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hatte der Kommandant der Landespolizei die Weisung erhalten, das Gebiet um den Odeonsplatz großräumig abzuriegeln. Unter dem Beifall tausender Schaulustiger näherte sich die Truppe und schmetterte „Die Wacht am Rhein“.

      Sie durchbrach die Absperrkette. Es ist bis heute nicht klar, wer zuerst die Nerven verloren hat, die Putschisten oder die mit Maschinengewehren bewaffnete Polizei. Das Feuergefecht dauerte nur eine Minute, forderte aber zahlreiche Opfer, darunter 18 Tote. Zu den Verletzten zählte Göring, der sich eine tiefe Fleischwunde an der Hüfte zugezogen hatte. Die jüdischen Eigentümer des Hauses, in dessen Hof er zurückgetrieben worden war, brachten ihn in Sicherheit, was ihm die Flucht nach Österreich ermöglichte. Hitler kugelte sich durch einen Sturz zu Boden den Arm aus und ließ sich darauf von einem Sanitätsauto der SA abtransportieren. Ludendorff blieb unverletzt und marschierte in aufrechter Haltung weiter, als gälte es noch einmal die Festung Lüttich zur Übergabe zu zwingen. Nach ihrer Verhaftung wurden die Putschisten in die Festung Landsberg verbracht, wo sie auf ihren Prozess wegen Hochverrats warteten. Hitler verklärte dieses Ereignis in einer seiner späteren Reden, die er 1939 im Bürgerbräukeller in München hielt: „Aus dieser ganzen Not ist unsere Bewegung entstanden, und sie hat daher auch schwere Entschlüsse fassen müssen vom ersten Tage an. Und einer dieser Entschlüsse war der Entschluss zur Revolte vom 8./9. November 1923. Dieser Entschluss ist damals scheinbar misslungen, allein, aus den Opfern ist doch erst recht die Rettung Deutschlands gekommen.“54

      Am Morgen des 26. Februar 1924 begann der Hochverratsprozess gegen die zehn Putschisten, unter ihnen die Hauptangeklagten Adolf Hitler und Erich Ludendorff. Die Presse hatte Vertreter aus dem In– und Ausland gesandt. Insgesamt wurden 368 Zeugen geladen. Die Landespolizei hatte zwei Bataillone geschickt und den Ort des Verfahrens, die Zentrale Infanterieschule in München, weiträumig mit Stacheldraht und hölzernen Barrieren abgesichert.

      Der Richter, der den Vorsitz im Prozess gegen Adolf Hitler führte, war der Rechtskonservative Georg Neithardt. General a.D. Ludendorff hatte man nicht in Haft genommen. An den Verhandlungstagen ließ er sich in einer Luxuskarosse vorfahren. Auf Grund seiner Verdienste im Ersten Weltkrieg wurde er freigesprochen. Sein für Adolf Hitler lediglich mit der Mindeststrafe bedachtes Urteil begründete Richter Neithardt am 1. April 1924 mit folgenden Worten: „Auch das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß die Angeklagten bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren. Alle Angeklagten, die in die Verhältnisse genauen Einblick hatten – und die übrigen ließen sich von den Mitangeklagten als ihren Führern und völkischen Vertrauensmännern leiten –, glaubten nach bestem Wissen und Gewissen, daß sie zur Rettung des Vaterlandes handeln müßten und daß sie dasselbe täten, was kurz zuvor noch die Absicht der leitenden bayerischen Männer gewesen war. Das rechtfertigte ihr Vorhaben nicht, aber es gab den Schlüssel zum Verständnis ihres Tuns. Seit Monaten, ja Jahren waren sie darauf eingestellt, daß der Hochverrat von 1918 durch eine befreiende Tat wieder wettgemacht werden müßte.“55

      Das Urteil erging an „Hitler, Adolf, geboren am 20. April 1889 in Braunau (Oberösterreich), Schriftsteller in München, seit 14. November 1923 in dieser Sache in Untersuchungshaft; wegen des Verbrechens des Hochverrats (wird der Angeklagte zu) fünf Jahren Festungshaft sowie einer Geldstrafe von zweihundert Goldmark, ersatzweise zu je weiteren zwanzig Tagen Festungshaft“ (verurteilt).

      In seiner Gefängniszelle in Landsberg am Lech hatte er nun genug freie Zeit, seine künftige Taktik zu überdenken. Jede freie Minute widmete er seinem Opus, einem mehrbändigen Werk, das er „Mein Kampf“ nannte.

      Kapitel 16

       Mein Kampf

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      Das Buch machte seinen Verfasser kenntlich, da es seine Pläne detailliert offenlegte, aber es wurde selten gelesen.56 Das Buch beinhaltete Hitlers Leitgedanken, so seine Forderung nach Lebensraum im Osten, den er sich durch Eroberung osteuropäischer Staaten und Sowjetrusslands versprach. Er offenbarte in seiner Schrift auch seinen inzwischen unverhohlenen Antisemitismus, indem er nicht mehr nur die Ausweisung der Juden aus Deutschland forderte, sondern deren Tötung. So behauptete er, dass die Niederlage im Ersten Weltkrieg niemals erfolgt wäre, wenn die deutsche Regierung es nicht versäumt hätte, „die Juden unbarmherzig auszurotten, indem man 12.000 oder 15.000 von ihnen unter Giftgas gehalten“ hätte.57 Später würde er seine Zeit als „Trommler“ als „seine Kampfzeit“ verklären und München, wo er gegen die Regierung geputscht hatte, zur „Hauptstadt der Bewegung“ erklären.

      Noch während seines Prozesses hatte er seine Weltanschauung mit den Worten erklärt: „Ich ging von Wien weg als absoluter Antisemit, als Todfeind der gesamten marxistischen Weltanschauung, als alldeutsch in meiner Gesinnung.“58 Zu diesem Zeitpunkt war sein – damals übrigens salonfähiger – Antisemitismus genau das, was er für die meisten seiner Zeitgenossen war: keine rassistische, sondern eine politische Überzeugung, eine Mischung aus Antihaltung und einer unreflektierten Demonstration wilder Kampfbereitschaft. Sein Ziel war eine Schimäre aus neogermanischem Großraumdenken, Antisemitismus und Antimarxismus.

      Als der gescheiterte Künstler 1913 ins Deutsche Kaiserreich kam, hasste er viel und vielfältig: sein Vaterland Österreich, den Vielvölkerstaat, die Juden, die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften und das Parlament, die Masse und die Menschen schlechthin. Wahrscheinlich hasste er sich phasenweise selbst. Und schon damals hätte seiner Umgebung auffallen müssen, dass in seiner Art des Hassens etwas Besonderes lag. Hitler hasste nicht heiß, sondern kalt. Daneben offenbarte er eine Gefühllosigkeit, die deutlich machte, dass er sich weder in andere geschweige denn in sich selbst hineinversetzen konnte, sodass also eine betrachtende Distanz zu sich unmöglich war. Dabei gilt dies doch heute als das, was einen überhaupt zum Menschen macht: Sich selbst zu erkennen und andere zu verstehen, auch in ihrer Andersartigkeit und Verschiedenheit. Die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, ging Adolf Hitler ab. Seine „innere Kälte“ war mit einer besonderen Fähigkeit gepaart. Ihre Bezeichnung leitet sich von dem griechischen Wort für Bild – „eidos“ – ab. Eidetische Menschen59 – wie der Politikpsychologe Manfred Koch-Hillebrecht in seiner Analyse über Hitler ausführt – können ihre Umgebung in all ihren Details in ihrem Inneren abspeichern und immer dort bewahren. Es fehlt, wie bei bestimmten hochfunktionalen Ausprägungen des Autismus, ein sogenannter Filter, der das Gehirn vor einer Überflutung von Eindrücken schützt. Alles, was der Eidetiker wahrnimmt, hat er sich „angeeignet“. Das gilt für alle Sinneswahrnehmungen: visuelle und akustische, aber auch Geruchsreize.

      Auch Hitlers fotografisches Gedächtnis sorgte bei seiner Umgebung immer wieder für Verblüffung. Er konnte sich alles merken: Zahlen, Gesichter, sämtliche Details von Waffensystemen wie Kaliber und Schussweiten, sogar den Flottenkalender.60 Immer wieder zitierte er auswendig ganze Buchseiten oder pfiff Vorspiele aus Opern Wagners aus dem Gedächtnis nach. Diese besondere Veranlagung sei gepaart gewesen mit einem grundlegenden Desinteresse an allem, was andere von ihm dachten. Doch auch das für ihn typische „Drohstarren“, eine auffällige Schmerzunempfindlichkeit, seine Fähigkeit, auf Kommando Tränen fließen zu lassen, sein messianischer Sendungseifer und seine selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit, die nur auf sich selbst und seine vorgefasste, klischeehafte Weltanschauung beschränkt war, führt Koch-Hillebrecht auf Hitlers Veranlagung als Eidetiker zurück. Das, was auf den ersten Blick wie ein Mangel wirkt, war für den späteren Politiker die Möglichkeit, sich rücksichtslos über jegliche Grenzen des Mitgefühls, der gültigen Werte und der herrschenden Moral hinwegzusetzen.

      Diese

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