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Kriegsende und damit das Waffenstillstandsabkommen unterlaufend, führte D’Annunzio eine Gruppe Freischärler ins österreichische Fiume und hielt die Adria-Stadt mit seinem Trupp, der in eigens von ihm dafür entworfenen Uniformen auftrat, für mehrere Monate besetzt – ein Coup, der Mussolini später als Vorbild für seinen berühmten »Marsch auf Rom« diente und D’Annunzio 1924 den vom italienischen König verliehenen (erblichen) Adelstitel eines »Principe di Montenevoso« einbrachte.

      Kurzum, man trifft im »Il Vittoriale« auf Zeugnisse von Heldischem – etwas, das uns Deutschen aufgrund unserer eigenen Geschichte höchst suspekt erscheint, wobei für die Italiener offenbar nicht ausschließlich die Tat zählt, sondern vor allem die Pose, der Effekt. Ob das Ganze auch wirklich etwas bewirkt hat, ist demgegenüber weniger wichtig. (Ein glückliches Volk!, möchte man da aus hiesiger Sicht anfügen.)

      Was dies alles mit Franz Kafka zu tun hat? Schon Max Brod, der enge Freund und Nachlassverwalter, hat der gängigen Sicht auf Kafka als den Prototyp eines von Daseinsfremdheit, von Schuldgefühlen und vor allem von Angst bestimmten Autors widersprochen und Kafka statt dessen als einen durchaus dem Leben zugewandten Menschen beschrieben. Brod widersprach insbesondere der Auffassung, wonach Kafkas Denken und Handeln aus einer höchst säkularen, existentialistischen Weltsicht heraus entstanden sei, die tödliche Erkrankung daher möglicherweise von ihm sogar unbewusst-bewusst »herbeigesehnt« worden sei. Für Brod waren solche Deutungen nichts anderes als von außen aufgestülpte Theorien. Kafkas Werk liege vielmehr in erster Linie dessen religiöses Schuld- und Sendungsbewusstsein als Jude zugrunde, so sein Credo. Zumal in Prag habe der Deutsch schreibende Autor stärker noch als anderswo erfahren müssen, dass das Judesein und die damit verbundene Außenseiterstellung, egal wie sehr man um Anpassung bemüht sein mochte, sich unter keinen Umständen überwinden lasse. Wobei Max Brod, zeitlebens Zionist und schon von daher solcher Sichtweise zuneigend, an diesem Credo bis zuletzt festgehalten hat, ungeachtet der geradezu erdrückenden Gegenbeweise, auf die die Kafka-Forschung der 1950er und 1960er Jahre hingewiesen hat, solches Bild vom Autor und von der Person Franz Kafka vielfach korrigierend und ergänzend.

      Brod mochte daraufhin allenfalls einräumen, dass sich in Kafkas Werk durchaus auch anderes widerspiegele, von einer nihilistischen Weltsicht oder gar von Todessehnsucht jedoch könne bei ihm keine Rede sein, Kafka sei lediglich einer damals weitverbreiteten Krankheit, der Schwindsucht, zum Opfer gefallen. (Der Verfasser hatte im Jahr 1966 als Student in München das Glück, Max Brod anlässlich der Buchvorstellung seiner Reuchlin-Monographie zu begegnen, wobei er ihn auf Kafka anzusprechen suchte. Brod wiederholte dort seine These, dass Kafka demgegenüber eine dem Leben zugewandte Person gewesen sei. Und diese seine Antwort war ungemein überzeugend, da Brod selbst große Energie und Lebensfreude ausstrahlte.)

      Und in der Tat lässt sich vielleicht auch in diesem Fall der Wahrheit näherkommen, indem man davon ausgeht, dass in jedem Menschen neben dem Typischen gleichzeitig auch Untypisches angelegt ist, sich Charakterzüge finden, die im Widerspruch zu dem sonst so dominierenden Bild stehen. So scheint sich Kafka zwar in der Tat phasenweise stark mit religiösen Fragen beschäftigt zu haben, dies aber keineswegs durchgängig und in einem Maße, dass es sein Denken und Schreiben insgesamt beherrscht hätte. Ansatzweise ist wohl auch zu unterscheiden zwischen dem Tag-Menschen und dem Nacht-Menschen Kafka, wobei letzterer sowohl für dessen elementare Angst vor jeglicher Nähe oder gar Zugehörigkeit steht als auch für die beständige Suche hiernach.

      Für Max Brods These vom »positiven Kafka« spricht jedenfalls, dass dieser, ungeachtet seiner gewiss schwachen physischen Konstitution, häufiger gemeinsam mit dem Freund rudern und schwimmen ging, dass er sogar geritten und Motorrad gefahren ist, was zu jener Zeit ja nicht eben selbstverständlich war, ganz zu schweigen davon, dass Kafka in puncto Sexualität offensichtlich ein ausgesprochen aktiver und in seinem Begehren durchaus selbstbewusster Mann war. Zudem gilt es, zwischen dem Franz Kafka vor und nach der Erkrankung zu differenzieren, wobei wir es bei der Flugschau in Brescia mit dem noch jungen Kafka zu tun haben, der in Riva vor allem des Schwimmens wegen Ferien machte.

      In den vergangenen Jahren sind im übrigen im Rahmen der Kafka-Forschung zahlreiche neue, bislang unentdeckte Züge dieses Jahrhundertautors zutage getreten. So zum Beispiel, dass es in seiner Tätigkeit bei der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung dominant um industrietechnische Fragen und Probleme gegangen ist, Kafka also weit mehr als üblich mit technischen Dingen befasst war und nicht lediglich mit deren juristischer Behandlung. Oder dass er sich in der Beziehung zu Felice Bauer ausgesprochen intensiv mit den den Inbegriff technischer Neuheiten verkörpernden Stimmaufzeichnungsgeräten der Berliner Firma, bei der Felice beschäftigt war, befasst hat.2 Nicht zu reden davon, dass Kafka ein starkes Interesse fürs Kino hegte, wobei es ihm wohl weniger um dessen Inhalte ging als vielmehr um die technischen Aspekte des neuen Mediums.3

      All dies lässt eine Person erkennen, die in bezug auf die damals rasant um sich greifende Technisierung sowie die damit verbundenen Entwicklungen hin zu einer immer undurchsichtiger und fremd werdenden Massengesellschaft nicht nur deren verzerrende Bürokratien und Entfremdungen erkannte, sondern sich offenbar, und zwar dies mehr als bisher angenommen, geistig wie seelisch mitten in der Moderne verortet hat, der Kafka in der Tat, wie von Max Brod stets so beharrlich behauptet, »positiv« gegenüberstand, zumindest interessiert und offen, Neuem gegenüber durchaus und bewusst aufgeschlossen.

      Vor diesem Hintergrund gewinnt das Flugschau-Erlebnis von Brescia durchaus noch andere Facetten – etwa, dass der Besuch dort kein bloßer Zufall war und dass es möglicherweise eher Kafka gewesen ist, der die beiden Prager Freunde hierzu animiert hat – eine Vermutung, die angesichts der Erzählung »Die Strafkolonie«, in der Kafkas Technikbegeisterung durchscheint, durchaus schlüssig wirkt. Diese Technikbegeisterung teilt er wiederum durchaus mit D’Annunzio. Dem ging es zwar in erster Linie um den Effekt und erst danach um das eigentlich Technische. Doch beide muss das Ereignishafte der Brescia-Veranstaltung fasziniert haben, besaßen doch jene Flugschauen eine den heutigen Open-Air-Konzerten oder Autorennen vergleichbare Anziehungskraft. Was damals die 40.000 Zuschauer in Brescia waren, sind in unseren Tagen die 100.000 Motorsport-Fans in Hockenheim oder auf dem Nürburgring.

      D’Annunzio – und damit unterschied er sich von den Futuristen, die die Beschleunigung des Lebens und die Herausforderungen der Moderne enthusiastisch begrüßten – hatte in erster Linie die politische Aktion im Sinn, und dies in Wort und Tat. Lautstark plädierte er für eine an Nietzsche orientierte kulturelle Erneuerung Italiens, für die Wiederherstellung von Führertum, patriarchalischer Gewalt und absoluter Ordnung, kurzum für ein autoritäres Regime. Insofern erwies er sich bis zum Schluss als rückwärts gewandt, als ein reaktionärer Phantast und Vertreter eines heute kaum mehr erträglichen Ästhetizismus. Die Person, der Akteur D’Annunzio mag für die Italiener bewundernswert bleiben, hierzulande allerdings erscheint er als eher bizarre Figur, eine Art »Scharlatan«, als den ihn Bertolt Brecht bezeichnet hat.4

      Kafkas Werk hingegen hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Die glasklare Prosa sowie die eindringlichen und bedrohlichen Szenarien, die seine Texte uns liefern und die sich uns einprägen, sprechen noch immer ganz unvermittelt an. Keine Frage, sie sind auch weiterhin von geradezu elementarer Relevanz.

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