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ganz allmählich enger zusammen.

      Und irgendwann dann kam dieser eine Tag.

      Es war später Nachmittag, als Gerdi mit den Kindern von einem ihrer Ausflüge zurückkam. Sie bereitete gerade das Abendessen zu. Alles war wie immer – bis sie an das Küchenfenster ging, um es zu öffnen. Für den Bruchteil einer Sekunde wehrte sich Gerdis Bewusstsein noch anzunehmen, was sie sah. Dann schrie sie auf. Ihr Blick fiel ungehindert auf die nackte graue Hauswand gegenüber!

      „Der Baum! Verdammt, wie kann das sein? Der Baum ist weg!

      Was haben sie mit dem Baum gemacht? Wer war das? Warum? Wer macht so etwas!?“

      Gerdi rannte die Treppe hinunter und suchte Karen, ihre Nachbarin.

      „Was ist mit dem Baum passiert? Wer hat den Baum gefällt?“

      „Heute Mittag waren zwei Arbeiter da. Wir konnten nichts dagegen machen!

      Der Baum wuchs zwar unserer Hofseite zu, aber er wurzelte tatsächlich auf der anderen Seite des Maschenzaunes und gehörte zum anderen Grundstück. Wir haben das nur nie beachtet.“

      „Aber warum? Wen hat denn dieser Baum gestört?“

      „Die Bewohner im Nachbarhaus – er hat ihnen angeblich zu viel Licht genommen …“

       Mein Baum, dich gibt es nun nicht mehr!

       Hast dich einfach über Menschenbedürfnisse hinweggesetzt!

       Du wusstest nicht, mein Lieber, so etwas wird hart geahndet. Hältst die Spielregeln nicht ein! Hast den Kopf nicht eingezogen, dich zu sehr nach dem Licht gestreckt …

       Was glaubtest du eigentlich, wo wir hier leben?

       Über andere hinauswachsen – das hat schon so manchem den Kopf gekostet – oder auch den Stamm, je nachdem.

       Jetzt bist du tot!

       Hast alles Grün und Duft und Leben mit in deinen Baumhimmel genommen.

       Du fehlst!

      Gerdis wütendes Gezeter half nichts.

      Und es half nichts, die Nachbarn des Nebengebäudes in den zwanzigsten Stock einer Hochhaussiedlung zu wünschen, wo ihnen ganz bestimmt kein Baum mehr das Licht nehmen würde.

      Auch eine Beschwerde beim Amt für Grünflächen nützte nichts. Dort wurde sie umgehend sehr amtlich und sehr ernsthaft über Paragraphen belehrt, die zwar Laubbäume im Stadtgebiet schützten, nicht aber Obstbäume. Egal, wie groß und schön der Baum war, wie viele Vögel darin nisteten – es wurde ihm zum Verhängnis, im Frühling in weißer Blütenpracht zu stehen und im Sommer Pflaumen zu tragen.

      Gerdi verstand die Welt nicht mehr. Nur Eines wusste sie ganz klar – so ging es nicht mehr! Nicht für sie.

      Gedankenverloren schlürfte Gerdi an einer heißen Tasse Tee, bevor sie das Gespräch mit ihrer Nachbarin wieder aufnahm:

      „Karen, ich möchte nicht mehr hier leben, verstehst du? So gern ich auch mit euch in unserer Hausgemeinschaft wohne, ich kann es nicht mehr ertragen! Ich ersticke in der Enge! Es macht mich krank!

      Wenn ich wenigstens irgendwo einen Garten hätte, so wie du! Ein Stück Erde, auf dem ich sein kann.“

      Gerdi saß mit Karen am Tisch. Sie war noch immer aufgebracht und sah hinunter in den Hof.

      Die beiden Frauen hatten schon seit geraumer Zeit miteinander gesprochen und vor ihnen stand bereits eine zweite Kanne Tee.

      Seit sieben Jahren wohnten sie schon im selben Haus. Sie hatten sich angefreundet, gegenseitig ihre Kinder betreut und sich viel aus ihrem Leben erzählt. Die Kinder hatten sich mittlerweile, gelangweilt von den Gesprächen der beiden Frauen, ins Kinderzimmer verzogen und spielten dort miteinander.

      „Ich versteh dich ja“, antwortete Karen, „ganz gut sogar. Aber – vielleicht kann ich dir helfen.

      Ich habe neulich beim Spazierengehen einen leer stehenden Garten gesehen mit einer kleinen Hütte. Und ich weiß auch, wem er gehört, weil ich mich erkundigt habe.“

      „Bitte? Was sagst du da?“

      „Ich such dir mal die Nummer von den Besitzern raus. Vielleicht hast du ja Glück.“

      Und Gerdi hatte Glück! Großes Glück!

      Der alte Garten mit der kleinen Hütte, oberhalb eines dörflichen Vorortes gelegen und umgeben von Feldern, war ein unglaubliches Geschenk. Und er war weit mehr noch – er war die Wende im Leben von Gerdi, dem Großstadtkind.

      In diesem Garten hielt Gerdi das erste Mal die Nase in den frischen Wind. Wie eine junge Wölfin witterte sie die Fährte, die hier ihren Lauf nahm.

      Noch war der Garten fremd für sie.

      Eine fühlbare Spannung und Unruhe überkam sie jedes Mal, wenn sie das Tor aufschloss und eintrat in eine Welt, die sie nicht kannte. Sie spürte es mit jeder Faser, sie war nicht einfach aufgenommen in dieser Welt. Es lag einzig an ihr, sich Einlass zu verschaffen.

      So Vieles gab es hier für sie zu entdecken!

      Überall waren heimliche verwilderte Ecken, die sie lockten – Kräuter, Pflanzen und alte, von Unkraut überwucherte Stauden, deren Namen ihr unbekannt waren. Der Garten nahm sie einfach mit auf eine Reise in seine grüne Unterwelt.

      Und dieser Garten sollte ihr Lehrmeister werden.

      Auf wundersame Weise, geschickt und beharrlich hielt er Gerdi kleine Spiegel vor Augen.

      Wenn sie sich erschöpft und mit schmerzendem Rücken über einem Gemüsebeet abrackerte, so zog er amüsiert das Spiegelchen der Ungeduld hervor und ließ Gerdi einen Blick hineinwerfen.

      Ein anderes hielt er ihr für verbissenen Ehrgeiz entgegen.

      Auge in Auge und etwas peinlich berührt stand sie unverhofft ihrer Erfolgssucht gegenüber. Und wenn Gerdi es schaffte, allzu stur an einem der Spiegelchen vorbeizuschielen, scheute er sich keineswegs, auch härtere Maßnahmen zu ergreifen.

      Dann beschwor er eine wuchernde grüne Hölle herauf, trommelte die gefräßigsten aller Schnecken herbei und pfiff zum Angriff auf die Salatköpfe und Zucchinipflanzen, um in einer einzigen Nacht all ihre Arbeit zunichte zu machen.

       Okay – okay, okay, ich hab’s verstanden! Jetzt hör mir mal zu!

       Ich bin das nicht gewohnt. Bisher war alles anders!

       Wenn ich etwas wollte, dann hab ich’s angepackt und gemacht, koste es, was es wolle. So hat es bisher immer funktioniert. Kannst du mir vielleicht verraten, warum das jetzt nicht geht? Ach so, du meinst also, ich bin blind.

       Ach – und taub noch obendrein? Und mein Verstand wäre nicht halb so groß wie ein Spatzenhirn?

       Na gut, ich werd mal drüber nachdenken.

      Gerdi warf sich ausgestreckt ins Gras und schaute in den Himmel. Lange.

      Der Wind zog sanft über sie hinweg, rupfte mal hier, mal da ein Stückchen Ehrgeiz ab und übergab es den Wolken, die einfach weiter zogen. Die Fliege auf der Nase kitzelte ihr ein Lächeln ins Gesicht und die Sonne schmolz ihr arbeitsames Streben in eine wohlige Trägheit um.

      Sie ließ sich morgens von den Amseln wecken, begrüßte am Mittag das Bussardpärchen, das seine stillen Kreise zog und sorgte sich um den Verbleib des Eichhörnchens, wenn seine gewohnten fünf Sprünge über das Dach der Gartenlaube und hinüber in den Reineclaudenbaum am Morgen ausblieben.

      Hier draußen im Garten lernte sie die erschreckende Dunkelheit und die Kühle der Nacht kennen, und sie ließ sich vom Vollmond bezaubern, der ein milchiges Silber über den Garten vergoss. Sein helles Licht hob jede Pflanze, jeden Grashalm, jeden Busch magisch hervor und zeichnete schwarze Silhouetten

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