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denn aus Überzeugung nahm Jonas den metallenen Fressnapf heraus, der neben den Futterpackungen stand, füllte eine Handvoll Körner hinein und stellte ihn unter den Tisch. Dann verließ er die Kabine wieder und schloss sorgsam die Tür hinter sich. Er hatte zu tun.

      Zehn Minuten vor der angesetzten Zeit erreichte Jonas den Andachtsraum. Drei Leute saßen bereits dort – Raumkadettin Stella Obermayer, José Batista, einer der Köche, und André Kussolini, ein schweigsamer Mitarbeiter des Wartungspersonals, der die irritierende Angewohnheit besaß, sich regelmäßig zu bekreuzigen.

      Jonas verschwand im kleinen Nebenraum und legte sein Gottesdienstgewand an – eine weiße Tunika mit einer regenbogenfarbenen Stola.

      Prüfend besah er sich von allen Seiten im Spiegel, rückte sein Gewand zurecht, dann fuhr er sich mit einer Bürste durch die kurzen roten Haare. Nicht dass diese Prozedur an seinem Äußeren viel verändert hätte, aber sie vermittelte ihm das Gefühl von Sicherheit.

      Als er in den Andachtsraum zurückkehrte, hatte sich die Besucherzahl immerhin verdoppelt. Sechs Leute sind eine magere Quote bei 640 Besatzungsmitgliedern, dachte er missmutig. Aber wenn er ganz ehrlich war, musste er zugeben, dass er selbst diese Veranstaltung auch nicht besucht hätte.

      Er liebte die persönlichen Gespräche mit den Soldaten und freute sich, wenn er ihnen hier und da weiterhelfen konnte – sei es bei Ärger mit den Vorgesetzten, Liebeskummer, Heimweh oder plötzlich aufbrechenden Lebensfragen. Meist tat es den Ratsuchenden schon gut, dass ihnen jemand aufmerksam zuhörte und dann und wann eine Frage einbrachte, die ihnen eine erweiterte Sicht auf ihr Problem bescherte. In diesen Dingen war er gut – während die Andachten mit ihren Ansprachen für ihn eher ein lästiges Pflichtprogramm darstellten.

      Er beobachtete die Zeitanzeige auf seinem Kommunikator. Noch 30 Sekunden. Mit einem Wisch über das Display und einem Fingertipp rief er die Andacht-App auf. Eine Liste mit vorbereiteten Musikstücken erschien. Er aktivierte den ersten Titel, und der Bordcomputer ließ meditative Klänge aus den Lautsprechern ertönen. Exakt 3 Minuten später verebbten sie. Jonas trat nach vorn.

      »Seid willkommen zur Abendandacht«, rief er mit ausgebreiteten Armen.

      Ein wenig zu pathetisch, befand er selbstkritisch.

      André bekreuzigte sich.

      »Wir alle sind ein Teil des gleichen Universums, haben Anteil an dessen geheimnisvollen Kräften, sind das Ergebnis der Urelemente Feuer, Erde, Wasser, Luft. Doch hat die Weltenseele uns mit ganz besonderen Fähigkeiten ausgestattet – mit Bewusstsein und mit einem freien Willen. Darum soll es in der heutigen Andacht gehen. Ich lade euch ein, beim folgenden Musikstück in euch hineinzuspüren und Kontakt mit eurer Willenskraft aufzunehmen.«

      Jonas tippte auf sein Armband, und eine eher aufwühlende Musik erklang. Es folgte ein kurzes Gedicht aus seiner Sammlung, ein weiteres Musikstück, die vorbereitete Ansprache und schließlich eine Zeit der Stille.

      Am Ende folgte eine Art Segen: »So geht nun hin in der Kraft von tausend Sonnen, geliebte Töchter und Söhne des Universums. Haltet fest an der Macht eures Willens.«

      Ein weiterer Tipp ans Handgelenk, und die Musik schwoll zum Schluss noch einmal dramatisch an. Sogleich fuhr der Bordcomputer die Helligkeit der bis dahin abgedimmten Lampen hoch. Die Andacht war vorbei. André bekreuzigte sich erneut und verließ schweigend den Raum. Die anderen Besucher folgten ihm eilig.

      Nach wenigen Minuten stand nur noch die leicht verlegene Raumkadettin Obermayer im Raum.

      »Sie haben vorhin gesagt, dass Sie nach der Andacht etwas Zeit für mich hätten«, erinnerte sie ihn.

      »Ich weiß.« Er setzte sein professionelles Lächeln auf. »Bitte, nehmen Sie Platz!«

      Jonas rückte zwei der Stühle so zurecht, dass sie sich in einigem Abstand voneinander gegenüberstanden, und deutete mit einer einladenden Handbewegung auf einen davon. Dankbar folgte sie dem Wink und ließ sich ungraziös auf den Sitz plumpsen.

      »Was kann ich für Sie tun?«, eröffnete Jonas das Gespräch.

      Stella Obermayer schwieg und knetete ihre Hände. Mit einem freundlichen Lächeln hielt er das Schweigen aus.

      »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, begann sie endlich. »Manchmal fühle ich mich so einsam …«

      Sie sah Jonas scheu an, der sich innerlich wappnete. Er hatte es befürchtet. Jetzt wollte sie ihm Avancen machen. Für’s Erste sagte er gar nichts, lächelte weiter und wartete ab.

      »Mit meinen Kameraden mag ich darüber nicht sprechen. Ich habe Angst, dass sie mich auslachen und denken, ich sei dem Job nicht gewachsen.«

      In ihren braunen Augen schimmerte es feucht. Fahrig wischte sie die Tränen mit dem Handrücken ab.

      »Ich wollte immer zur Raumflotte«, fuhr sie fort. »Schon als kleines Mädchen habe ich davon geträumt. Und ich musste hart arbeiten, um die ganzen Prüfungen zu bestehen. Ich habe mich so gefreut, als ich es endlich geschafft hatte, auf die Peacemaker zu kommen. Die Arbeit hier macht mir ja auch Spaß. Aber … die Einsamkeit hier oben … Darauf war ich nicht vorbereitet. Manchmal stehe ich stundenlang am Screen und starre nach draußen. Und dann fühle ich mich so klein und unbedeutend …«

      Jonas nickte unwillkürlich. Diese Regung war ihm sehr vertraut. »Stella, dafür brauchen Sie sich nicht zu schämen. Das Gefühl kennt jeder hier an Bord.«

      Die Raumkadettin lächelte dankbar. »Meinen Sie wirklich?«

      Jonas nickte erneut. »Natürlich sind alle Gespräche, die ich führe, streng vertraulich, aber so viel kann ich doch sagen, dass Sie bei Weitem nicht die Einzige sind, die damit zu kämpfen hat.«

      Sichtlich befriedigt fuhr sie fort: »Manchmal bete ich in solchen Momenten. Das hat mir meine Oma beigebracht. Sie war eine sehr religiöse Frau. Leider ist sie schon lange tot. Sie betete immer zum ›Unser Vater im Himmel‹. Den Rest des Spruchs habe ich vergessen. Es war irgendwas mit Brot und Vergebung.«

      Sie seufzte, blieb einen Moment stumm, anscheinend im Gedenken an ihre Großmutter.

      »Ich improvisiere dann einfach, stelle mir vor, dass da irgendwo ein Vater ist, der mir zuhört, und erzähle ihm alles.«

      Jonas schwieg.

      »Sie glauben nicht an so etwas, oder?«, fragte sie. »An einen Gott, mit dem man reden kann und so. Jedenfalls sprechen Sie in Ihren Andachten nie darüber.«

      Jonas lächelte. »Nein, diese Vorstellung gehört zu einem veralteten Religionskonzept, das so heute nicht mehr gelehrt wird.«

      »Also ist es alles Unsinn, was mir meine Oma beigebracht hat? Sie war sich ihrer Sache immer so sicher.«

      »Wenn diese Ansichten so für sie gepasst haben, dann waren sie auch richtig für sie. Alles, was den Menschen weiterhilft und ihnen Kraft und Zuversicht gibt, ist richtig. Es gibt nicht nur die eine Wahrheit. Das haben uns die letzten Kriege gelehrt. Was man jahrhundertelang für unumstößliche Wahrheiten gehalten hat, sind in Wirklichkeit nur verschiedene Blickwinkel auf dieselbe Sache. Entscheidend ist doch letztlich: Was gibt Ihnen Kraft und Zuversicht?«

      Stella sah ihn an.

      »Das ist es ja gerade«, sagte sie, »ich weiß es nicht. Manchmal scheint es mir, dass Oma recht hatte und es einen Gott gibt, der mich liebt und mit dem ich reden kann. Dann wieder sehe ich hinaus in die unendlichen Weiten und sage mir: Mach dir nichts vor. Da draußen ist nichts. Nichts bis auf die Kälte des Alls, von der uns lediglich ein paar Stahlplatten trennen. Ich meine – wir fliegen doch hier im Himmel herum. Wenn da irgendwo ein Gott wohnen würde, müssten wir ihn längst getroffen haben.«

      »Wie geht es Ihnen bei diesem Gedanken?«

      »Ich fühle mich klein und verletzlich und … irgendwie unbedeutend. Es macht mir Angst. Und dann esse ich, um mich zu beruhigen. Seitdem ich auf der Peacemaker bin, habe ich bestimmt schon zehn Kilo zugenommen.«

      »Dann halten Sie sich lieber an das, was Ihnen guttut.«

      Jonas

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