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klar: Er war im Begriff, sein Versprechen zu brechen: „Nein, sagen Sie ihm, nichts ist fertig. Gar nichts. Überhaupt nichts!“

      Verwundert sah Jenny ihn an.

      ˘ ˘ ˘

      Eine Woche nach dem Ende der Therapie hatte Christian bereits begonnen, sein Versprechen peu á peu umzusetzen. Schon am übernächsten Tag saß er mit Sonja im Großraumwaggon. Die Sonnenstrahlen wurden von vorbeiziehenden Strommasten gebrochen und ließen den winzigen Glasstein an Sonjas Nasenflügel schillern. Er liebte ihr warmes Lächeln, ihren Humor und ihre Marotte, zwanzigmal am Tag das lange, rote Haar aufzustecken und wieder zu öffnen.

      Der Intercity würde sie in sieben Stunden in seine Tiroler Heimat bringen. Er wollte seinem Vater nicht nur persönlich die Fragmente des nächsten Werbekatalogs präsentieren, sondern ihm vor allem Sonja vorstellen. Weil sie so gar nicht zu seiner erzkonservativen Familie passte, hatte er zu Hause nichts von ihr erzählt, obwohl er sie schon seit vier Jahren kannte und fast zwei mit ihr zusammenlebte.

      Schnell noch hatte er Sonja ein graues Kostüm und neue Stiefel spendiert. Die Entscheidung war natürlich schwierig gewesen: schwarze Stiefletten oder violette Overknees? Vor die Wahl gestellt zwischen stundenlangem Probieren oder dem Ziehen der Scheckkarte, hatte sich Christian für Letzteres entschieden. Ein schwarzes Lackkäppi musste auch noch mit, schließlich passte es zu ihrem grünen Lack-Anorak – Sonja liebte schrille Klamotten.

      Er nahm sich vor, dem Vater die geplante Hochzeit als wohlüberlegte Entscheidung zu präsentieren. Auch wenn ihm das gelingen sollte, würde Vater auf einen Ehevertrag pochen. Das Wohl der Firma war ihm heilig. Mochte eine solche Regelung durchaus sinnvoll sein, so würde für Sonja der Vertragstext jegliche Romantik und alles Grenzenlose zerschmettern. Müsste sich Christian mit ihr vor einen Rechtsanwalt setzen und die finanziellen Optionen im Falle einer Scheidung erörtern, wäre das eine Katastrophe. Für Sonja bedeutete Liebe Fliegen.

      Rechtsanwälte verhandeln Abstürze.

      Christian hatte Sonja viel von seinem Vater erzählt: Der fünfundsechzigjährige Alfred war dank seiner Firma ein bekannter Mann in Tirol. Er galt als fleißig, leidenschaftlich und cholerisch. Was sie über den Senior erfahren hatte, verunsicherte Sonja. Sie griff nach den Keksen, die Christian mitgenommen hatte, und versuchte sich abzulenken. Süßes beruhigte sie. Immer.

      Die Klimaanlage im Waggon funktionierte nicht, Christian kam ins Schwitzen. Weil es in Innsbruck im März normalerweise noch ziemlich kalt war, hatte er sein erdfarbenes Harris Tweed-Jackett, einen dicken Rollkragen und statt seiner üblichen Jeans eine Cordhose angezogen.

      Im Speisewagen besorgte er sich Wasser. Mit jedem Schluck, mit jedem Kilometer, mit jedem Gedanken, der ihn näher nach Hause brachte, sah er seinen Vater deutlicher vor sich: ein energischer, herzkranker Mann, der sich leicht echauffierte. Besonders bei familiären Konflikten.

      Schon jetzt fühlte er Vaters Zorn. Und sein Schweigen. Minutenlang. Tagelang. Wochenlang. Bis Mutter versuchen würde, den Familienfrieden zu retten. Er wusste, sie würde ihn abends zur Seite nehmen und auf ihn einreden: Sonja ist doch über zehn Jahre jünger als du. Die muss sich doch erst einmal ausleben, wer weiß, ob die wirklich für immer bei dir bleibt. Und ihr Studium! Philosophie konveniert ja gar nicht mit der Familie. Was wird die später einmal arbeiten? Du wirst sie dein Leben lang durchfüttern müssen, hast du dir das überlegt? Denk nach, du hast ja noch so viel Zeit.

      Hatte er nicht. Seine private, empirische Untersuchung brachte ein ernüchterndes Ergebnis: Die begehrtesten Frauen in seinem Alter waren bereits vergeben! Er hatte Sonja vor vier Jahren beim Squash kennengelernt. Trotz ihres leichten Übergewichts war sie eine starke Spielerin: Geschmeidig, direkt und impulsiv. Obwohl er fast täglich joggte, hatte er Mühe, mit ihrem Spieltempo mitzuhalten. Manchmal zeigte sie eine Schwäche, die er zu nutzen versuchte, die sich aber oft als Finte herausstellte. Lang anhaltende Harmonie konnte sie nicht ertragen, da schon lieber mal eine Krise, heftige Emotionen, eskalierender Streit und leidenschaftliche Versöhnung – Letzteren war er verfallen. Ein wenig war sie eine Drama-Queen, sie hatte begonnen, Französisch, Japanologie und Geschichte zu studieren, hatte alles nach weniger als einem Semester wieder abgebrochen, um sich schließlich für Philosophie zu entscheiden. Weil sie sich da nicht auf ein spezielles Gebiet begrenzen musste, sondern durch die Art ihrer Fragestellungen mit allen Lebensbereichen beschäftigen konnte. Trotz ihres Wankelmuts mochte er ihre spontane Art, ihren Witz und ihren festen, wohlgeformten Körper.

      Als er sie ein paarmal zum Squashen getroffen hatte, rammte sie nach dem Spiel mit ihrem Fahrrad eine Absperrung. Unterschenkelbruch. Heftige Schmerzen. Komplizierte Heilung. Ein Marknagel musste ihr zur Stabilisierung eingesetzt werden. Für 18 Monate. Ihren Restaurantjob, mit dem sie ihr Studium finanziert hatte, konnte sie nicht mehr wahrnehmen. Verzweifelt wollte sie ihr Studium hinschmeißen. Doch Christian munterte sie auf und pflegte sie gesund. Vor allem aber bezahlte er ihr den Studienabschluss, denn er bewunderte ihr Talent, Fragen zu stellen und Thesen zu entwickeln. Dafür war sie ihm unendlich dankbar.

      Hoffte er zumindest.

      Das Treffen in Vaters Büro hatte Christian für 15:30 Uhr vereinbart. Danach erst wollte er mit seiner Familie über die Hochzeit sprechen. Am Innsbrucker Bahnhof stieg er mit Sonja ins Taxi. Er nannte das Fahrziel.

      „Selikowsky, die Filzfabrik?“, fragte der Fahrer.

      Christian nickte und blieb mit seinem roten Schal an der Autotür hängen. Rasch zog er ihn zurück und stopfte ihn in seine braune Daunenjacke.

      „Schöne Mäntel machen die da“, setzte der Mann im blauen Holzfällerhemd nach, „tolle Qualität.“

      „Und?“, fragte Sonja, „haben Sie einen?“

      Er lenkte den Wagen vom Bahnhofsplatz und schüttelte abfällig den Kopf: „Können sich nur Gschtopfte leisten!“ Sonja sah zu Christian, er glaubte einen Vorwurf in ihrem Ausdruck zu erkennen und zuckte die Schultern: „Für die Preise bin ich nicht verantwortlich!“

      Sie erreichten das Werksgelände am Rande Innsbrucks. Die steilen Gipfel des Patscherkofels legten einen breiten Schatten über das Werkstor. Arbeiter und Angestellte strömten aus zwei großen Backsteinbauten. Christian blickte auf seine Armbanduhr: Freitag, kurz nach vier. Feierabend. Sie waren zu spät.

      „Beeil dich“, raunte er zu Sonja, schulterte ihren Rucksack und zog raschen Schrittes seinen Trolley hinterher. „Manno, komm ja schon …“

      Sonjas Stiefelabsätze klapperten die alte Holztreppe empor, in der gründerzeitlichen Firmenvilla befanden sich nur Büros. Christian schob Sonja auf eine Glastür im ersten Stock mit der Aufschrift Geschäftsführung Alfred Selikowsky zu. Er ärgerte sich: Der Zug hatte über eine Stunde Verspätung gehabt, er konnte nichts dafür, aber es passte wieder mal genau zu Vaters Bild von ihm – immer zu spät, immer ein wenig chaotisch. Er gab sich einen Ruck und öffnete die Tür.

      Eine fünfzigjährige Frau saß hinter einem Flachbildschirm, sie hatte ein feines, ebenmäßiges Gesicht, ihre brünetten Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt. Sie trug einen beigefarbenen Pullover und einen langen, braunen Rock. Auf ihrem Schreibtisch herrschte penible Ordnung. Eine in silber gefasste Brille umrandete ihre blaugrünen Augen. Freundlich sah sie die Besucher an: „Guten Tag, Christian. Wir haben Sie schon erwartet.“

      „Tut mir leid, Frau Armbrust, der Zug hatte …“

      „Kein Problem“, unterbrach sie ihn, „Ihr Vater hat noch Besuch. Wenn Sie bitte kurz Platz nehmen.“

      Frau Armbrust deutete auf ein rotes Sofa im Besucherbereich. Christian zögerte: Warum empfing Vater gerade jetzt jemand anderen? Warum ließ er ihn warten? Wollte er ihn wegen der Verspätung bloßstellen?

      „Schön, dass Sie uns wieder mal beehren“, setzte Frau Armbrust nach. Christian verstand die leise Kritik, er reiste ungern nach Innsbruck, ein- bis zweimal im Jahr vielleicht, wenn überhaupt. Was ihm seine Eltern übel nahmen. Offensichtlich vertrat Frau Armbrust nicht nur die beruflichen Ansichten seines Vaters. Lächelnd streckte sie Christians Begleiterin die Hand entgegen: „Bettina Armbrust, ich bin die persönliche Assistentin des Chefs.“

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