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      Ein alltägliches Beispiel für schamanische Trance

      Wohl jeder routinierte Autofahrer, der Tag für Tag dieselben Strecken abfährt, könnte das Folgende erzählen: »Ich bin soeben eine mir sehr gut bekannte Strecke von meinem Arbeitsplatz bis nach Hause gefahren. Die Fahrt muss wie gewöhnlich etwa eine Stunde lang gedauert haben. Währenddessen war ich allerdings die ganze Zeit mit meinen Gedanken woanders. Dabei habe ich die Strecke und auch die Fahrt gar nicht mehr richtig wahrgenommen, obwohl ich an sich aufmerksam für den Verkehr war. Ich weiß, dass ich an der großen Ampelkreuzung vorbeigefahren sein muss, dann das kurze Waldstück passiert haben muss und danach am Supermarkt vorbeigefahren bin. Aber ich kann mich an diese einzelnen Etappen überhaupt nicht mehr erinnern. Ich habe nicht einmal die Dauer der Fahrt realisiert; mir kam es eher so vor, als seien es nur fünf oder höchstens zehn Minuten gewesen.«

       Kennen Sie diesen Zustand? Ja? Dann wissen Sie auch, um was es sich beim so genannten schamanischen Bewusstseinszustand handelt. In den folgenden Kapiteln werden Sie lernen, wie man solche Trancezustände durch schamanische Reisen gezielt herbeiführen kann und wie überraschend einfach und wunderbar es sich in ihnen spirituell arbeiten lässt.

      Der Kosmos der Schamanen

      Erlebnisberichte über das Erreichen schamanischer Bewusstseinszustände liegen uns aus den verschiedensten Kulturen vor. Legenden, Sagen, Märchen und Lieder künden von Menschen, die sich auf spirituelle Reisen begeben haben. Ihre Erfahrungen dabei sind durchaus ähnlich. Berühmt ist die Geschichte des Ritters Owein, der zur Zeit der Regentschaft des englischen Königs Stephan von Blois (1135-1154) lebte. Er macht sich eines Tages auf den Weg, um dem Bischof der irischen Diözese Clogher seine zahlreichen und schweren Sünden zu beichten. Seine Bußübung hatte sich der Ritter bereits im Vorfeld ausgedacht. Auf sein Drängen hin erlaubte ihm der geistliche Herr widerwillig, zur spirituellen Reinigung das Fegefeuer des heiligen Patrick, »St. Patrick's Purgatory«, zu besuchen, welches in seinem Amtsbereich lag.

      Die Erlebnisse des irischen Ritters Owein geben bereits erste Hinweise darauf, wie sich das schamanische Weltbild aufbaut.

      Dieses Fegefeuer befand sich in einer schmalen Höhle, nur etwa einen Meter breit, drei Meter tief und so niedrig, dass man darin nur knien konnte. Die Höhle war auf einer kleinen Insel von nicht mehr als 8000 Quadratmetern Fläche inmitten eines einsamen Sees im Norden der heutigen Republik Irland gelegen. Lough Derg, wie er genannt wird, liegt in völliger Abgeschiedenheit in einer weiten, grünen Hügellandschaft.

       Der Prior des Inselklosters warnte den Ritter vor dem Weg, der ihm bevorstand. Schon viele hätten die Höhle besucht, aber so mancher sei nicht lebendig zurückgekommen. 16 Tage lang bereitete sich Ritter Owein auf das Fegefeuer vor, mit Fasten, Gebeten und Bußritualen. Dann betrat er den Felsspalt.

       Genau 24 Stunden, nachdem er die Höhle betreten hatte, verließ er sie wieder, freudig vom Prior und seiner Gemeinde empfangen. Was er dort erlebt hatte, erzählte er später einem Zisterzienser- Bruder aus dem Kloster Saltery im englischen Lincoln. Der Mönch protokollierte den Bericht in lateinischer Sprache.

      Der Bericht des Ritters

      Zunächst gelangte Owein in verschiedene düstere Gebäude, dann durchstreifte er Täler und weite Ebenen. Dabei begegnete er gefährlichen Dämonen, die ihn zehn verschiedenen Martern unterzogen. Er sah Teufel, die sündenbeladene Seelen mit weißglühenden Nägeln und in Kesseln voll mit brodelndem geschmolzenem Metall quälten.

       Schließlich überquerte er sicher einen trügerischen Steg, der zum Eingang der Hölle führte, und gelangte schließlich in ein Paradies voller Schönheit und Freuden. Auf demselben Weg, den er gegangen war, kehrte er später auch wieder zurück, diesmal jedoch ohne weiteren Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt zu sein.

      Es heißt, der Owein-Bericht habe den berühmten italienischen Dichter Dante Alighieri zu seiner »Göttlichen Komödie« inspiriert.

      Die Verbreitung des Berichts in Europa

      Die Beschreibung der visionären Erlebnisse des englischen Ritters machte in Europa rasch die Runde, und die kleine Insel in dem einsamen irischen See wurde zum berühmten Wallfahrtsort. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war er sogar so bekannt, dass beispielsweise auf einer Weltkarte aus dem Jahr 1492 das »St. Patrick's Purgatory« als einzig erwähnenswerter Ort in ganz Irland verzeichnet war.

       Für uns ist der Bericht über das Höhlenerlebnis des Ritters Owein heute so interessant, weil er erstaunliche Gemeinsamkeiten mit den Erlebnissen sibirischer, schwarzafrikanischer oder indianischer Schamanen aufweist.

       Als Eingang in die untere Welt kann beispielsweise der Quelltopf eines Geysirs dienen, eine heiße Quelle, die in regelmäßigen Zeitabständen eine Wasserfontäne ausstößt.

      Warum der Bericht schamanische Elemente aufweist

      Nun mag es den Gegeneinwand geben, dass der Ritter als gläubiger Katholik schon aufgrund seiner religiösen Erziehung mit Höllen- und Himmelsvisionen vertraut war und sein Bericht über das Fegefeuer deshalb nichts mit schamanischem Erleben zu tun habe. Doch umfasste seine Erzählung weit mehr als die bekannten Elemente aus der christlichen Überlieferung. So schritt er, lange bevor er das Höllenszenario erreichte, durch düstere Gebäude und durchstreifte im Anschluss daran noch Täler und weite Ebenen. Dieses ausgedehnte Herumschweifen kann niemand erleben, der - getrieben von strengen Selbstbeschuldigungen und Bußfertigkeit - ausschließlich strafende Höllenvisionen erwartet. Genau diese Art der Wanderungen und des Erlebens ist jedoch typisch für schamanische Reisen.

      Auch ein Schamane ist bei der Wahrnehmung und Deutung der Bilder, die ihm im schamanischen Bewusstseinszustand begegnen, nicht frei von der Prägung durch sein kulturelles Umfeld.

      Volksmärchen mit schamanischen Wurzeln

      Schöne Beispiele finden wir auch in unseren alten Volksmärchen, die ebenfalls schamanische Wurzeln haben. So fällt im Märchen von »Frau Holle« die Heldin der Geschichte, Goldmarie, in einen tiefen Brunnen und gelangt anschließend in ein blühendes Land. Hier bittet sie ein Apfelbaum darum, geschüttelt zu werden und Brote mit menschlicher Stimme rufen, das Mädchen möge sie doch aus dem Backofen befreien. Danach erst trifft sie auf das Haus von Frau Holle und lässt es beim Bettenschütteln auf der Erde schneien. Diese Geschichte könnte in anderer Gestalt genauso gut das Protokoll der Trancereise eines schamanischen Regenmachers sein.

      Welche Erfahrungswelten Trancereisen zugrunde liegen

      Doch zurück zu Ritter Owein. Gewiss war er als Kind seiner Zeit von der Vorstellungswelt des christlichen Mittelalters in Bezug auf die Begriffs- und Bildwelten von Himmel und Hölle beeinflusst. Aber woher stammen diese Vorstellungen ursprünglich? Welche Erfahrungen stecken darin?

       Ein ganz besonderes Beispiel aus der christlichen Überlieferung gibt uns die Kreuzigungserfahrung Jesu Christi. Im Neuen Testament ist sehr präzise aufgezeichnet, was Jesus nach seiner Kreuzigung auf dem Hügel Golgatha widerfuhr: »Gekreuzigt, gestorben und begraben; niedergefahren zur Hölle; am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten. Aufgefahren zum Himmel...«

      Die Nahtodeserfahrung Jesu Christi

      Es ist in diesem Zusammenhang müßig, hier die viel diskutierte Frage aufzuwerfen, ob Christus nach seiner Kreuzigung wirklich tot war oder nicht. Mediziner und Physiologen gehen heute übereinstimmend davon aus, dass er nach den Folterqualen am Kreuz in ein Koma verfiel. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Jesus sich zwar in tiefster Bewusstlosigkeit befand, nicht aber tot im eigentlichen Sinn war.

      

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