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14, auf:

       In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.

       Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten.

      Und er hatte wirklich das Gefühl, dass Jesus vor ihm hergegangen war, um ihn in die hübschen, ordentlichen Räume dieses blitzblank geputzten Hauses zu führen. Das hier war der Höhepunkt einer nicht nur physischen Reise, deren Ziel Dunbridge war. Nein, das hier war das Ziel einer geistlichen Odyssee, die in der schönen gemeinsamen Zeit mit seinem Vater begonnen hatte, in der sie zusammen Kirchen besucht hatten, die weitergegangen war in Form des mühsamen Prozesses, einen Beruf zu finden, der kein Job, sondern Berufung war, und die zu einem Abschluss gekommen war, als er endlich erkannt hatte, dass er von Gott berufen war und von ihm auch die Kraft bekommen würde, sich allem zu stellen, was auf ihn zukam.

      Das Theologiestudium hatte ihm großen Spaß gemacht. Er hatte die Arbeit mit der Bibel geliebt und die hitzigen Diskussionen der Studenten über geistliche und ethische Fragen, die in ihren Bibelarbeiten aufgeworfen wurden. Er hatte immer mehr seine Unsicherheit verloren in der Gemeinschaft mit Menschen, mit denen er einen gemeinsamen Auftrag hatte und gemeinsam denselben Gott anbetete. Er hatte immer mehr glauben können, dass er den Glauben, die intellektuellen Fähigkeiten und auch die Intuition hatte, die er brauchte, um Menschen in den Hochs und Tiefs ihres eigenen Glaubensweges zu begleiten.

      Aber Neil kannte auch seine Grenzen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals gut schlafen würde in der Nacht, bevor er eine Predigt halten musste. Und bei dem Gedanken, ganz allein einen kompletten Gottesdienst zu leiten, wurde ihm immer noch ganz mulmig – doch er kam mit jedem Tag seinem Ziel, und auch Gott, näher.

      Und an diesem Abend, dem Vorabend seines ersten Arbeitstages als Vikar in seiner ersten Gemeinde, dankte Neil Gott einfach dafür, dass er hier angekommen war – und er betete, dass er mit allem fertig werden möge, was der nächste Tag für ihn bereithielt.

      Auch sein erster voller Arbeitstag begann mit einer Andacht, dieses Mal allerdings gemeinsam mit Pfarrerin Margaret und ihrem Mann Frank, die um halb neun am Kircheneingang zur Morgenandacht zu ihm stießen. Ein bisschen unruhig schaute Neil zu, wie die Pastorin das schwere Kirchenportal aufschloss, das bei seinem ersten Besuch von St. Stephen's solche Probleme gemacht hatte. Margaret registrierte sein Unbehagen und lächelte ihm zu, bevor sie den Mittelgang entlang zur Sakristei vorausging und sich dabei die Zeit nahm, ihm zu erklären, wo er finden konnte, was er brauchte, wenn er in der Kirche war. Als sie wieder aus der Sakristei zurückkamen, stellte Neil erfreut fest, dass sich noch ein paar weitere Gemeindeglieder eingefunden hatten. Peter, der Vorsitzende des Kirchenvorstandes – diesmal Gott sei Dank ohne seine furchterregende Ehefrau – winkte ihm vom anderen Ende der Kirche aus zu, wo er neben einer zierlichen Frau mittleren Alters stand und sich mit ihr unterhielt. Auf dem Weg zu der kleinen Kapelle, die in einem Seitenschiff der Kirche untergebracht war, entdeckte er ein weiteres neues Gesicht, einen älteren Mann, dessen blaue Augen freundlich unter buschigen Brauen und einem wuscheligen Haarschopf von gleicher Farbe zwinkerten.

      Er kam auf Neil zu und stellte sich vor. »Ich bin Harry Holloway«, sagte er. »Herzlich willkommen in St. Stephen's!«

      »Freut mich, Sie kennenzulernen, Harry«, entgegnete Neil. »Sie sind also offenbar auch ein Frühaufsteher!«

      »Ja, so bin ich es schon mein ganzes Leben lang gewohnt«, antwortete Harry lächelnd. »Ich war vierzig Jahre lang Milchmann und habe morgens den Leuten ihre Milch ins Haus geliefert. Sobald es draußen hell wird, kann ich nicht mehr schlafen. Auch heute bin ich schon um fünf Uhr aufgestanden, und deshalb fühlt es sich für mich jetzt auch schon fast wie Mittagszeit an.«

      »Dann kommen Sie also regelmäßig zur Morgenandacht?«

      »Ja, wenn eine stattfindet, bin ich dabei – aber ich komme eigentlich immer gerne her, weil ich mich hier in der Kirche an meine Rose erinnere. Es ist unmöglich, hier drinnen nicht an sie zu denken, denn wir haben vor einundfünfzig Jahren in dieser Kirche geheiratet. Sie hat es leider nicht ganz bis zu unserer goldenen Hochzeit geschafft, was jammerschade ist, weil ich nämlich zu dem Anlass mit ihr eine Reise nach Rom machen wollte. Sie wollte schon immer gerne einmal dorthin und drei Münzen in diesen Brunnen werfen …«

      »In den Trevi-Brunnen …?«

      »Ja, genauso heißt er. Ihr hat den Song von Frank Sinatra darüber immer so gut gefallen«, sagte er leise glucksend. »Aber Sie sind viel zu jung, um sich an das Lied zu erinnern.«

      »Doch, ich kenne die Aufnahme, die Sie meinen. Sie ist auch auf dem Sinatra-Album, das ich meiner Mutter vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt habe.«

      »Also Rose fand das jedenfalls total romantisch, und sie hat sich immer bei mir beschwert, ich wäre kein bisschen romantisch. Na ja, aber wenn man so lange verheiratet ist, wie wir es waren, dann verfliegt ja meistens doch irgendwann die Romantik.«

      »Und Romantik ist ja auch nicht alles«, stimmte Neil zu und hoffte, wie jemand zu klingen, der sich mit diesem Thema auskannte, obwohl seine Erfolgsbilanz in Sachen Beziehungen eher mager war – gelinde gesagt. »Letztlich kommt es doch darauf an, dass man sich liebt …«

      Neil hielt mitten im Satz inne, als er sah, dass in Harrys blauen Augen Tränen schimmerten.

      »Genau das ist der andere Grund, weshalb ich nachts nicht schlafen kann«, sagte Harry jetzt, und seine Stimme war eigentlich kaum noch mehr als ein Flüstern. »Ich habe sie geliebt. Natürlich habe ich das. Sie war meine Welt, mein Ein und Alles – aber ich habe es ihr nie gesagt – wissen Sie? Ich habe immer gedacht, sie wüsste ja sowieso, was ich für sie empfinde. Warum wäre ich denn wohl sonst jeden Tag zur Arbeit gegangen und hätte die Familie versorgt? Wieso hätte ich denn sonst all die kleinen Reparaturen und Verschönerungen am Haus vornehmen sollen? Ich habe sie geliebt. Das hätte sie wissen sollen.«

      »Aber Sie sind nicht sicher, ob sie es gewusst hat?«, fragte Neil leise nach.

      »Bei ihrer Beerdigung hat mir ihre Freundin Elsie – die beiden kannten sich schon aus dem Sandkasten – gesagt, Rose hätte sich immer wieder darüber beschwert, dass ich ihr nie sagen würde, dass ich sie liebe.«

      Der alte Mann holte ein ordentlich gebügeltes und gefaltetes weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich damit diskret Augen und Nase ab. Neil schaute schweigend zu und wusste nicht so recht, was er sagen sollte.

      »Ich komme also an den meisten Tagen an den Ort, wo wir jeden Sonntag zusammen gesessen haben. Und wenn ich dann bete, dann bitte ich Gott, dafür zu sorgen, dass es ihr gut geht, und ihr auszurichten, dass ich sie liebe. Das kann er doch, oder?«

      »Auf jeden Fall kann er das«, bestätigte Neil.

      »Ich vermisse sie so.«

      »Wie lange sind Sie denn jetzt schon allein?«

      »Nächsten Monat werden es zwei Jahre – und wissen Sie, ich bin immer noch genauso wund wie damals, vielleicht sogar noch mehr. Rosie ist auf dem Friedhof hier an der Kirche begraben, weiter hinten, oberhalb des Flusses. Irgendwann werde ich auch dort liegen, und ehrlich gesagt sehne ich mich danach, wieder mit ihr zusammen zu sein. Dann kann ich alles mit ihr klären, nicht wahr? Dann kann ich ihr endlich sagen, was ich ihr jeden Tag hätte sagen sollen, den wir zusammen waren.«

      »Wenn Sie dann so weit wären, Neil …«, hörte Neil Margaret sagen, und als er aufblickte, sah er, dass sie schon ihren Platz vorne eingenommen hatte.

      »Können wir dann endlich anfangen?«

      Mit einem schiefen Grinsen schaute Harry in Margarets Richtung und sagte leise: »Ja, das können sie, die Frauen, einem Schuldgefühle machen, auch wenn man gar nichts falsch gemacht hat. Darin war auch Rose richtig gut.«

      »Aber Sie haben doch gar nichts falsch gemacht, Harry. Ihre Frau hat bestimmt Ihre liebevolle Fürsorge erkannt und verstanden, dass Sie sie lieben, auch wenn Sie das vielleicht nie ausgesprochen haben.«

      »Kommen Sie jetzt, Neil, oder nicht?«, fragte Margaret in einem Tonfall, der

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