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macht verletzlicher und ist störungsanfälliger als eine dynamische Ordnung, in der Fehler und mangelhafte Zustände sein dürfen. Im Nicht-Perfekten, manchmal sogar im Chaos gibt es mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Ein sicherer Weg in die Trostlosigkeit ist der Wunsch, es allen recht zu machen.

      HG: Menschen arbeiten bis zum Umfallen, bleiben bis spät in die Nacht im Büro oder in der Firma. Wird das wirklich erwartet? Mit einem bewussten Weniger würden viele sich selbst und ihrem unmittelbaren Lebensumfeld wohl gerechter werden. Dahinter kann auch eine „Programmierung“ stecken. Vielleicht haben Eltern versucht, ihre ehrgeizigen Ziele, die sie selbst nicht erreichen konnten, mithilfe ihrer Kinder zu realisieren. Diesen wurde vermittelt, dass sie nur mit einem bestimmten Grad von Perfektion liebenswürdig seien. Meist wird jedoch gerade dadurch eine kreative Entfaltung der subjektiven Begabungen verhindert.

      ML: Die Hemmung der Kreativität zeigt sich auch in dem verzweifelten Gefühl, nie den eigenen Ansprüchen zu genügen. Wenn du einen Perfektionisten fragst, was eigentlich „perfekt“ ist, wird er es nicht sagen können. Sein Verhalten mutet zwanghaft an. Er kann nicht, wie es die Daoisten so schön ausdrücken, mit dem großen Wasser fließen, sondern möchte das Leben in seine vorgefertigte Fassung hineinzwängen. Damit verunmöglicht er jeden Entwicklungsspielraum.

      HG: Zum Leben gehören Störungen und Fehler – die vielen täglichen Ereignisse, die uns aufbauen, aber auch verletzen können. Wir sind Verursacher und Opfer unzähliger „Verwundungen“, und niemand geht ohne Schrammen und Verletzungen durchs Leben. Manche davon heilen wieder, andere bleiben unserer Seele eingeschrieben. Sie gehören zu unserer Biografie und machen unser ganz persönliches Profil aus. Sie anzunehmen macht uns menschlicher. Ich habe immer das Bild des auferstandenen Christus vor Augen, der den verängstigten Jüngern seine Wundmale zeigt. Genau daran haben sie ihn erkannt. Vor ihnen stand kein göttlicher Sunnyboy, der selbstherrlich über die Erde schwebt. Die sichtbaren Wunden, die ihm bei der Kreuzigung zugefügt wurden, haben ihr Vertrauen geweckt. Vielen ist die Diskussion rund um den „nackten Christus“ des Tiroler Bildhauers Rudi Wach bekannt. Die scheinbar provokante Kreuzesdarstellung auf der Innsbrucker Innbrücke hat jahrzehntelang für Wirbel gesorgt hat. Vordergründig haben sich die Leute an der Nacktheit gestoßen. Für mich schwer nachvollziehbar. Der eigentliche Skandal dieser Darstellung ist für mich das Fehlen der Wundmale. Ein Gekreuzigter ohne Wunden ist eine esoterische Lichtgestalt, die mit uns Menschen letztlich nichts zu tun hat. Von einem glattpolierten, „perfekten“ Christus geht kein Trost aus.

      ML: Wunden zu verneinen ist eine Verdrängung von wichtiger Lebensrealität – und manchmal auch ein Schutz. Für den Perfektionisten sind Wunden inakzeptabel. Er möchte seine Vorstellungen durchsetzen, weil seine Ängste es ihm befehlen. Der Perfektionist hat etwas Autoritäres. Das ist meistens ziemlich abstoßend und in seiner Kälte trostlos.

      HG: Ist es nicht gerade das Nicht-Perfekte, das uns offener, zugänglicher und verständnisvoller macht? Durch eine persönliche Schwäche, an der man leidet, kann eine innere Verbundenheit mit jemandem entstehen, der dasselbe Problem hat oder mit demselben Versagen kämpft. Durch eine persönliche „Verwundung“ kann es möglich werden, Menschen in ähnlichen Situationen und mit ähnlich schmerzvollen Erfahrungen besser zu verstehen. Wer Vergleichbares kennt, wird anders trösten können.

      Selbst eine offenbar schwerwiegende Sünde kann in diesem Sinne ein Türöffner für ein Plus an Verständnis, Barmherzigkeit und Solidarität sein. Man könnte sogar sagen: Gott braucht diese Türöffner, diese Ritzen in der Wand, um uns menschlicher zu machen. Leonard Cohen singt in einem berühmten Lied genau von dieser heilsamen Bruchstelle: Forget your perfect offering. There is a crack in everything. That’s how the light gets in. Übersetzt: „Vergiss dein perfektes Opfer. Es gibt eine Bruchstelle in allem. So kann das Licht hereinfallen.“ Verständlicherweise wollen wir Bruchstellen vermeiden oder genieren uns dafür. Aber genau durch diese „undichten Stellen“, wie du es einmal formuliert hast, kann uns Gott erreichen – und das Leben neu gelingen.

      ML: Ja, genau die Schwachstellen sind die Vernetzungspunkte, die Kontaktpunkte zwischen uns und den anderen, der Welt, sogar mit dem Göttlichen. In der Tat geben einem gerade die Schwächen einer Person das Gefühl, sie besser zu kennen.

      Es fehlt Perfektionisten häufig an Empathie. Dahinter steht oft mangelnde Selbstliebe. Sie sind sich selbst nie genug, müssen daher immer besser werden. Wie gesagt, ein verzweifelter Versuch! Wer seine ganze Energie dafür benützt, sich selbst zu optimieren, hat meist die Hände nicht mehr frei für die Welt. Und der Perfektionist hat oft wenig Verständnis für die Schwächen anderer, da er auch den eigenen Schwächen gegenüber gnadenlos ist. Es ist grauenhaft anzusehen, wie sich eine solche Weltsicht gegen alles Lebendige stellt. Indem wir das Lebendige in der Welt nicht würdigen, entwürdigen wir uns selbst. Das ist trostlos.

       Der Wahnsinn der Optimierung

      ML: In vielen Unternehmen gehört es zum guten Ton, sich als Mitarbeiter ständig verbessern zu wollen. Wer sich nicht optimiert, gilt als unprofessionell. Mir wird immer wieder berichtet, dass Mitarbeiter in Gesprächen mit ihren Vorgesetzten sehr forsch und kränkend auf „Optimierungspotenziale“ hingewiesen werden.

      HG: „Hat diese Person Potenzial?“ Eine scheinbar logische Frage, wenn es um verfügbare „Humanressourcen“ geht – und doch so verletzend, eigentlich entwürdigend. Sprechen wir so von Menschen? Womit rechtfertigt sich dieser durchaus übliche Optimierungsdruck, der sich auf eine fast ausschließlich ökonomische Bewertung von Personen richtet? Ausschöpfen, ausreizen, optimieren – ein irrationaler Wille zur permanenten Steigerung scheint uns anzutreiben. Glück gibt es in dieser Konzeption nur im Immer-Mehr, Immer-Besser, Immer-Schneller und Immer-Erfolgreicher. Paradoxerweise gilt gleichzeitig aber auch ein Immer-Entspannter und Immer-Cooler als maßgebliches Lebensdiktat.

      Die damit ständig vermittelte Mangelerfahrung drängt zu einem Entwicklungs-, Erlebnis- und Konsumimperativ. Ein gnadenloses „Du musst!“ Der einzelne Mensch findet sich in einem trostlosen Optimierungsstress wieder, der alle Lebensbereiche erfasst, selbstverständlich auch die Freizeit. Selbst Kinder bleiben davon nicht verschont – ihre Zeit ist nahezu systematisch verplant: Fußball, Ballettunterricht, Schach, Chinesisch lernen, Gymnastik, Klavier, reiten … Diese Überfrachtung nimmt ihnen die heilsamen Momente des Alleinseins und des Leerlaufs.

      ML: Die Eigen- und Fremdausbeutung ist in allen Bereichen präsent. Wir machen uns auf diese Weise zum Objekt. Sich selbst oder andere zum Objekt zu machen bedeutet immer, sich und anderen Gewalt anzutun. So einfach ist das. Faktum ist, dass kein Mensch eine „eierlegende Wollmilchsau“ ist. Das bedeutet, dass keiner auf jedem Gebiet gut sein kann. Die Energie, die wir zur Optimierung nützen, fehlt uns möglicherweise in anderen Bereichen.

      Die Optimierung ist der Feind des Optimalen. Sie ist die Karotte vor der Nase, die man nie erreicht. Es ist naheliegend, dass man Menschen leicht in Abhängigkeit bringen kann, wenn man ihnen vermittelt, dass das, was sie machen, nie optimal ist, sondern stets optimiert werden müsse. So versklavt man freie Menschen und kann sie für die eigenen Ziele missbrauchen und manipulieren. Die Optimierung ist ein subtiles Folterinstrument und repräsentiert die dunkle Seite des Kapitalismus.

      HG: Die permanente Optimierung der Karriere gehört hier dazu – muss doch die eigene Biografie eine Erfolgsgeschichte sein! Dem Diktat der Selbstoptimierung wird nicht selten auch der private und intimste Lebensbereich unterworfen. Zuerst trifft es meist den Körper – er muss optimal sportlich, durchtrainiert, attraktiv und sexy sein. Für viele ist es selbstverständlich, den eigenen Body zu schinden, bis die optimale Form erreicht ist. Ja, der vielfältige Körperkult verlangt seine Opfer. Dieses Diktat der Selbstoptimierung macht auch vor dem Spirituellen nicht halt – manche Meditationstechniken sind einem subtilen Leistungsdenken verpflichtet. Das Versprechen lautet, dass sich durch entsprechende spirituelle Praxis und Übung ein höheres Maß an Zufriedenheit und beruflichem Erfolg einstellen würde.

      ML: Grundsätzlich ist bei aller berechtigten Kritik, die wir vorgebracht

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