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Mieter verzog sein Gesicht. Er schuldete Baumann zwei Mietraten! Doch wovon sollte Valentin die bezahlen? »Hallo? Wer ist da?«, fragte er deshalb erneut. »Hallo? Ich versteh Sie nämlich ganz schlecht! Es knirscht und kratzt, die NSA hört wahrscheinlich mit, ha, ha ...« Valentin lehnte sich resignierend an und betätigte dabei versehentlich die Klospülung, die lautstark gurgelnd losrauschte, worauf der geplagte Mann hochschreckte.

      »Verarschen Sie mich nicht, Karl! Host mi?«, wetterte Baumann derweil am anderen Ende. »Sie sind raus! Host mi? Ein für alle Mal! Host mi? Seit sechs Monaten renn ich der Miete hinterher! Host mi? Ich lass mich nicht zum Affen machen! Host mi? Nicht von Ihnen! Host mi? Und verbrauchen Sie nicht noch mehr von meinem Wasser! Host mi?«

      »Es sind doch nur zwei Monate, Herr Dr. Baumann, wer wird denn so kleinlich ...«

      Der Vermieter unterbrach Valentin scharf: »Halten Sie Ihre Klappe, Karl! Host mi? Morgen früh schicke ich die Müllabfuhr vorbei! Host mi? Dann sind Sie verschwunden! Host mi? Mit all Ihrem Dreckszeug! Host mi? Und dann ... dann will ich Ihr verdammtes hässliches Gesicht nie wieder in einem meiner Häuser sehen, ansonsten werden Sie sich daran gewöhnen müssen, Ihre Mahlzeiten mit einer Schnabeltasse einzunehmen! Host mi? Haben wir uns verstanden? Host mi? Morgen früh um acht Uhr sind Sie Luft für mich! Host mi? Und keine Sekunde bleiben Sie länger in meiner Wohnung! Host mi?«

      Valentin zuckte am ganzen Körper. »Aber Herr Dr. Baumann ... ich ... ich habe im Moment keine Arbeit. Ich ...«

      Am anderen Ende zeterte Dr. Baumann: »Das interessiert mich einen Scheiß, was Sie haben und was nicht! Host mi? Verschwinden Sie in eine andere Stadt! Host mi? In ein anderes Land! Host mi? Auf einen anderen Kontinent! Host mi? Wohin, ist mir völlig egal! Host mi? Von mir aus auf einen anderen Planeten! Host mi? Schröpfen Sie einen anderen Vermieter! Host mi? Morgen früh Punkt acht Uhr haben Sie sich in Luft aufgelöst!«

      Valentin hörte das Freizeichen. »Host mi?«, plapperte er Baumann nach und saß eine mittlere Ewigkeit regungslos auf dem Klo. Minuten später erhob er sich, ging ins Wohnzimmer und schaute sich um. Er suchte und fand eine noch fest verschlossene Flasche Whisky, eine, die er einst zum Geburtstag bekommen, jedoch nie angerührt hatte, weil er Alkohol nicht wirklich mochte. In Trance drehte er den Verschluss ab, setzte die Flasche an die Lippen und trank sie komplett leer. Sein Kehlkopf hüpfte dabei wie wild. Dann stand Valentin kerzengerade und regungslos da und starrte wie ein Toter vor sich hin. Irgendwann rutschte ihm die Flasche aus den Fingern, Valentin Karl verleierte die Augen, fiel einfach so um und lag straff, erstarrt und still auf dem Boden.

      Der nächste Morgen wurde zu einem Albtraum.

      Valentin lag noch immer starr, regungslos und wie tot auf dem durchgewetzten Billiglinoleum, während eine Putzfrau den Boden wischte und Valentin den saftigen, mit Reinigungs- und Desinfektionsmitteln getränkten Scheuerlappen ins Gesicht klatschte. Valentin erwachte schlagartig und sah sich ungläubig um. Die Wohnung war völlig leer und öde. Die türkische Putzfrau warf ihm die Jacke und seine Brieftasche zu und zeigte zur Tür.

      »Çık dışarı!«, zischte sie. »Isch haben hier meine Job zu machen!«

      Valentin, ein immerhin neununddreißigjähriger Mann, rutschte wie ein acht Monate altes Baby auf den Knien rückwärts zur Tür und hatte nur die Jacke und seine leere Brieftasche bei sich. An der Tür erhob er sich schwerfällig und schaute noch einmal zurück. Die Putzfrau drohte ihm zum Abschied mit dem Schrubber. »Çık dışarı!«, zischelte sie erneut.

      Valentin verließ seine vorübergehende Bleibe. Kurz darauf blickte er wieder zur Wohnungstür herein.

      »Ne oldu? Was willst du?«, fragte die Putzfrau mit bösem Blick und drohte mit dem Schrubber, als hätte sie ein Laserschwert in den Händen.

      Valentin kicherte und fragte: »Wissen Sie, was auf dem Grabstein einer alten Jungfer, wie Sie es sind, stehen wird? – Ungeöffnet zurück!«

      Feixend verschwand Valentin im Treppenhaus, während hinter ihm die Einschläge einer türkisch-verbalen Schimpfkanonade niedergingen.

      Das Feixen wich sogleich aus Valentins Gesicht, als er das Dach über dem Kopf verloren sah. Der zerstörte Gentleman schlich auf einem bestens gepflasterten Gehweg entlang. Wie es in jedem guten Drehbuch geschrieben steht, begann es unmittelbar und ausgerechnet in diesem Moment Bindfäden zu regnen. Was wäre dieses Buch sonst wert? Valentin schaute zum Himmel, an dem er eine einzige schwarze, aufgeplusterte Wolke sah. Er zog die Jacke bis über den Kopf, lief von Haustür zu Haustür und zitterte am ganzen Körper, als wäre er ein wandelnder Espenlaubbaum.

      Der Regen nahm zu. Valentin rannte durch die Straßen und verlor alsbald die Orientierung. Einer jener bei gutem Wetter wunderschönen Stadtparks öffnete sich vor ihm. Durch diesen schlich er bald darauf auf der Suche nach Ruhe und menschlicher Abstinenz, erreichte eine Parkbank und ließ sich kraftlos darauf nieder, wie einst der Vater im Erlkönig, ihm grauset’s so sehr, doch kein Kind in seinen Armen ächzte, sondern nur der arme Kerl selbst. Doch kaum spürte Valentin die kriechende Nässe der Parkbanklatten auf seinem Hosenboden, da näherte sich gleich einem Orkan ein heruntergekommener Obdachloser mit einem Einkaufswagen voller Müll. Eben dieser Einkaufswagen fuhr Valentin in diesem Moment mit voller Wucht in die geplagten Beine.

      »Verpiss dich, du stinkender Penner!«, zischte das zahnlose, zerfurchte, zerknitterte, runzelige Stoppelbartgesicht des Penners, der zudem auf den Stadtparkweg rotzte, als wäre er ein Fußballnationalspieler vor laufender Kamera. »Das ist meine Bleibe! Such du dir gefälligst eine eigene Wohnung!«

      »Wohnung?« Valentin stand auf und schlich weiter, während sich der andere Obdachlose auf die Parkbank legte und sich grunzend mit einem aufgeklappten Pappkarton zudeckte.

      Plötzlich aber drehte sich Valentin um und lief zurück. Er stand zitternd vor der Bank, und obwohl sich sein Kontrahent schlafend stellte, bewegte er zunächst nur die Lippen. Das Regenwasser schwemmte Valentin regelrecht auf und lief in einem Rinnsaal von seinem Kinn.

      »Ich muss dir was erzählen«, sagte er. »Da kommt ein Penner wie du zur Arbeitsagentur und sagt zu der Beraterin: ›Guten Tag. Ich habe beschlossen, in Zukunft durch redliche Arbeit Geld zu verdienen, sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen.‹ Daraufhin spricht die Beraterin lächelnd: ›Da haben Sie aber wirklich Glück, dass Sie gerade heute kommen. Ich habe hier das Angebot eines verdammt reichen Mannes, der sucht einen Leibwächter für seine wunderschöne achtzehnjährige Tochter. Sie müssten zudem seinen Mercedes fahren. Arbeitskleidung – Anzüge, Hemden, Krawatten und so weiter – wird Ihnen gestellt. Sie bekommen außerdem eine Wohnung im Haus des reichen Herrn und Ihre Mahlzeiten werden auch bezahlt. Die junge Dame müssten Sie allerdings oft auf ihren Reisen um die ganze Welt begleiten. Ihr Grundgehalt liegt bei etwa 240.000 Euro brutto jährlich.‹ Daraufhin sagt der Obdachlose: ›Jetzt verarschen Sie mich aber!‹ Und weißt du, was die Beraterin erwidert? Sie sagt: ›Wer hat denn mit der Verarsche angefangen?‹«

      Valentin kicherte, gebärdete sich wie verrückt und schüttelte leicht den Kopf. »Der ist gut, oder? Und er passt irgendwie zu dir.«

      Der Obdachlose auf der Bank drehte sich stöhnend um und streckte Valentin einen stinkenden Finger entgegen. Valentin hingegen patschte lachend und kopfschüttelnd durch den Matsch davon.

      Bereits nach wenigen Schritten ging sein Lachen jedoch in ein kindliches, völlig verzweifeltes Heulen über.

      Valentins neue Heimat wurde ein vier Quadratmeter großer Flecken unter einem Brückenbogen in einem anderen Park in München. Der war Teil eines Viaduktes, das einen Fluss überspannte. Ein paar Wochen mochten vergangen sein, vielleicht sogar Monate, was an Valentins üppigem Bartwuchs zu erkennen war. Valentin war bemüht, irgendwo einen Job zu finden, doch selbst sein Fast-Food-Restaurant wollte ihn wegen angeblichen Gestankes nicht mehr einstellen. Zur Agentur wollte Valentin nicht, dort würde ihm eh niemand helfen. Also gab er sich dem Schicksal hin, wurde ein Eremit inmitten der prächtigen Landeshauptstadt eines prächtigen Freistaates in einem der prächtigsten Länder Europas, wenn nicht sogar der ganzen Welt.

      Was dann kam, war ungewöhnlich. Valentin saß eines Vormittags wie so oft auf einer Pappe,

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