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an den einen Gott und privat an die alten Überlieferungen.“

      Der Junge wacht von innerer Unruhe getrieben auf. Wo ist der Lichtschalter? Im Schein einer unzureichenden Beleuchtung offenbart sich ihm ein fremder Raum. Vor der Couch stehen seine Schuhe. Eine kratzige Zudecke strömt einen undefinierbaren Geruch aus. Sämtliche Kleidungsstücke hat der Schlaftrunkene noch an. Die ungewohnte Umgebung und der Restalkohol schlagen auf sein Gemüt. Wo ist die Toilette?

      Der Aufstieg lärmt unter den wieder angezogenen Schuhen. Janines Stimme dringt an sein Ohr.

      „… bei mir! Gleich morgen früh, holst du ihn ab!“

      In welche verlogene Welt ist Marcel da nur geraten?

      „Ich passe auf ihn auf. Bei mir kommt so schnell nichts weg! Schon gar nicht mitten in der Nacht!“

      Marcel packt die Panik. Die saubere Freundin der Tante unter einer Decke mit diesen merkwürdigen Gestalten? Bei dem ganzen Unfug, den die Märchentante erzählt hat, ist ihr Verhalten vorauszusehen gewesen. Das Telefonat ist der eindeutige Beweis. Nachdenken! Einmal tief durchatmen. Auf keinen Fall in der Falle bleiben! Louane zu wecken, ist ihm verwehrt. Die Treppe erzeugt beim Betreten einen Höllenlärm. Ein winziger Hohlraum unterhalb der Stufen hält als Unterschlupf her. Ein Gestell mit Schürhaken und ein Ascheimer bieten ihm zusätzlichen Sichtschutz. Die Zeit vergeht nicht. Aus dem Zimmer nebenan kommen nicht zuzuordnende Geräusche. Endlich zieht Janine schlafwandlerisch an ihm vorbei.

      „… bekommt ihn schon!“, flüstert die Verräterin vor sich hin.

      Das Holz über ihm knarrt. Eine Tür gähnt in ihren nicht geölten Angeln. Kurz darauf herrscht Stille. Der Junge schleicht zur Ausgangstür, dreht bedachtsam den Schlüssel um und entweicht ins Freie. Die Katze nutzt die Gelegenheit und verschwindet in der Finsternis. Dicke Regentropfen prasseln herab. Der Ausreißer schnappt sich einen Schirm, der neben der Eingangstür in einem Eimer steckt und huscht mit dem für ihn zu kleinen Regenschutz in den Garten. Dankenswerterweise ist das Tor in die Freiheit nicht abgesperrt. In welcher Richtung liegt die nächste Stadt? In der Dunkelheit verliert Marcel nach ein paar wenigen Metern die Orientierung. Hauptsache weit genug weg von dem Irrenhaus. Eine Taschenlampe hätte im Wohnzimmer auf der Anrichte gestanden, schießt ihm durch den Kopf.

      In der Ferne brennt eine Laterne. Dort steht vermutlich das Schloss. Der Boden ist auf einmal weich unter den Sohlen. Die Straße scheint an dieser Stelle einer Biegung zu folgen. Der Nachtblinde tastet sich vorsichtig ein Stück zurück. Der Mond erhellt gelegentlich die Konturen in der Landschaft. Weshalb hat der kopflose Junge die Tante nicht geweckt? Umkehren kommt nicht in Frage. Seine Schulter rammt einen harten Gegenstand. Der Schmerz lässt endlich nach, da ist ein Anlasser zu hören. Mehrfach heult ein Motor auf und würgt wieder ab. Scheinwerfer rasen auf ihn zu. Das Auto hupt! Erschrocken springt der Ausreißer zur Seite. Erst jetzt sind die Umrisse des alten Peugeots erkennbar.

      „Wohin gehst du?“, schreit Louane. „Weißt du, welchen Schrecken du uns eingejagt hast?“

      „Was treibst du mitten in der Nacht draußen im Regen?“, ruft Janine vom Beifahrersitz aus. „Du brichst dir am Ende ein Bein!“

      „Ich habe gehört“, rechtfertigt sich Marcel, „wie du mich an die Spione des Teufels verpfiffen hast!“

      „Gott gütiger Mann! Wenn du Alkohol nicht verträgst, trinkst du besser nichts!“

      „Janine ist die frömmste Frau“, ist die Tante empört, „die ich kenne! Verrat kommt für meine beste Freundin nicht infrage!“

      „Ich habe einen Anruf von der der Frau von Gegenüber erhalten.“

      „Um Mitternacht?“

      „Sie kennt meine Schlafstörungen. Vor zwei, drei Uhr schlafe ich nie ein.“

      „Du hast gesagt, die Person könne mich gleich morgens abholen!“

      „Aber auf keinen Fall dich, du Dummerchen! Ihren Schirm, mit dem du durchgebrannt bist, beabsichtigte die Gute zurückzubekommen!“

      „Janine hat gesehen, wie du dich aus dem Staub gemacht hast.“

      „Für Staub fällt allerhand Regen.“

      Die Tante springt aus dem Wagen und klappt den Fahrersitz nach vorne.

      „Steige ein! Ziehe schleunigst die nassen Sachen aus.“

      Die Nachbarin, eine gewisse Madame DuLac, bringt vier Croissants sowie zwei Baguette zum Frühstück mit und übergibt Janine ihre völlig verstörte Katze. Die liebenswerte Dorfbewohnerin ist zehn Jahre älter als Louane.

      „Ich bringe dir deinen orientierungslosen Tiger zurück!“, sagt diese gelassen. „Du glaubst nicht, welche glückliche Nachricht ich soeben erhalten habe!“

      „So euphorisch wie du ausschaust, hast du im Lotto gewonnen!“

      „Viel besser! Meine Tochter ist schwanger.“

      „Wieder ein kleiner Arthur oder reden wir von einer Viviane?“

      „Das ist nicht ermittelt worden!“

      „Ich gehe erst einmal in den Keller, eine Flasche Champagner holen. Darauf stoßen wir an!“

      „Der junge Mann schaut nachdenklich drein!“, bemerkt die Nachbarin.

      „Mich irritieren die Namensgebungen und Alkohol am frühen Morgen.“

      „Du hast Ferien! Die Namen basieren auf der Kenntnis von der Wiederkehr des Königs. Eines Tages kommt Artus zurück, um die Menschheit von ihrer Dummheit zu befreien, aus Religion Wissen zu formen und den tausendjährigen Weltfrieden zu stiften. Damals hat der Heerführer unser Land vor sämtlichen Invasoren beschützt. Deshalb sind wir heute ein stolzes und freies Volk!“

      „Das feuchte Wetter scheint Wahnvorstellungen auszulösen. Die Bretagne hat keine Autobahnen geschweige denn einen internationalen Flughafen. Aus dieser Provinz heraus ist die Welt nicht zu regieren!“

      „Wir haben den heiligen Boden gegen die Entweihung durch gigantische Baumaßnahmen verteidigt!“, sagt Madame DuLac bitterernst.

      „In den hiesigen Wäldern sind von Fabelwesen bewohnt“, pflichtet Tante Louane bei, „weil wir Bretonen die vom Aussterben bedrohten Spezies dort ungestört leben lassen.“

      „Welche Substanzen sind in den Croissants? Die Wirkstoffe scheinen für ausreichend Fantasie zu sorgen.“

      „Du hältst uns für drogenabhängige alte Schachteln?“, sagt Janine aufgesetzt verbittert.

      „Weil Sie nicht die leiseste Ahnung haben!“, ereifert sich die Nachbarin. „Sie sind in einer Großstadt aufgewachsen. Das erklärt Ihr verschrobenes Weltbild.“

      „Haben Sie Beweise?“, fragt Marcel.

      „Öffnen Sie die Augen! In der Bretagne begleitet Sie die Geschichte der Welt auf Schritt und Tritt.“

      „Ob du mir glaubst oder nicht“, sagt die Gastgeberin, „in dir stecken die Gene von Artus, Jesus und der Dame vom See! Die Genannte ist keine geringere als die Maria vom See Genezareth, »Notre Dame«, gewesen!“

      „Nicht zu verwechseln mit der »Maria von Magdala«!“, sagt Louane.

      „Die Heilige ist rund tausend Jahre alt geworden und 1295 nach Christus in der Basilika von »Saint-Maximin-la-Sainte-Baume« beerdigt worden.“

      „Das ist zu lange her!“, regt sich der Junge auf. „Das sind Legenden!“

      „Bei weitem nicht!“, rechnet Janine vor. „Seine Tochter – Viviane die Dunkle aus dem Haus David und Ehefrau von Gerren – hat die Welt erblickt, als ihr Vater fünfundvierzig gewesen ist.“

      „Das sind rund

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