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um sich zu entwickeln, ist keineswegs verwerflich, ganz im Gegenteil. Was aber auffällt, ist die hemmungslose Neigung zur Selbstinstrumentalisierung, die dadurch zu entstehen droht. Der optimierte Mensch macht sich selbst zum Werkzeug, mit dem er seine Ziele verfolgt. Nicht die Selbstoptimierung als solche, sondern die Verstrickung ist das Problem. Wir verlieren in der Selbstoptimierung den eigenen Kompass.

      HG: Du hast Recht. Ich möchte mit meiner Kritik am Optimierungswahn auch nicht einer bloßen Bequemlichkeit das Wort reden. Es ist in jedem Fall notwendig, an sich zu arbeiten und sich selbst zu fordern, um das Beste geben zu können. Einen unbeteiligten Schongang möchte ich nicht heiligsprechen. Dennoch sehnen wir uns nach dem Punkt, wo wir uns nicht mehr krampfhaft selbst erfinden und vor anderen präsentieren müssen.

      Das letzte Gemälde Rembrandts, das sich bei seinem Tod 1669 fast fertig auf der Staffelei befand, trägt den Titel „Simeon und das Jesuskind“. Rembrandt war müde und erschöpft von der Misere seiner letzten Jahre. 1642 starb seine geliebte Frau Saskia. Das Einzige, was ihm blieb, war sein geliebter Sohn Titus, der jedoch 1668 mit 27 Jahren verstarb. Auf dem Bild liegt ein Baby auf den Armen des greisen Simeon, dessen Hände jedoch unter dem Kind hindurch nach etwas anderem zu greifen scheinen. Offensichtlich hat sich Rembrandt mit diesem Gemälde auf seinen eigenen Tod vorbereitet. Er hat in seiner Zeit die Möglichkeiten der Malerei unablässig optimiert und mit einer höchst erfolgreichen Werkstätte neue Maßstäbe künstlerischer Produktion gesetzt. In bitterer Armut beendet er sein Leben, aber reflektiert es mit dem biblischen Ereignis der „Darstellung des Herrn“. Er sieht sich im Bild des greisen Simeon, der sein Leben lang auf diese entscheidende Begegnung mit dem Messias gewartet hat: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du allen bereitet hast, ein Licht, das alle erleuchtet.“ (Lk 1,29f.) Ein lichtvoller Abschied, nicht wahr?

      ML: Ähnlich habe ich die ungeheure Erleichterung von Menschen erlebt, die endlich aus der Optimierungsnotwendigkeit aussteigen konnten. In erster Linie sind es Menschen, die gegen den Tod angekämpft haben und die, als sie erkannten, dass es keinen Sinn mehr hatte, nicht verzweifelt, sondern erstaunlich gelöst wirkten. Aber auch jenseits einer solch existenziellen Situation gibt es ähnliche Phänomene: Mir kommen zwei Personen vor das geistige Auge, die beide in ihren Firmen von Vorgesetzten gequält wurden, beide Führungskräfte, die den Optimierungsansprüchen ihrer Chefs kaum standhalten konnten. Als sie schließlich ihre Arbeit verloren, wirkten sie trotz der objektiv misslichen Situation entspannt und erleichtert.

      HG: Erleichtert, obwohl sie ein Opfer der üblichen Optimierungslogik wurden. Vielleicht ist gerade diese Niederlage für sie zur Chance geworden. Was zählt denn letztlich? Wir kennen allzu gut die Versuchung einer vorschnellen Abrechnung, einer „endgültigen“ Lebensbilanz. Sie ist gefährlich, denn sie fällt entweder übertrieben selbstherrlich aus oder ist durchwachsen von Vorwürfen gegenüber Personen und Institutionen, die uns aus unserer Sicht um einen optimalen Erfolg gebracht haben. Die anderen sind schuld, dass es nicht optimal gelaufen ist. Auch eine übertriebene Selbstanklage kann Resultat einer eigenmächtigen Lebensbilanz sein. Was bleibt, ist eine bittere Trostlosigkeit. „Alles umsonst!“ Der selbsterrechnete Saldo ist nicht zufriedenstellend. Darf ich ein typisches Beispiel aus dem Tiroler Umfeld nennen? Ein für heutige Ansprüche optimaler Tourismusbetrieb wurde mit höchstem Einsatz aufgebaut, aber niemand von der Nachkommenschaft hat Lust, ihn weiterzuführen. Die neue Generation setzt ihre eigenen Prioritäten. Ist deshalb alles umsonst?

      Das lateinische Wort für „umsonst“ lautet frustra. Frustrierte sind immer in Gefahr, entweder in ihrer selbstverliebten oder in ihrer selbstvernichtenden Bilanz stecken zu bleiben. Die wirklich relevante Lebensbilanz wird jedoch Gott ziehen. Das ist meine Überzeugung. In seiner nachhaltigen „Ökonomie“ geht nichts verloren. Nichts von dem, was wir an Herzblut und Lebensmühe investiert haben, war umsonst. Hundertprozentig wird sich „auszahlen“, was wir ohne Fixierung auf einen sichtbaren und sofort nachweisbaren Erfolg mit einer guten und ehrlichen Intention ausgesät und „investiert“ haben. Wie diese Lebenssaat letztlich aufgeht und die Früchte aussehen werden, wissen wir nicht.

       Bedrückende Verpflichtungen

      HG: Nicht wenige Menschen haben den Eindruck, dass sich ihr Leben nur mehr in einem Hamsterrad abspielt. Sie müssen strampeln und mitmachen, um nicht hinausgeworfen zu werden. Sie müssen funktionieren. Ein freies, selbstbestimmtes Mensch-Sein haben sie längst aufgegeben. Zunehmend fühlen sie sich ausgepowert und ausgebrannt. Jemand in Führungsverantwortung sagte zu mir: „Hermann, ich höre, dass du sprichst, aber ich kann nicht mehr erfassen, was du sagst. Ich schaffe es nicht mehr.“ Wenn ich an diesen Moment denke, fällt mir der leere Blick dieses Mannes ein, der in eine chronische Erschöpfung geschlittert ist. Trostlos, aussichtslos. Es hat eine lange Zeit gebraucht, bis er sich nach einer umfangreichen Burn-out-Therapie wieder erholt hat.

      ML: Verpflichtungen sind etwas, zu dem wir uns einspannen lassen oder uns selbst einspannen. Ich muss, statt ich will oder ich darf. Daher erleben wir Verpflichtungen als Mühe. Es ist notwendig, im Leben Verpflichtungen auf sich zu nehmen, daran besteht kein Zweifel. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass Verpflichtungen besonders viel Energie kosten. Wir sollten aus diesem Grund nur so wenig Verpflichtungen auf uns nehmen wie notwendig und so viele, wie wir uns und einander schuldig sind. Es ist wichtig, bei der Übernahme von Pflichten in engem Kontakt mit sich selbst zu sein. Wir brauchen das Innerste von uns selbst als Referenz in solchen Situationen.

      Ganz gegenteilig dazu verhalten sich Verantwortlichkeiten. Darin verbirgt sich schon rein etymologisch das „Antwort geben“. Wenn ich zum Beispiel einem hilfsbedürftigen Menschen antworte, indem ich ihm helfe, übernehme ich Verantwortung. Wenn ich einem hilfsbereiten Menschen antworte und mir helfen lasse, übernehme ich ebenfalls Verantwortung. Dieser Prozess beinhaltet ein Geben und Nehmen, was dazu führt, dass wir eine zumindest ausgeglichene, wenn nicht positive Energiebilanz haben. Verantwortung stärkt.

      Ich kann etwa eine Arbeit als Pflicht auffassen. Dann wird sie mir Mühe machen. Ich persönlich halte eher wenig davon. Ich glaube, Arbeit sollte nie in reine Pflichterfüllung ausarten. Das ist möglich, indem man Verantwortung übernimmt. Dann macht die Arbeit auch nicht immer Spaß, jedoch immer Freude.

      HG: Schön, wenn man das so sehen kann. Dennoch stellt sich bei vielen Beschäftigungen die beinharte Frage: Wozu der Aufwand? Im Weisheitsbuch Kohelet aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert beobachtet ein jüdischer Gelehrter das Tun seiner Zeit: „Ich sah mir das Geschäft an, für das jeder Mensch durch Gottes Auftrag sich abmüht.“ (Koh 3,10) Er stellt relativ emotionslos fest: „Alle Tage besteht das Geschäft des Menschen nur aus Sorge und Ärger und selbst in der Nacht kommt sein Geist nicht zur Ruhe.“ (Koh 2,23) Sein Befund ist ernüchternd, denn das meiste verdient nur die Bezeichnung „Windhauch, alles Windhauch!“. Ein trockener Klartext, der durchaus heilsam ist, vielleicht sogar ein wenig tröstlich im Gegensatz zu den übertriebenen Wohlstandsversprechungen unserer Zeit. Im dritten Kapitel, beginnend mit „Alles hat seine Stunde“ (Koh 3,1), wird alles aufgezählt, was dem Leben Charakter gibt – Gebären und Sterben, Krieg und Frieden, Umarmung und Trennung, Lieben und Hassen, um die wichtigsten Begriffspaare zu nennen. Schon in dieser Aufzählung liegt ein gewisses Moment von Tröstung, denn alles wird vergehen, auch das Bedrückende und Katastrophale.

      ML: Alles gehört zum Leben. Doch was bedeutet es, alles „auszuleben“, wie sich das Menschen in unserer Zeit so unbedingt wünschen? Es kommt, wie der von dir zitierte Kohelet sagt, ohnehin das Leben in seiner Fülle auf uns zu. Es heißt doch nicht, jede Möglichkeit zu nutzen! Denn auch wenn jede Möglichkeit genützt würde, versäumte man automatisch viel. Man kann einen Beruf ergreifen, vielleicht noch zwei, drei weitere, doch alle anderen bleiben einem versagt. Dasselbe gilt für die Wahl eines Partners. Wenn man einen hat, sind die anderen nicht verfügbar. So kann es also nicht gehen.

      HG: Wenn wir von bedrückenden Verpflichtungen sprechen, müssen wir unseren Blick weiten – ohne damit einzelne, subjektive Belastungen zu relativieren. Weltweit leiden unendlich viele Menschen unter extremen Arbeitsbedingungen. In Billiglohnländern

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