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keiner mehr. Hätt’ ich doch gesehen, wenn da noch einer gesessen hätte!«

      Der Polizeihauptwachtmeister nahm sie am Arm und führte sie zum abgestellten Wagen.

      »Ihr Kollege hier«, damit deutete er auf Karl Kunath, »hat heute Morgen den hier gefunden.« Sie waren eingestiegen und standen nun vor dem Toten. Adele stieß einen spitzen Schrei aus, als ihr klar wurde, dass der tatsächlich mausetot war. »Oh, mein Gott, is der in der Straßenbahn gestorben? Is das jetze meine Schuld? Aber der war gestern Abend noch gar nicht da. Ich hab doch gesehen, dass der hintere Waggon leer war!«

      Polizeimeister Strohbach war ihnen gefolgt und kratzte sich am Kopf. »Dann gibt’s zwei Möglichkeiten. Entweder der ist erst später in die Bahn eingebrochen, als sie schon abgestellt war, oder der lag schon so versteckt unter den Bänken, als Sie gestern Abend reingeguckt haben.«

      Alle standen nun ratlos im Waggon und schauten auf den Toten. Biesold bewegte ihn vorsichtig zur Seite, um sein Gesicht nach oben zu drehen. Der Tote war um die 60 Jahre alt, hatte schütteres dunkelblondes, angegrautes Haar, trug eine helle Wanderhose, ein blau-grau kariertes Hemd und eine beige Windjacke. Das einzig Farbenfrohe an ihm waren die leuchtend blauen Wanderschuhe, aber auch die hatten graue Streifen. Das Gesicht des Toten sah entspannt aus, er lächelte nicht, aber er zeigte auch keine Fratze. Der Beamte ging leicht ächzend in die Knie, durchsuchte die Taschen des Toten, fand aber nur ein benutztes Papiertaschentuch. »Kein Rucksack, keine Brieftasche, einfach nichts. Sehr ungewöhnlich.«

      Ein feiner Schweißgeruch stieg auf. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und brannte durch die Scheiben der Bahn.

      »Vielleicht sollten wir den irgendwie kühl stellen, bis die mit ’m Wagen von Dresden kommen, sonst vergammelt der gleich bei der Hitze«, meinte Karl Kunath trocken.

      »So ’n großen Kühlschrank ham wir nicht!«, wandte Gustav Neusche ein. »Aber wir könn’ ihn wenigstens im Schatten, in der Halle, parken.« Die Beamten waren einverstanden, sie waren auch froh, aus der prallen Sonne zu kommen. Neusche und Kunath fuhren einen Wagen aus der Halle, rangierten um und bugsierten den Waggon mit der Leiche in die Halle des Depots. Dort war es deutlich kühler.

      Die Polizisten sahen sich die Türen genauer an.

      »Wenn der Wagen gestern Abend leer war, wie Sie sagen, Frau Schuster«, wollte Polizist Ricki von Adele wissen, »wie kommt man dann von draußen rein, wenn die Türen verschlossen sind, ohne was kaputt zu machen?«

      Karl Kunath griff unter den Einstieg des Wagens und holte einen gebogenen Sechskantschlüssel heraus. Dann steckte er ihn in die kleine, runde Öffnung neben dem Einstieg. Die Tür öffnete und schloss sich, je nachdem, in welche Richtung er den Schlüssel drehte. »Na, super, seine Fingerabdrücke sind da jetzt in jedem Falle drauf«, sagte Wolfram Biesold.

      »Da kann ja jeder rein und raus, wie er gerade lustig ist!«, empörte sich sein junger Kollege.

      »Die Leute wissen das aber nicht!«, grummelte Neusche.

      Der Polizeihauptwachtmeister ließ den Schlüssel vorsichtig in eine Plastiktüte gleiten.

      »Damit hab ich heute Morgen ooch schon den Waggon aufgemacht«, sagte Kunath betroffen und schaute seine Hände an.

      »Sträflich leichtsinnig ist das! Jeder, der das einmal gesehen hat, könnte nachts eine Spritztour machen oder die Straßenbahn sogar klauen!«, ereiferte sich Polizist Ricki.

      Neusche, Kunath und Adele Schuster schauten ihn entgeistert an: »Eine Straßenbahn klauen?«

      Ricki Strohbach machte einen Rückzieher. »Na ja, vielleicht doch nicht klauen. Aber Tatsache ist, dass es total leicht ist, da reinzukommen. Wahrscheinlich hat er’s einfach beobachtet und die Straßenbahn nachts geöffnet.«

      »Und wie macht man die Tür von innen zu?«, fragte der Dienstältere und hob warnend die Hand. »Zeigen Sie mir das, ohne was anzufassen!«

      »Einfach hier den Knopf drücken«, Gustav Neusche deutete auf den kleinen Riegel neben der Tür. »Das geht immer, ooch wenn die Bahn nicht am Strom hängt.«

      »Davon brauchen wir Fingerabdrücke«, murmelte Biesold und machte sich Notizen.

      Der ältere Beamte wandte sich wieder an Adele Schuster: »Wenn Sie sagen, die Bahn war gestern Abend leer, dann ist der wahrscheinlich irgendwann in der Nacht hier eingestiegen, hat’s sich gemütlich gemacht und ist dann dummerweise gestorben. Sehr merkwürdig.«

      »Aber wie ein Penner, der ein Dach überm Kopf braucht, sieht der ooch ni aus«, wandte Neusche ein. »Wieso sollte einer in ’ne abgestellte Straßenbahn steigen und da einen Herzinfarkt kriegen? Ergibt doch gar keinen Sinn!«

      »Wieso Herzinfarkt?«, fragte der hellhörige Ricki.

      »Das hat die Ärztin gesagt, die den Dodenschein ausgestellt hat«, erklärte Neusche. Er reichte dem Polizisten das Papier. Der steckte es in seinen Schreibblock.

      »Wir müssen überprüfen, ob jemand vermisst wird, das ist jetzt erst mal unser Job: rauskriegen, wer das überhaupt ist«, fasste Polizeihauptwachtmeister Biesold zusammen.

      Als alle Personalien und Aussagen erfasst waren, machten sich die beiden Beamten wieder auf den Weg nach Pirna, und Gustav Neusche blieb es überlassen, den Toten die nächste halbe Stunde zu bewachen. Wobei, Fluchtgefahr bestand ja nicht. Er verriegelte den Wagen und zog sich in sein Büro zurück.

      Kunath hatte seine Personalien und Fingerabdrücke geduldig aufnehmen lassen und war wieder auf seine Straßenbahnrunde gegangen. Adele Schuster war ebenfalls als Zeugin erfasst worden und hatte daraufhin wieder nach Hause gedurft. Für sie reichte es gerade noch, um sich umzuziehen und ihren Dienst bei der Bahn anzutreten.

      Als der Leichenwagen mit dem Toten endlich vom Hof des Straßenbahndepots rollte, war Neusche erleichtert. »Gott sei Dank sind wir den endlich los«, sagte er zu Didi. »Was muss der Kerl ooch in der Straßenbahn den Löffel abgeben. Der hätte sich doch netterweise ooch off ’ne Bank im Stadtpark setzen können. Das gibt nur Scherereien, so was!« Didi nickte mitleidig. »Echt dumm geloofen, Chef.«

      In Dresden kam der Tote in den Kühlraum und in die Warteschleife. Am späten Nachmittag dann hatte Gerichtsmediziner Dr. Heinrich Gräber die Leiche aus der Kinitzschtalbahn auf dem Tisch liegen. Sie war inzwischen entkleidet worden.

      »Nanu, was haben wir denn da?«, wunderte sich Dr. Gräber, als er den Körper umrundete. Auf Höhe des siebenten rechten Rippenbogens prangte ein großer blau-violetter Fleck, ähnliche, aber kleinere Hämatome fanden sich am rechten Oberschenkel und an beiden Oberarmen. »Sieht aus, als wäre der die Treppe runtergefallen!«, kommentierte der Assistent den Zustand der Leiche.

      »Na, dann wollen wir mal sehen, woran der Gute gestorben ist«, sagte Dr. Gräber und zog sich die Handschuhe über.

      Zwei Stunden später war er fertig und ließ sich mit dem Morddezernat der Kripo verbinden.

      »Hier ist Dr. Gräber von der Autopsie. Ich habe heute einen Toten reinbekommen, der eindeutig nicht eines natürlichen Todes gestorben ist. Da muss sich jemand von Ihnen drum kümmern.«

      2

      Am Donnerstagnachmittag hatte Leo Reisinger den Papierkram zu seinem letzten Fall erledigt, alles sorgfältig abgeheftet beziehungsweise an die zuständigen Stellen verteilt. Er würde die seltene Gelegenheit haben, seine aufgelaufenen Überstunden abzubauen, denn derzeit lag kein neuer Fall für ihn an. Die Aussicht auf eine ruhige Woche und das Rendezvous heute Abend ließ seine Stimmung hochschnellen. Als er seinen Schreibtisch abschloss, klingelte das Telefon. Auf dem Display konnte er die Nummer seines Chefs Reinhard Richter erkennen. Nichts Gutes ahnend, hob er den Telefonhörer ans Ohr und meldete sich.

      »Reisinger!«, bellte Richter. »Ich habe Doktor Gräber in der Leitung. Kümmern Sie sich um diesen Fall!«

      »Guten Tag, Herr Doktor Gräber«, sagte Leo Reisinger nach dem Verbindungsklicken und ließ sich ergeben auf seinen Bürostuhl sinken. Er kramte seinen Schreibblock wieder aus der Schublade und

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