage unterwegs. Eigentlich kein Grund, darauf besonders hinzuweisen. Wenn es nicht die Zahl Zwölf wäre, denn die kommt im Nibelungenlied so oft vor, dass es kein Zufall sein kann. So sieht es für mich jedenfalls auf den ersten Blick aus.

      Fast alle Strecken wurden innerhalb von zwölf Tagen zurückgelegt, sei es die Fahrt nach Island oder der Ritt von Pöchlarn nach Worms durch Rüdiger von Bechelaren. Und jeweils zwölf Recken begleiteten Siegfried und Dietrich von Bern. Also eine versteckte Zahlensymbolik im Nibelungenlied? Bei den zwölf Begleitern lässt sich das sofort verneinen. Man denke nur an die zwölf Apostel, die zwölf Liktoren, welche die römischen Konsuln begleitet haben, oder an Karl den Großen mit seinen zwölf Paladinen.

      Mit den Zeitangaben ist es auch einfach, denn die kann man ja überprüfen. Von Pöchlarn nach Worms sind es etwa siebenhundert Kilometer, was bei zwölf Tagen einen Tagesdurchschnitt von 58 Kilometern macht. Das wäre laut Norbert Ohler Reisen im Mittelalter die Tagesleistung eines sehr eiligen Reiters. Könnte man also gelten lassen. Wenn ich das Nibelungenlied richtig verstehe, haben Wärbel und Swemmel sogar die gesamte Strecke von Esztergom bis Worms in zwölf Tagen geschafft – das wären mehr als eintausend Kilometer. Joachim Fernau kommentiert dies in seinem Buch Disteln für Hagen ironisch mit den Worten: »Schade, dass diese Pferderasse ausgestorben ist.«

      Fußgänger kommen im Nibelungenlied nicht vor, wenn man von dem Kaplan absieht. Da muss ich schon auf die Sage von Walther und Hildegund zurückgreifen, die von Attilas Hof geflohen und zu Fuß unterwegs waren. Die Gegend um Worms erreichten sie nach vierzig Tagen, was einer Tagesleistung von knapp 27 Kilometern entspricht. Das ist sehr stramm aber nicht unmöglich, besonders wenn man von hunnischen Häschern verfolgt wird. Mal sehen, wie lange ich brauchen werde. (Ich kann es an dieser Stelle schon verraten: Ich habe 51 Tage gebraucht, musste aber auch nicht um mein Leben rennen)

      Fazit: Im Nibelungenlied scheint sich keine Zahlensymbolik zu verbergen, und ich kann mich an meinem zwölften Wandertag ohne schwerwiegende Gedanken zur Ruhe begeben.

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