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denn das Ehepaar machte mich darauf aufmerksam, dass das ‚Neue Theater‘ – du kennst es nicht mehr, es ist im Krieg den Bomben zum Opfer gefallen - für das Ballett ‚Meißner Porzellan‘ Kinderdarsteller sucht. Das interessiert mich, war mein erster Gedanke, und außerdem kann ich ein paar Pfennige verdienen. Ich begab mich deshalb schon bald auf den Weg zum Theater und nahm nach kurzer Zeit an ersten Proben teil, die vom Ballettmeister Jean Golinelli und den Solotänzerinnen Rosa Viebig und Agnes Donges geleitet wurden. Für die Proben, die meistens sonntags stattfanden, bekam ich kein Geld. Dafür gab es für jede Aufführung 25 Pfennige, und ich war 150 Mal dabei. Außerdem habe ich noch in Weihnachtsmärchen mitgespielt. Auch dafür bekam ich eine Gage von 25 Pfennigen pro Aufführung. Ich erinnere mich, dass eines der Märchen ‚Der Kurier des Zaren‘ hieß.“

      „Großvater, du hast Theater gespielt und zur gleichen Zeit auch noch im Delikatessengeschäft gearbeitet. Und zur Schule musstest du doch auch gehen? Wie hast du denn das geschafft?“

      „Na ja, als ich mit dem Theaterspielen begann, habe ich meine Stelle bei Wernicke aufgegeben und bin zur Firma Thietmeyer gegangen. Da war schon 19.00 Uhr Ladenschluss, und ich konnte um 19.30 Uhr im Theater sein. Hinzu kam, dass ich bei Thietmeyer sogar zwei Mark in der Woche verdiente. Aber die Frage, wie ich Theater, Arbeit und Schule unter einen Hut gebracht habe, ist schon berechtigt. Es war sehr hart, es hieß, die Zeit gut einzuteilen. Wenn ich damals in der Schule abgerutscht wäre, dann hätte ich nicht mehr Theater spielen dürfen, da hätte die Schule nicht mitgemacht. Ohne ihre Genehmigung ging nichts. Und wenn die Lehrer gewusst hätten, unter welchen Bedingungen ich meine Schulaufgaben erledigte, zum Beispiel auf den Steinstufen von Zscharmanns Haus am Blücherplatz, dann hätten sie mich im Handumdrehen ins Waisenhaus gesteckt. Davor aber hatte ich große Angst. Trotzdem bin ich eines Tages zusammen mit meiner Schwester dort gelandet.“

      „Wieso denn das?“

      „Lass es mich der Reihe nach erzählen. Ich habe damals die Ratsfreischule am Rosental in der Zöllnerstraße 3 besucht. Das war eine Schule der Stadt Leipzig, in der die Kinder unterrichtet wurden, deren Eltern kein Schulgeld aufbringen konnten. Die Ratsfreischule, eine Volksschule, war schulgeldfrei. Kaum zu glauben, dass sie einen so guten Ruf hatte. Der Unterricht und die Disziplin waren sogar besser als in den privaten Schulen.“

      „Dann hast du dich in dieser Schule wohlgefühlt?“

      „Ja, auf jeden Fall. Vor allem war der Schuldirektor Dr. Helm wie ein Vater zu uns. Ihm wird es sehr leid getan haben, als er mich und meine Schwester eines Tages zu sich rufen musste. Er teilte uns mit, ein Herr vom Rate, von der Stadt, sei wegen uns bei ihm gewesen und er wolle am nächsten Tag wiederkommen. Da ahnte ich nichts Gutes. Nach dem Gespräch bei Dr. Helm begab ich mich mit meiner Schwester auf den Heimweg. Wir wohnten jetzt bei Tante Klara im Gerichtsweg. Als wir bei ihr eintrafen, war sie gerade dabei, das Mittagessen auf den Tisch zu bringen. Da klingelte es an der Tür. Du kannst dir nicht vorstellen, wer da zu Besuch kam.“

      „Nein, wer kam denn da?“

      „Kein anderer als der Herr vom Rat, übelgelaunt. Er hatte den weiten Weg vom Rosental bis zu uns nach Reudnitz bei großer Hitze nehmen müssen. Wir durften keinen Bissen essen, sondern mussten sofort mit ihm zurück in die Stadt laufen. Das Ziel war die Münzgasse.“

      „Wo ist die denn? Und warum hat er euch dorthin gebracht?“

      „Die Münzgasse geht vom Peterssteinweg ab. Den kennst du doch?“

      „Der ist in der Nähe vom Leuschnerplatz?“

      „Ja, richtig. Und nun will ich dir sagen, was uns in der Münzgasse erwartete: Das Waisenhaus. Gott sei Dank existierte zu dieser Zeit das ehemalige ‚Zucht-, Arbeits- und Waisenhaus‘ nicht mehr.

      „Aber das war ja trotzdem schlimm.“

      „So sah es anfangs auch aus. Der Waisenhausvater, ein alter ehemaliger Feldwebel begrüßte mich mit den Worten: ,Du bist wohl auch so eine Akazie wie der dort‘ und wies dabei auf einen am Fenster stehenden Jungen. Du kannst dir gut vorstellen, dass ich sehr erschrocken und eingeschüchtert war. Als ich aber dann beim Abendbrot die Waisenhausmutter Schwabe kennenlernte, da ging es mir schon etwas besser. Sie war sehr gut zu mir, und wie ich später erleben konnte, war sie zu allen ihr anvertrauten Kindern wie eine gute Mutter. Dann gab es noch den Waisenhausdirektor mit seiner Familie. Auch die waren für uns gute Freunde. Ich muss schon sagen, wir waren hier in der Münzgasse sehr gut untergebracht, hatten unsere Ordnung und wurden liebevoll behandelt. Aber mit dem Theaterspielen war es von nun an vorbei. Die Bretter, die die Welt bedeuten, sollte ich erst viel später wieder betreten.“

      „Wie lange, Großvater, warst du eigentlich im Waisenhaus?“

      „Mit zwölf Jahren bin ich dorthin gekommen und mit vierzehn Jahren konnte ich es wieder verlassen. Ich war bis zur Konfirmation zu Palmarum 1893 dort. Das Beste, was mir im Waisenhaus passieren konnte, war, dass sich ein Erzieher, der Hilfsgeistliche Scheibe und späterer Pfarrer der Reformierten Kirche Leipzig, ganz besonders liebevoll um mich kümmerte. Dem habe ich wirklich sehr viel zu verdanken. Jeden Sonntag hat er mit mir einen Spaziergang unternommen, mir jeden Winkel der Stadt gezeigt, viel über Leipzig erzählt und mit mir über Gott und die Welt gesprochen. So verlief mein Leben vom 12. bis zum 14. Lebensjahr in ruhigen Bahnen. Mit 14 Jahren schloss ich die Schule ab und sollte eine Lehrstelle als Schmied in Klosterbuch annehmen. Das Schurzleder war schon bei Rohr am Obstmarkt angemessen worden. Aber ich hatte überhaupt keine Lust, Schmied zu werden. Viel lieber wollte ich mich zum Mechaniker ausbilden lassen, denn ich bastelte für mein Leben gern. Als ich darüber mit dem Waisenhausdirektor sprach, warnte er mich, dass ich dann keinerlei Unterstützung bekäme. Das war mir egal. Ich habe ihm versichert, meine Großmutter würde für mich sorgen, was eine Notlüge war. Aber, wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“

      „Da bist du ja ganz schön mutig gewesen.“

      Lehrjahre in Leipzig

      „Ich habe mir eine Lehrstelle beim Mechanikus Ferdinand Schwannike in Schüttels Hof, im Gerichtsweg 14, besorgt und vier Jahre bei ihm gelernt. Das Gute war, dass ich kein Lehrgeld bezahlen musste, das weniger Gute, dass ich im ersten Lehrjahr keinen Lohn bekam.“

      „Da musstest du ja hungern!“

      „Das war wirklich nicht leicht. Ihr jungen Leute von heute könnt euch kaum in eine solche Lage versetzen. Ich musste neben meiner Lehre Geld verdienen. So schrieb ich Adressen für Daube und Companie in der Nikolaistraße. Für 1000 Adressen bekam ich drei Mark, und ich schrieb 1000 pro Woche. Außerdem war ich noch beim Bäckermeister Walter in der Antonstraße 8 beschäftigt. Für ihn schloss ich Brezeln, das heißt, ich formte aus Teigschlangen Brezeln. Für mein Essen in der Speiseanstalt im Alten Johannishospital hätte ich 17 Pfennige pro Portion zahlen müssen, also 1,01 Mark für sechs Tage. Ich aß aber im Abonnement. Da kostete das Essen nur eine Mark pro Woche. So konnte ich zwei Pfennige sparen. Für Brot und Zubrot benötigte ich noch eine Mark. Und dann noch eine weitere für meine Schlafstelle beim Buchbinder Helfer in der Kreuzstraße 19. Mein Bett stand in der Küche und war eine Bettkommode mit Deckel. Tagsüber wurde sie mit allerlei Küchengerät besetzt. Wenn ich abends nach Hause kam, räumte ich die Sachen ab, öffnete die Kommode und legte mich auf meinen Strohsack.“

      „Konntest du denn dort überhaupt richtig schlafen?“

      „Ach, ich war abends so müde, dass mir die Augen von selbst zufielen, sobald ich mich auf den Strohsack gelegt hatte. Und dann musst du wissen, dass ich im zweiten Lehrjahr in der Woche zwei Mark verdiente, im dritten Lehrjahr drei und im vierten sogar vier Mark. Da sah ich meine Übernachtungsmöglichkeit sowieso in einem etwas rosigeren Licht. In den beiden letzten Lehrjahren empfahl mir mein früherer Lehrer Theodor Scharf, die Polytechnische Sonntagsschule zu besuchen. Ich folgte seinem Rat. Nun lernte ich, nachdem mir mein Meister schon viel beigebracht hatte, selbständig über technische Lösungen nachzudenken und Neues zu entwickeln. Ich tüftelte damals sogar an einer Schutzhaube für die Kreissäge. Beim Arbeiten an diesem Gerät hatten sich einige Kollegen immer wieder mal verletzt. Mit meiner kleinen Erfindung wollte ich größere Unfälle vermeiden helfen.

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