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wie am Tag zuvor trug?

      »Großartig. Das ist unsere zweite große Geschichte«, rief der Ressortleiter und schaute sie nur ganz kurz an.

      »Was ist mit meiner Wohnungsnotstory? Die schieben wir jetzt schon seit Tagen«, erkundigte sich der Mann für die sozialen Themen und brachte beim Vorlehnen seinen tapferen Stuhl zum Ächzen. Mit Mitte fünfzig zählte er zu denen, die zu alt für den Wandel und zu jung für die Rente waren.

      »Schieben wir noch mal. Das musst du doch verstehen. Wir haben schon den Mord und die Tierbabys. Wir sollten nicht alles auf einmal verbraten.«

      »Das muss aber bald mal mit. Sonst ist das kalter Kaffee.«

      Es war ein halbherziger Protest, und Paul Gram kam nicht umhin, Mitleid zu hegen für den Kollegen, dessen Aura er einst bewundert hatte. Damals, vor fast zwanzig Jahren, als die träumerische Jungversion von Paul Gram mit einem Abischnitt von 3,2 und einer Überdosis an Selbstvertrauen in die Redaktionsstube gestiefelt war, um fortan das zu tun, wofür er sich geschaffen wähnte: Geschichten zu erzählen.

      Paul Gram nahm in jüngster Zeit nur noch selten an den Blattkonferenzen teil, und wann immer er es tat, wusste er wieder, warum er es sonst vermied. Doch das vorangegangene Wochenende hatte ihn in einer derart blendenden Laune hinterlassen, dass er beschlossen hatte, es sei mal wieder an der Zeit für eine Stippvisite. Entzückt vom dichten Nebel und vom Nieselregen hinterm Fenster war er am Sonntag früh aus dem Haus gegangen und in das Auto gestiegen, das er sonst nie benutzte, weil er den Kontakt zu Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln schätzte. Sie inspirierten ihn zu neuen Ideen.

      An diesem Morgen jedoch hatte er sich nach totaler Einsamkeit gesehnt und deshalb das vermeintlich schlechte Wetter gepriesen, das laut Vorhersage noch ein paar Tage in dieser Form anhalten sollte. Er war an den Fuß einer Bergkuppe eine halbe Stunde außerhalb der Stadt gefahren und hatte sich bepackt mit einem Rucksack auf gen Gipfel gemacht, zu den eingestürzten Gemäuern einer mittelalterlichen Burg. Dort hatte er sich niedergelassen, eine Packung Paprikachips herausgeholt und genossen, dass das einzige Geräusch in seiner Nähe dem Mahlen seiner Zähne entsprang. Nach einer halben Stunde war er den Berg wieder hinuntergestiegen und nach Hause gefahren, zu zwei Cheeseburgern mit extra Bacon und Fritten vom Lieferservice.

      Stille, fand Paul Gram, konnte wundervoll sein. Er musste sich ab und zu von dieser sonderlichen Welt absondern, um nicht Gefahr zu laufen, dem allgemeinen Wahnsinn zu verfallen.

      Deshalb wollte er nach der Redaktionskonferenz auch schnellstens in seine drei mal zwei Meter große Bürozelle fliehen, die er als Luxus empfand, weil er sie mit niemandem teilen musste. Doch als die mürrische Runde auseinanderging, hielt ihn der Ressortleiter auf.

      »Du Paul, ich hab’ da was mit dir zu besprechen. Muss zwar gleich weiter zur Sitzung des Digitalen Arbeitskreises, aber ein paar Minuten habe ich. Du auch?«

      Er hätte so gern nein gesagt.

      »Für dich habe ich immer Zeit.«

      Paul Gram musterte den Ressortleiter aus seinen tiefblauen Augen heraus und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob der eigentlich die leiseste Ahnung hatte, für was für einen Schaumschläger er ihn hielt.

      Es war ihm noch immer unbegreiflich, warum der Schaumschläger so vielen als Wunderknabe galt, vor allem jenen, die es aus zuweilen unersichtlichen Gründen zu Entscheidungsträgern gebracht hatten. Sie vergötterten den Jungen, der mit vierundzwanzig sein eigenes Onlineportal mit lokalen News gegründet hatte und seitdem wie ein Derwisch durch die Branche fegte. Dabei hatten die großen Verleger ihn anfangs noch belächelt und erst reagiert, als aus dem Zwergenmogul ein ernsthafter Konkurrent geworden war. Zu viele Leser hatten ihr Zeitungsabo mit dem Hinweis gekündigt, sie würden von nun an lieber auf unabhängige (und obendrein kostenlose) Nachrichten vertrauen. Der Verlag hatte das Portal daraufhin aufgekauft, zum Szeneguide erklärt, ein paar überforderte und unterbezahlte Studenten drangesetzt und den Gründer zum stellvertretenden Lokalchef seines Flaggschiffs ernannt. Da war der gerade achtundzwanzig geworden und fortan in grellen Klamotten und mit einem umgedrehten Basecap auf dem Schädel durch die Redaktion gestiefelt, um jedem zu erklären, dass er nicht der Feind sei. Dass er die gedruckte Zeitung liebe, es aber neuer Konzepte bedürfe, um gemeinsam dieses wunderbar traditionsreiche Medium wieder groß zu machen.

      Wenige Monate später kippte Paul Grams Mentor, der damalige Ressortleiter und Herzinfarkthochrisikopatient, in einer Stadtratssitzung um – im Dienst gefallen während der Haushaltsberatungen. Und sein Vize, der schon damals nicht und auch seitdem nie im Leben auf die Idee gekommen wäre, für die Zeitung Termine dieser Art wahrzunehmen, stieg diskussionslos zum Nachfolger auf.

      Seit drei Jahren trug er nun weiße Hemden anstelle bunter Shirts und auf dem Kopf statt eines Basecaps eine halbe Tube Haargel. Am lebendigsten wirkte er während gut besuchter Leserevents, bei denen er dem Oberbürgermeister vorher abgesprochene freche Fragen stellte.

      »Wir haben uns schon eine Weile nicht gesprochen. Ich wollte mal hören, was es Neues gibt.«

      Das Büro des Ressortleiters bestach durch seine breiten Fensterfronten zur Süd- und zur Westseite hin. Er wühlte in Unterlagen, während er zu Paul Gram sprach. Der saß ihm gegenüber – zurückgelehnt und mit vor dem Bauch gefalteten Händen. Dem Bauch, den sein Vater bei seinem jüngsten Besuch fies grinsend getätschelt und dabei gefragt hatte, wie es sich anfühle, wenn das Alter an einem nage. Es war eine Unverschämtheit sondergleichen gewesen, die Paul Gram ausgerechnet jetzt wieder einfiel und die ihn, väterlicher Scherz hin oder her, massiv verunsicherte, was er freilich nie im Leben zugegeben hätte. Seine Erscheinung war unverzichtbarer Bestandteil seines Kapitals in der Welt außerhalb seiner hochgeschätzten Intimität. Deswegen achtete er tunlichst auf Harmonie und Symmetrie, angefangen beim immer gleich kurzen Haarschnitt und dem ewigen Drei-Tage-Bart, der seinem Gesicht mit den feinen Zügen Charakter verleihen sollte.

      Du musst wissen: Paul Gram ist niemand, der sich häufig hinterfragt. Aber wenn er es täte, müsste es ihm absurd vorkommen, wie sehr jemand, der davon überzeugt ist, dass jeder in seiner eigenen Welt lebt, darauf erpicht ist, einen bleibenden Eindruck bei anderen zu hinterlassen. Aber es funktioniert, du wirst das bald selbst erfahren. Was ihn auszeichnet, ist diese explosive Mischung aus Stolz und Selbstgefälligkeit, die vielen Journalisten eigen ist und die ihnen, wenn sie nicht aufpassen, gewaltig um die Ohren fliegt.

      Ein Bauchansatz, so fand er jedenfalls, war das letzte, was er gebrauchen konnte.

      »Geht’s dir gut, Paul?«

      »Ich kann nicht klagen.«

      »Gut, das ist gut«, erwiderte der Ressortleiter, hob den linken Zeigefinger, sagte »kleinen Moment, bitte« und überflog zwei Ausdrucke, die von der anderen Seite des Tisches wie Protokolle aussahen.

      Zehn Sekunden lang herrschte Stille, dann legte er die Unterlagen beiseite. »Habe ich dir schon gesagt, dass diese Geschichte mit dem IS-Vater großartig war? Ein Meisterstück.«

      Zu loben war für ihn die antrainierte Methode, hinterher zu verlangen. Paul Gram wusste also genau, was kommen würde.

      Aber es stimmte. Das Porträt des von Kummer erfüllten Gastarbeiterkinds mittleren Alters, das seinen Sohn als IS-Kämpfer in Syrien vermutet und loszieht, um ihn zurückzuholen, war ein feuchter Reportertraum. Eine Story über die Perspektivlosigkeit und Wut der heimatlosen dritten Generation, die weder in dem Land, in das sie hineingeboren worden war, noch in jenem, aus dem ihre Großeltern stammten, als erwünscht gilt, geschweige denn als akzeptiert. Das Ganze gewürzt mit der hilflosen Stimme der Eltern, die nicht verstehen, was da geschieht mit der Welt, woher der plötzliche Fanatismus ihres früher kaum religiösen Sohns kommt, dem einzigen Sprössling, den Allah ihnen geschenkt hat. Es war eine Geschichte, die eigentlich zu gut war, um wahr zu sein.

      Und uneigentlich auch.

      »Danke, danke. Hast du schon. Aber deine Wertschätzung freut mich sehr.«

      »Gibt’s was Neues? Ist ja jetzt schon wieder zwei Wochen her. Kannst du irgendwas weiterdrehen?«

      »Leider nicht. Ich habe versucht, ihn zu kontaktieren, aber niemand weiß, wo er steckt,

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