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Hagen lachte bitter. Was blieb einem übrig, wenn man die anderen die eigene Herkunft vergessen lassen wollte, als der Beste zu werden? In ihrer Mitte konnte er die Erinnerung daran auslöschen, wer er war. Sie bildeten eine verschworene Gemeinschaft von Ausgestoßenen, gefürchtet und verachtet von den Menschen, die sie brauchten und duldeten, aber nicht liebten. Eine seltsame Art von Sippenfrieden herrschte zwischen ihnen, ein kaltherziger Friede, der alles, was außerhalb seines Kreises lag, als Beute ansah, die zerrissen werden durfte.

      Als er Aldrian traf, hatte er erkannt, dass er noch einmal eine Chance bekam, und sie von ganzem Herzen ergriffen. Er schwor sich, niemals wieder die unsichtbare Linie zu überschreiten. Aldrian vertraute ihm, mehr noch: Er war der erste Mensch, für den seine Herkunft bedeutungslos war, der ihm das Gefühl schenkte, zu einer wirklichen Sippe zu gehören. Es war ein Traum gewesen, nichts weiter. Hagen brauchte nur in die Gesichter der Menschen, deren Leben er teilte, zu blicken, um zu wissen, dass es eine große Rolle spielte, wer man war und woher man kam.

      Der Blutgeruch seiner Hände widerte ihn an. Er wischte den Dolch an einer der Leichen ab und steckte ihn zurück in die Scheide. Dann sah er nach seinem Pferd. Es litt, aber es lebte. Die Wunde war nicht tief, bei guter Pflege würde sich das kostbare Tier erholen. Das Pferd des Hageren dagegen war tot. Hagen wankte in den Fluss, um seine Verletzung zu versorgen und das Blut abzuwaschen, das ihn von oben bis unten bedeckte. Es war wie eine rituelle Reinigung von dem bösen Geist, der ihn erfüllte, und er hoffte, dass auch der letzte Rest des Tieres, das er in sich trug, fortgespült wurde. Das kühle Wasser, das seine Wangen hinunterlief, klärte seinen Geist und half ihm, sich Rechenschaft vor sich selbst abzulegen.

      Er liebte Grimhild.

      Nie zuvor hatte er sich das eingestanden. Sie war ein Kind gewesen, als er sie kennenlernte, und er ihr väterlicher Freund. Auch jetzt noch zählte er mehr als doppelt so viele Sommer wie sie. Aber ihr Liebreiz, ihr Lächeln, ihre Augen verzauberten ihn. Ihr Interesse hatte ihm geschmeichelt und zu kühnen Träumen verleitet. Und dann war Sigfrid gekommen. Seither bemerkte sie ihn nicht einmal, wenn er neben ihr stand.

      Hagen kam sich unsagbar töricht vor. Lächerlich zu glauben, sie könnte etwas für ihn empfinden! Sie nahm seine Bewunderung als naturgegeben hin, als etwas, worauf sie ein Anrecht besaß wie auf das Atmen, und es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass ihre spielerischen Verlockungen ihm Schmerzen bereiten könnten. Wie blind er gewesen war, so blind, als besäße er überhaupt kein Auge!

      Voll Abscheu betrachtete er sein Spiegelbild im Wasser. Er sah einen verbitterten Krieger, der einen Narren aus sich gemacht hatte. Einen Narren, der sich eingeredet hatte, ein hübsches junges Mädchen wie Grimhild könnte sich in einen hässlichen alten Mann wie ihn verlieben. Einen Halbalben. Denn mehr noch als das Alter trennte sie ihre Herkunft. O ja, die Menschen respektierten seinen Mut und bezeugten ihm Ehre, niemand würde es wagen, ihm die Verachtung, die er empfand, offen zu zeigen! Aber hinter seinem Rücken verbreiteten sie die schmutzigsten Lügen über ihn. Er kannte die geflüsterten Gerüchte über dunkle Kräfte, Loyalität gegenüber dem Stillen Volk und Unzucht mit Schwarzalbinnen.

      Hagen stieg aus dem Wasser. Mit erbarmungsloser Deutlichkeit erinnerte er sich an jedes Detail der vergangenen Nacht. Er sah Grimhild vor sich, mit ihrem Lächeln, das seine Verteidigung durchbrochen und ihn weich gemacht hatte. Er erinnerte sich genau an jenen Moment, da sie ihm in aller Unschuld die tödliche Wunde zufügte, den Moment, in dem er wehrlos gewesen war und jeder Möglichkeit beraubt, sich gegen den Speer zu wappnen, der sein Herz durchbohrte. Sie hatte mit jener beiläufigen Grausamkeit von ihrer geplanten Verbindung mit Sigfrid gesprochen, zu der nur Frauen fähig sind, die ständige Bewunderung gewohnt sind. Frauen, die mit dem Bewusstsein aufwachsen, jeden Mann bekommen zu können, den sie haben wollen. Frauen, die sich nicht vorzustellen vermögen, wie es sich anfühlt, jemand Unerreichbaren zu begehren.

      Hagen fing eines der überlebenden Pferde ein, die friedlich in der Nähe weideten, und schwang sich hinauf. Seinen eigenen Hengst und das dritte Tier am Zügel führend, machte er sich auf die Suche nach einem Anhaltspunkt, wo er sich befand. Er fühlte sich ausgelaugt und innen wie außen wund. Jedes Wort, das zwischen ihm und Grimhild gefallen war, nahm er und drehte es in seinem Gehirn so lange hin und her, bis es jeglicher Bedeutung ledig war. Die Augen, mit denen sie Sigfrid beobachtet hatte, ließen ihn nicht los. Wenn sie ihn nur einmal so ansehen würde …

      Nutzlose Tagträume. Und er war kein Träumer. Seine Stärke lag darin, dass er der Welt, wie sie war, ins Auge sah. Nun gut, er hatte sich lächerlich gemacht. So etwas kam vor. Jetzt hatte er sich sein Versagen eingestanden und konnte daran gehen, die Reste zusammenzukehren und zu versuchen, Grimhild zu vergessen.

      8.

      Niemand sah ihn, als er zurückkehrte, nur Ivo, der Stallbursche, dem er die erhitzten Pferde zum Trockenreiben übergab, und der stellte keine Fragen. Die blutige Kleidung mochte seine Neugier wecken, aber ein Blick in Hagens Miene versiegelte ihm den Mund. Müde begab sich der Waffenmeister in seine Kammer, um sich neu einzukleiden, sodass es niemandem einfiel, Spekulationen über seine nächtlichen Aktivitäten anzustellen. Als er den Raum wieder verließ, ging er kerzengerade, obwohl die Wunde in seinem Bein pochte. Später würde er jemanden aufsuchen müssen, der sich darum kümmerte. Später. Erst musste er den Anschein von Normalität wiederherstellen, den er dummerweise durch seinen kopflosen Ritt zerstört hatte. Aber vielleicht machte er sich unnötig Sorgen. Die lusttrunkenen Teilnehmer des Mittsommernachtsfestes hatten vermutlich nur Augen für sich selbst gehabt.

      Fast hätte er es geschafft, sich davon zu überzeugen, dass alles beim Alten war. Dann traf er auf Grimhild, die nervös vor der Großen Halle auf- und ablief, und hielt so abrupt inne, als sei er gegen eine Mauer gelaufen. Er wich in den Schatten zurück, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Seine Knie zitterten. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging auf sie zu. »Ich grüße dich, frouwa!«, sagte er leichthin.

      »Oh, Hagen! Gunter sucht dich. Er erwartet dich in der Großen Halle. Wo warst du? Niemand konnte dich finden.«

      »Ich … habe einen Spazierritt unternommen.« Einen Herzschlag lang stand er vor ihr und wusste nicht, was er sagen sollte. »Nun … ich sollte den König nicht warten lassen«, murmelte er schließlich und schlurfte davon.

      Die komplizierten Konventionen einer Brautwerbung lagen Sigfrid nicht. Er war von schlichter Natur; sein Anliegen in die richtigen Worte zu kleiden, kam dem Versuch gleich, einen Fluss mit den Händen umzuleiten. Als er seine eigene Stammelei nicht länger ertragen konnte, rief er denn auch aus: »Bei Donars Hammer, was ich sagen will … ich … ich bitte Euch um Eure Schwester!«

      »Das kommt unerwartet«, erwiderte Gunter belustigt. Er hatte Sigfrid und Grimhild gestern beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass sie gut zueinander passten.

      Dem Sachsen entging das verräterische Zucken um die Mundwinkel des Königs, so setzte er hinzu: »Ich weiß, ich sollte einen Werber schicken, statt selbst mit Euch zu verhandeln, aber ich hoffe, Ihr glaubt mir, dass es nicht mangelnde Achtung vor Euch oder Eurer Schwester ist, die mich so kühn vorgehen lässt. Ich bin einfach in Sorge, jemand könnte mir zuvorkommen.« Er strich sich durch die Locken, unschlüssig, wie er fortfahren sollte.

      Gunter, dessen Entscheidung längst feststand, amüsierte sich über Sigfrids Unbeholfenheit. Er hätte ihm die Werbung leichter machen können, aber dies war etwas, dem sich ein Mann allein stellen musste, gleich, wie unangenehm es ihm war.

      »Ihr wisst«, sagte Sigfrid, »ich bin der Sohn König Sigmunds. Meine Braut wird einst an meiner Seite über Tarlungenland herrschen. Auch dürfte Euch bekannt sein, dass ich den Hort des Stillen Volkes besitze. Ich denke also, dass ich kein unwürdiger Bewerber bin.«

      Jetzt konnte Gunter nicht anders, er musste laut lachen. »Das seid Ihr ganz gewiss nicht, Sigfrid von Tarlungenland. Ich freue mich, dass Ihr mich um Grimhild bittet. Ich weiß, sie ist Euch gut.«

      In diesem Moment betrat Hagen die Halle. Seine Miene war unergründlich wie immer. Gunter runzelte die Stirn. Der Waffenmeister war die Nacht über fort gewesen, niemand wusste, wohin. Wie es schien hatte er sich bei seinem Ausritt eine Verletzung zugezogen. Zwar tat er sein

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