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das auf dem Weg dorthin den Mut verlor, ungeduldig wurde und nörgelte: ,Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt? Wären wir doch dort gestorben!‘ Der Herr schickte Moses daraufhin feurige Schlangen und befahl ihm, eine kupferne Schlange anzufertigen und diese auf eine Signalstange zu hängen. Jeder, der gebissen und zur Schlange aufschauen würde, sollte geheilt werden und den Weg in das Land der Freiheit fortsetzen können. Und weißt du was, der Mann, der dieses Gebäude, vor dem wir stehen, bauen ließ, glaubte fest daran, dass die goldene Schlange, also der göttliche Beistand, auch bei wirtschaftlichen Angelegenheiten nützlich sein könnte. Deshalb ließ er die goldene Schlange an dem Gebäude anbringen.“

       Die Goldene Schlange in Barthels Hof

      „Großvater, sei nicht böse, aber du hast mir schon so viel erzählt, dass nichts mehr in meinen Kopf reinpasst. Können wir bitte weitergehen?“

      „Selbstverständlich. Ich schlage vor, wir versuchen einmal, im Café ,Corso‘ zwei Plätze zu bekommen.“

      Und so machen wir uns auf den Weg dorthin. Das Café, ausgestattet im Wiener Stil mit kleinen Marmortischen, Ornamenttapete, Wandleuchten und Spiegeln, ist fast bis auf den letzten Platz besetzt. Ein paar Damen sitzen beim Kaffeeklatsch, ein Herr mit grau meliertem Haar blättert in einer Tageszeitung, die in einen Lesestock geklemmt ist. Ein junges Paar schaut sich verliebt in die Augen und hat die Welt um sich herum vergessen. Studenten schauen in ihre Notizen oder lesen Bücher. Großvater und ich finden noch in einer Ecke zwei Plätze. In diesem Moment kann ich nicht ahnen, dass ich Jahre später als Studentin im ‚Corso‘ oft in den Vorlesungspausen mit meinen Kommilitonen zusammensitzen würde. Großvater bestellt zwei Tassen ‚Bliemchenkaffee‘ und zwei ‚Leipziger Lerchen‘.

      „Hast du schon mal eine ‚Leipziger Lerche‘ gegessen?“, fragt er mich.

      „Nein, noch nie. Was ist das?“

      „Ein Gebäck, sein Name erinnert daran, dass die Leipziger früher, vor allem an Festtagen, Lerchen gegessen und die Stadtväter deshalb die Jagd auf diese Vögelchen verboten hatten. Da dachten sich Leipziger Wirte ein mit Marzipan gefülltes Gebäck aus, das bis heute den Namen ‚Leipziger Lerche‘ trägt.“

      Nachdem Großvater bezahlt hat, verlassen wir das ‚Corso‘ und laufen hinüber zur Mädler-Passage. Viele Passanten eilen an den Ladengeschäften vorbei, einige schauen sich die überlebensgroßen Figuren vor dem Eingang zu Auerbachs Keller an: Mephisto und Faust auf der einen und die von Mephisto verzauberten Studenten auf der anderen Seite. Großvater führt mich die Treppe zum historischen Gasthaus hinunter. Er läuft mit mir durch den ‚Großen Keller‘ und die ‚Historischen Weinstuben‘ bis zum ‚Fasskeller‘, der durch Goethes ‚Faust‘ berühmt geworden ist. Ich bin sehr beeindruckt von dem aus Holz geschnitzten Hängeleuchter unter dem Tonnengewölbe, der Faust auf einem Fass reitend zeigt. Das bemerkt mein Großvater und erklärt mir deshalb, dass der Schwarzkünstler Dr. Faustus zur Ostermesse 1525 in den Auerbachs Hof gekommen und in den Weinkeller hinabgestiegen sei. Hier habe er sich bei Gesang, Wein, Geigen-, Flöten- und Lautenspiel sehr wohlgefühlt. Zusammen mit seinem dienstbaren Geist Mephisto habe er sich an die Tafel zu den Zechgesellen gesetzt und denen über seine Reisen in ferne Länder erzählt. Da seien in den Keller einige ‚Schröter‘ hereingeplatzt, die ein Weinfass nach oben schroten wollten. Als ihnen das nicht gelang, soll Faust über sie gespottet haben. Da habe der Wirt angeboten, demjenigen das Fass zu überlassen, der es aus dem Keller bringen würde. Daraufhin soll sich Faust auf das Fass wie auf ein Pferd geschwungen haben und nach oben geritten sein. Voraus sei ein Hündchen gelaufen, das niemand anderer war als Mephisto, der seine Verwandlungskünste genutzt hatte.

       Faust und Mephisto vor Auerbachs Keller

      „Davon werde ich heute Nacht träumen“, sage ich zu Großvater, denn in meiner Fantasie wird der ‚Fassritt‘ lebendig. Ich glaube sogar, das Ah und Oh der Gäste von damals zu hören, die dem Wein schon ordentlich zugesprochen hatten, als Faust auf dem Fass aus dem Keller ritt. Doch schon werde ich in die Wirklichkeit zurückgerufen.

      „Dort drüben ist das steinerne Hauszeichen des Grundstücks“, macht mich Großvater auf den Bacchusknaben mit dem Krug und dem Fass aufmerksam. Ich kann die Zahl 1530 erkennen.

      Noch ganz gebannt von dem Erlebten laufe ich mit Großvater durch das Gasthaus zurück nach oben in die Passage, von dort zum ‚Alten Markt‘, weiter zur Thomaskirche und dann in Richtung Schauspielhaus. Kurz bevor wir gegenüber der Thomaskirche in die Gottschedstraße einbiegen, bleibt Großvater stehen.

      „Weißt du, dass früher hier an dieser Stelle der Pleißemühlgraben war, auf dem man Boot fahren und Schlittschuhlaufen konnte? Anfang der 50er Jahre hat man ihn zugeschüttet.“

      „Wieso denn das?“

      „Das Wasser im Mühlgraben ist seit den 1940er Jahren durch das Abwasser der petrolchemischen Industrie im Süden von Leipzig sehr stark belastet worden. Der Geruch war durch die phenolhaltigen Schaumkronen fast unerträglich. Übrigens sind der Mühlgraben der Pleiße und der Mühlgraben der Weißen Elster vor Jahrhunderten angelegt worden, um mehrere Mühlen betreiben zu können: die Barfußmühle, die Thomasmühle und die Nonnenmühle am Pleißemühlgraben und die Angermühle am Elstermühlgraben. Die Namen der Mühlen kannst du dir ganz leicht merken: ‚Thomas ging mit seiner Nonne barfuß über’n Anger weg.‘

      Mehrere Male wiederhole ich den Vers. Bis heute habe ich ihn nicht vergessen.

       Bacchusknabe mit Krug

      So wie an diesem Tag war ich oft und gern mit meinem Großvater auf Erkundungen in der Stadt unterwegs. Aber das war bei Weitem nicht das einzige, wofür ich ihm noch heute dankbar bin. Großvater hat sich auch immer Zeit genommen, mit mir Dinge zu besprechen, die mich als junges Mädchen interessiert haben. Dabei kam ich oft aus dem Staunen nicht heraus, was für ein Wissen er besaß und wie lebensklug er war. Als ich meinen Großvater eines Tages daraufhin ansprach, maß er dem keine Bedeutung bei. Aber dann versprach er mir, in den kommenden Wochen immer wieder einmal etwas aus seinem Leben zu erzählen und darüber, wie er sich ein bestimmtes Wissen angeeignet hat. Er wusste, dass er in mir eine gute Zuhörerin haben würde.

      Schwere Kindheit

      An einem warmen Frühlingstag sitzen Großvater und ich auf einer Bank unter der Linde hinter dem Haus, in dem sich meine Großeltern, meine Mutter und ich seit 1946 eine Wohnung teilen. Ich besuche die 9. Klasse der Erweiterten Oberschule und bin vor etwa zwei Stunden nach Hause gekommen. Mein Großvater – 76 Jahre alt, noch volles schwarzes Haar und Menjou-Bärtchen – schaut mich aus seinen gutmütigen braunen Augen an und fragt, ob er heute beginnen solle, sein Versprechen einzulösen, mir einiges aus seinem Leben zu erzählen. Als ich ihm sage, dass ich schon lange darauf warte und sehr gespannt bin, beginnt er zu erzählen:

      „Du wolltest neulich wissen, warum ich mich in unserer Stadt recht gut auskenne. Da muss ich mit meiner Kindheit anfangen. Ich wurde im Februar 1879 in Deutrichs Hof geboren. Das war ein Durchgangshof mitten in der Innenstadt von Leipzig, der sich zwischen der Reichsstraße und der Nikolaistraße erstreckte. Dort verbrachte ich die ersten Jahre meiner Kindheit. Als ich sechs Jahre alt war, starb mein Vater mit nur neununddreißig Jahren. Von da an habe ich erfahren müssen, wie hart das Leben sein kann. Meine Mutter kam über den Tod ihres Mannes nicht hinweg, sie wurde krank und hatte Mühe, sich um meine Schwester und mich zu kümmern. Ein Glück, dass unsere Tante Klara oft zu uns kam und uns zur Seite stand. Wir hatten damals sehr wenig Geld, und so musste ich zu unserem Lebensunterhalt beitragen. Ich machte kleinere Besorgungen für ältere Leute und trug Reklamezettel aus. Dafür bekam ich wenige Pfennige. Mit zehn Jahren fand ich Arbeit im Delikatessengeschäft Wernicke in der Nikolaistraße. Dort erhielt ich außer einem Lohn von 1,50 Mark

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