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      Leo Reisinger spürte wieder das Kribbeln in den Armen. Jetzt ging es los. Das liebte er an seinem Job: rausgehen, analysieren und die Puzzleteilchen aneinanderfügen.

      Als sie das Gebäude der Gerichtsmedizin verlassen hatten und über den Parkplatz gingen, prustete Sandra los: »Ich glaub’s ja nicht. Der Dr. Gräber steht auf mich!«

      Reisinger sah sie an. »Ja, das sehe ich auch so. Wenn einer den ganzen Tag an Leichen herumschnippelt, gefällt einem dieser morbide Look wahrscheinlich irgendwann. Du nimmst das nicht wirklich als Kompliment, oder?«

      Sandra protestierte: »Ich sehe doch nicht wie eine Leiche aus!«

      »Nein, eher wie ein Vampir.« Reisinger hielt ihr die Wagentür auf.

      Es war bereits Freitagmittag, als sich Leo Reisinger mit Sandra Kruse auf den Weg ins Kirnitzschtal machte. Der Chef der Straßenbahn hatte sich bereit erklärt, auf sie zu warten, obwohl er ab 12 Uhr eigentlich Feierabend hatte. Auch die beiden Straßenbahnfahrer würden vor Ort sein. Sandra Kruse telefonierte inzwischen die Polizeidienststellen ab, ob irgendwo eine Person vermisst wurde, auf die die Beschreibung passte. Nach mehreren vergeblichen Anrufen sagte sie: »Fehlanzeige. Den vermisst keiner!«, und steckte ihr Handy weg. Sie kramte ihren Lippenstift heraus und klappte die Sonnenblende herunter.

      »Sandra!«, schimpfte Reisinger. »Du bist im Dienst und nicht auf einem Punk-Konzert!«

      Beleidigt steckte sie den schwarzen Lippenstift wieder weg und sah schweigend aus dem Fenster.

      Leo Reisinger genoss die Fahrt im klimatisierten Wagen. Hinter Pirna war die Gegend gänzlich neu für ihn. Er kurvte die steile Straße nach Pirna-Sonnenstein hoch und war erstaunt über den dichten Verkehr.

      »Wo wollen die denn alle hin?«, fragte er beiläufig – mehr zu sich selbst, als dass er Sandra in ein Gespräch hätte verwickeln wollen.

      »Wandern«, antwortete seine Kollegin. »Alle Sachsen rennen wie die Bekloppten im Elbsandsteingebirge herum. Das Kirnitzschtal ist echt schön.« Reisinger schaute sie erstaunt von der Seite an: »Du gehst wandern?«

      »Nein, nicht mehr. Das war mit meinem vorherigen Freund. Der fand es cool, zu klettern. Da bin ich eben mitgefahren.«

      »Aha.« Reisinger war verblüfft. »Und wo soll das Gebirge sein, von dem du sprichst?« Sie waren gerade über den Höhenrücken bei Krietzschwitz gefahren, als sich vor ihnen die Festung Königstein ins Bild schob.

      »Na da, du bayerische Blindschleiche!«, sagte Sandra und deutete nach vorne. »Links Lilienstein, rechts Königstein, dahinter die restliche Sächsische Schweiz mit Tausenden von Klettergipfeln. Du hast ja mal wieder gar keine Ahnung, du Wessi.«

      Reisinger sah nur Hügel, kein Gebirge.

      »Na, scheint ganz hübsch zu sein, die Landschaft hier«, sagte er versöhnlich und gähnte. Sie quälten sich inzwischen in einer langen Kolonne die Straße hinunter nach Königstein, durch den Kreisverkehr hindurch.

      Sandra zeigte nach rechts: »Da, hast du das gesehen? Mokkamilcheisbar. Cooler Name, oder?«

      Leo Reisinger wusste nicht, was an diesem Namensungetüm cool sein sollte.

      »Ist, glaub ich, nach einem Schlager der Natschinski-Combo benannt!«, klärte ihn Sandra auf. »Nicht dass ich ein Fan dieser Gruppe wäre«, fügte sie sofort hinzu, »aber als Kind habe ich das oft gehört.« Sie begann einen alten DDR-Schlager vor sich hin zu trällern, in dessen Refrain immer wieder das Wort Mokkamilcheisbar auftauchte.

      Die Kurven hinter Königstein forderten Leos Aufmerksamkeit. Die Straße war hier in den steilen Abhang gebaut, rechts ging es hoch, links gut 100 Meter hinunter bis zur Elbe, die in ihrem Bett glitzerte. Sie fuhren über die Elbbrücke und hinein in den Ort Bad Schandau. Als sie den Marktplatz passiert hatten, lotste ihn Sandra nach links, Richtung Hinterhermsdorf. Geradeaus ging es nach Schmilka und nach wenigen Kilometern entlang der Elbe nach Tschechien.

      »Wie, in diesem kleinen Ort hier gibt es eine Straßenbahn?«, fragte Leo ungläubig, als er von der Hauptstraße abbog.

      »Nein, eigentlich ist die Straßenbahn nicht im Ort, sondern mehr im Tal«, sagte seine Beifahrerin. Rechter Hand der Straße tauchte ein kleiner Park auf.

      Reisinger schaute sie verblüfft an. »Die Straßenbahn führt durch den Wald?«

      »Ja. Ihr Bayern glaubt, dass ihr die Sehenswürdigkeiten, was Gebirge angeht, alleine gebunkert habt. Habt ihr aber nicht. Das Gebiet hier war schon eine Attraktion, als der Luis Trenker noch nicht mal geboren war. Heerscharen von Touristen haben die Sandsteinfelsen in den letzten Jahrhunderten besucht, und viele berühmte Maler haben sie auch gemalt. Wir haben hier sogar einen ›Malerweg‹. Und die Straßenbahn fährt schon seit mindestens hundert Jahren ins Tal«, erklärte sie ihm gönnerhaft. Reisinger hasste es, wenn sie so demonstrativ schulmeisterte.

      Schon kurz nachdem sie in die Kirnitzschtalstraße eingebogen waren, konnten sie auch die Gleise der Straßenbahn auf der Straße sehen. Reisinger staunte nicht schlecht, als die leuchtend gelbe Straßenbahn vor sich aus dem Park fahren sah. Die Bahn war voller Menschen, die Straße durch die Gleise nur noch einspurig zu befahren.

      Wenige Kilometer weiter kamen sie am Straßenbahndepot an. Der Leiter Gustav Neusche erwartete sie.

      »Na, wissen Sie denn nu, wer der Dode war?«, fragte Neusche nach der Begrüßung und starrte Sandra an.

      »Leider nein!« Leo Reisinger bat ihn, die beiden Straßenbahnfahrer ins Büro zu holen.

      Als alle zusammen waren, stellte er sich und Sandra Kruse als Kriminalpolizisten vor. »Wir sind hier, weil …«

      Kunath klopfte ihm unversehens auf die Schulter und sagte: »Du bist aber ooch ni von hier. Bayern, stimmt’s?«

      Sandra grinste hämisch, aber der Straßenbahnfahrer strahlte den Kriminalkommissar an. Leo Reisinger hielt einen kurzen Moment inne. Oje, wenn er jetzt nicht aufpasste, würde das ausgehen wie die Kloßgeschichte im Supermarkt.

      »… wir sind hier, weil das kein einfacher Todesfall ist, wie sich herausgestellt hat, sondern der Mann auf sehr merkwürdige Weise verstorben ist, möglicherweise sogar erstickt wurde.«

      Totenstille im Büro von Gustav Neusche. Dann sprang Kunath hoch, riss die Tür auf und brüllte: »Mensch, Didi, das war kein Herzinfarkt, den hamse dod gemacht!«

      Er hätte gar nicht so schreien müssen, denn Didi stand gleich hinter der Tür.

      Leo Reisinger verkniff sich, so gut es ging, ein Grinsen und winkte Didi ins Büro.

      »Um die Ermittlungen nicht zu gefährden, behalten Sie das erst mal für sich!« Er bedachte Kunath mit einem strengen Blick, worauf dieser enttäuscht dreinschaute. »Für eine Spurensicherung ist es jetzt, nachdem die Bahn ja weiter benutzt wurde, fast schon zu spät, aber ich möchte trotzdem noch einmal den gesamten Ablauf mit jedem von Ihnen rekonstruieren. Also halten Sie sich bitte zur Verfügung und bewahren Sie Stillschweigen zu den Ermittlungen. Wann immer Ihnen noch etwas einfällt zu der Sache, rufen Sie uns an. Hier ist die Nummer unseres Büros in Dresden.« Er gab jedem eine Karte. Neusches Büro leerte sich.

      »Da wir immer noch nichts über die Identität des Toten wissen, wird meine Kollegin mit einem Foto die Anwohner hier im Tal befragen. Es gibt offenbar einige Gasthäuser, vielleicht hat ihn ja jemand am Mittwoch hier gesehen«, sagte Reisinger zu Neusche. Sandra machte sich auf den Weg.

      »Kann ich Ihr Büro hier für die Befragung benutzen?«, fragte Reisinger. Neusche nickte.

      Adele Schuster war völlig eingeschüchtert. Den Tränen nah, beteuerte sie immer wieder, dass die Bahn doch leer gewesen sei, als sie sie am Mittwochabend verlassen habe. Reisinger versuchte sie zu beruhigen. Sie stehe doch nicht unter Mordverdacht, das sei hier nur eine Befragung als Zeugin. Aber der Schuss ging nach hinten los. »Mordverdacht«, wiederholte Adele Schuster ängstlich. »Mein Gott, das gibt’s doch nur im Fernsehen, beim ›Tatort‹, doch nicht bei uns. Tun Sie mich jetze verhaften?«

      Reisinger

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