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Bücher mit Bibliothekseinband. Sonst war alles blitzsauber. Aufgeräumt bis ins kleinste Detail.

      »Du lernst und lernst«, sagte Rakel lächelnd und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um sie ein wenig in Ordnung zu bringen.

      Tora nickte.

      »Biste allein hier?«, fragte Rakel vorsichtig.

      »Ja. Frau Karlsen ist über Ostern bei Verwandten.«

      Endlich konnte man ihre Stimme hören. Ganz konkret.

      »Und du? Du willst nich nach Haus, hab ich gehört?«

      »Hat die Mama dich geschickt?«

      »Nein, keineswegs! Ich hab in Breiland was zu erledigen. Ich hab mich selbst geschickt. Aber ich musste auch nach dir sehn.«

      Plötzlich fasste Rakel einen Entschluss. Ehrlich sein. Wenn sie durch diese Schale durchdringen wollte.

      »Aber ich hab den Brief gesehn, den du nach Haus geschrieben hast. Du gehst also nicht auf irgendeine Tour – eine Hüttentour, nicht wahr?«

      Tora starrte Rakel an. Das Gesicht, der Körper, aber vor allem die Augen spiegelten genau den Ausdruck wider, den Rakel bei Tieren gesehen hatte, wenn sie geschlachtet werden sollten. Sie schluckte.

      »Was ist eigentlich los, Tora?«

      »Nichts! Ich kann nur nicht. Es ist teuer und … Möchtste Kaffee?«

      Das Mädchen schien aus einer Art Trance zu erwachen. Sie erhob sich jäh und ging ein paarmal ziellos im Zimmer umher. Ein nervöser, geschäftiger Tanz. Auf der Suche nach dem kleinen Kaffeekessel, der auf dem Tisch mit den Schulbüchern stand. Rakel deutete schließlich darauf. Zwei rote Flecken erschienen auf Toras Wangen. Rakel sah, wie der Schweiß auf Stirn und Oberlippe ausbrach. Sie hielt sich zurück, damit Tora sich beruhigte. Erinnerte sich plötzlich an die Episode mit Ingrid, als sie ihr geradeheraus gesagt hatte, dass sie Henrik verlassen solle. Man sollte den Menschen nicht so viel sagen. Es wurde schnell zu viel für jemanden, der den Gedanken schon gedacht und ihn dann verworfen hatte.

      In mancherlei Hinsicht ähnelte Tora ihr selbst. Aber sie war trotzdem Ingrids Tochter, Ingrids Schande. Rakel war nie eines Menschen Schande gewesen.

      Tora war bereits auf dem Weg nach draußen, um Kaffeewasser zu holen. Rakel merkte, dass sie sich in ein gefährliches Gebiet hineingeschwatzt hatte. Das konnte alles so undurchdringlich machen, dass sie keinen Zugang zu dem Mädchen bekam.

      »Wirste dich Ostern hier amüsieren, wo du ja nicht nach Haus fahren willst?«

      »Nein … Ja, das heißt …«

      Tora stand mit dem Rücken zu ihr und brauchte lange, um die elektrische Kochplatte anzudrehen. Bald darauf zischte es unter dem Kessel. Sie stand gebeugt über der Platte und konnte nicht von dem Deckel mit dem roten Bakelitknopf loskommen.

      »Wisch den Kessel ab, Tora! Ich werd ganz nervös, wenn das Wasser dauernd auf der heißen Platte zischt.«

      Tora streckte mit einem Ruck den Nacken und nahm einen Lappen.

      »Ja«, sagte sie. Lange nachdem sie den kleinen Handgriff getan hatte.

      Es war schlimmer, als Rakel gedacht hatte.

      »Haste Liebeskummer, Tora?« Sie versuchte, ihrer Stimme einen warmen und behutsamen Klang zu geben, aber sie merkte selbst, wie hohl sie sich anhörte.

      »Nein.«

      »Erzähl mir, warum du nicht nach Haus willst. Es bleibt unter uns.«

      »Nein, alles ist in Ordnung.«

      »Etwas muss es doch sein. Das merken wir beide, deine Mutter und ich. Sogar der Henrik hat’s gemerkt.«

      Das Zittern begann gleichsam am Rocksaum. Pflanzte sich durch den kleinen Körper fort. Die Halsadern zeichneten sich plötzlich blau unter der Haut ab. Der Mund öffnete sich, und der eine Mundwinkel fiel herunter, als ob er sich ausgehakt hätte. Das Mädchen stand kerzengerade mit hängenden Armen da und zitterte.

      Rakel erhob sich und nahm sie in den Arm. Der Pullover war feucht. Schweiß strömte über das Gesicht, und sie wischte ihn zaghaft fort, wie Tränen. Die Haare kräuselten sich am Haaransatz und sahen wie frisch gewaschen aus.

      »Ich wart auf jemanden – verstehste …«

      »Auf wen wartest du denn?«

      »Auf eine, die was zu essen bekommen muss. Eine, die ihr Junges verloren hat.«

      »Eine, die … was?«

      Sie starrten einander in die Augen. Rakel wich aus.

      »Es ist eine Vogelmutter. Sie kann jederzeit kommen.«

      »Tora!«

      Der Raum schwankte um sie beide. Ganz langsam. Decke und Wände. Der Fußboden. Sie waren Spielbälle im leeren Raum des Herrn. Rakel streckte die Hand aus, aber niemand ergriff sie. Tora streckte die Faust aus, aber niemand ergriff sie. So war das nun einmal.

      Rakel schluckte und holte tief Luft, dann sagte sie sehr energisch: »Erzähl mir davon! Alles!«

      »Nein. Geh jetzt bitte.«

      Mit bittender Stimme. Wie Hasenpfötchen auf verharschtem Schnee.

      »Ich geh nicht! Erzähl mir absolut alles!«

      »Du sollst gehn!«

      »Nein!!!«

      Rakel verlor vollständig die Fassung und schüttelte das Mädchen heftig. Ließ sie plötzlich los und sah beschämt auf ihre Hände. Tora zog die Knie an und rutschte bis hinauf ans Kopfende, schlang die Arme um die Beine und verbarg das Gesicht. Wiegte sich sanft in ihrem eigenen Rhythmus hin und her. Hin und her. Von einer Seite zur anderen. Sie war eine Uhr. Ein Pendel, das die Minuten zwischen ihnen vorantrieb.

      »Ich werd den Doktor für dich holen. Tora, du bist ja wie von Sinnen.«

      Tora sah auf, mit wilden Augen. »Ich bin nicht wie von Sinnen. Ich werd auch brav sein. Ich werd alles tun, was du willst, wenn du nur nicht …«

      Das Kaffeewasser kochte über. Rakel stand auf, um es in Sicherheit zu bringen. Verschüttete mehrere Löffel Kaffee, als sie den Kaffee in den Kessel geben wollte. Hörte sich sagen: »Leg dich hin und ruh dich ein bisschen aus, Tora. Du bist müde. Ich trink derweilen meinen Kaffee hier hinten und schau in deine Bücher.«

      Rakel blieb am Fenster stehen und sah hinaus, ziellos. Sie stellte die gesprungene Tasse auf die Fensterbank. Das Nachmittagslicht war bläulich. Eine einsame Lärche bewegte unruhig ihre Zweige gegen etwas Unsichtbares. Irgendjemand musste vor langer Zeit ein Loch in die Erde gegraben und den Baum gepflanzt haben. Ihn behütet, ihn zum Wachsen gebracht haben. Wie zum Trotz gegen die Natur. Allzu nahe am Pol. Vielleicht lag es an der Stärke des Baumes. Vielleicht war es die schwarze, umklammernde Liebe der Erde zu den Wurzeln.

      Während sie die Lärche betrachtete, geschah es. Ein spröder Laut gegen die Fensterscheibe. Ein Picken. Einsam und von nirgendwoher, wie die Luft, die sie einatmete. Unglaublich, wie alles, womit wir uns umgeben, auf das Konto »Selbstverständlichkeit« geht!

      Eine Goldammer klammerte sich an die schmale Kante des Fensters. Breitete die Flügel aus und streckte den kleinen, krummen Hals vor. Klopfte. Herzschläge gegen eine kalte Fensterscheibe. Poch, poch, poch.

      Toras Gesicht glättete sich. Der Körper löste sich und war auf dem Sprung zum Fenster. Endlich hatte sie die Hände an den Fensterhaken. Der Vogel schwang sich einen Augenblick empor, als ob er das Ganze geplant hätte. Ein zitternder Propeller in der Luft. Tora öffnete das Fenster. Schnell. Als ob sie Übung darin hätte. Als ob sie die Haken geschmiert, alle Trägheit aus den morschen, winternassen Fensterrahmen entfernt hätte. Als ob das Leben genau auf diesen Augenblick eingestellt wäre. Sie ging zu der Brottüte, holte ein paar Brocken, kam zurück und legte sie vorsichtig auf das Fensterbrett. Der Vogel saß ruhig in der Lärche und wartete. Wartete? Konnte das möglich sein? Rakel bekam das sonderbare Gefühl, Zeugin

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