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extrem eklig, richtig arme und bedauernswerte junge Russen.

      Tante Friedel flitzte rasch zu den beiden hin, nahm das junge Mädchen bei der linken Hand und führte beide in den Vorsaal. „Gretel, komm mal bitte mit und hilf mir!“ Sofort rannte Mutti auch dorthin. Mutti und Tante Friedel erzählten später, dass sie die beiden komplett ausgezogen und die Lumpen gleich unter dem Kessel verbrannt hatten. Danach erhielten sie Bademäntel, die immer in der Küche hingen, umgehängt und wurden in eine Zinkwanne im Zugang zum Kuhstall gesteckt. Sie waren ängstlich, machten aber bereitwillig alles mit. Natürlich erfolgte dies der Reihe nach, da Tascha sehr schüchtern und unsicher zur Seite schaute. Sie wurde erst einmal in die Stube geführt, solange der junge Mann an der Reihe war. Dann suchten Mutti und Tante Friedel neue Anziehsachen für die beiden heraus und kleideten sie einigermaßen vernünftig an. Sie spürten, dass dies zu ihrem eigenen Wohle war und schauten schon etwas dankbarer und offener in die Welt. Nach dieser Prozedur ging Mutti mit einladendem, freundlichem Blick auf die beiden zu, nahm das junge Mädchen bei der Hand und führte sie ins Wohnzimmer. Dort sagten Friedchen und Mutti: „Wir haben die beiden etwas versorgt und eingekleidet. So fühlen sie sich sicherlich etwas wohler. Das ist Tascha aus Russland – mir wurde gesagt, dass sie auf einem Kolchos als Viehzüchterin gearbeitet hat.“ Während meine Mama sprach, stand Tascha immer noch sehr verkrampft da, das Zittern hatte jedoch etwas nachgelassen. Sie schaute aber immer noch mit fast waagerechtem Kopf auf den Fußboden. Mama streichelte sie an der Wange, da hob sie leicht den Kopf und wurde puderrot.

      „Setz dich dahin, Tascha“, kommandierte meine Großmutter. Ihr Blick war aber gütig und warm.

      Der junge Mann stand immer noch nahe der Tür zum Kuhstall und Mama rief sehr laut: „Komm bitte auch zu uns Nikolajewitsch, oder so ähnlich – so heißt du doch?“

      Er hob den Kopf, kam vorsichtig und ich fand, ein wenig devote, langsam in die Stube und schaute meine Mutter an: „Ich heiße Nikolai, Strawstwui.“

      „Guten Tag Nikolai, am besten du setzt dich mit Tascha hier an das Fenster.“

      „Marcel und Johann, bitte an die Längsseite.“

      Aufgeregt quasselte ich dazwischen: „Oma, ich will zu Johann – der ist Klasse und wirft mich in die Luft.“

      „Wenn du denkst, mein Junge, dann mache das so und du Lothar, gehst zu Marcel.“

      Nun saßen alle am Tisch und es trat eine peinliche Stille ein. Immerhin waren wir jetzt vier Personen mehr und darunter Fremde, die uns zur Arbeit zugeteilt worden waren. Alle spürten diesen Druck und die Ungerechtigkeit, dem die vier ausgesetzt waren. Immerhin waren sie durch die Nazis aus ihren Familien und der üblichen Umgebung herausgerissen worden und dies sicherlich mit brutaler Gewalt, es war eine entmündigende Deportation – die Erwachsenen wussten das.

      Oma und Mama waren in die Küche gegangen, um das Essen für das Abendbrot hereinzuholen. Damit fehlten die Hauptpersonen, die vorhin alles geregelt und viel gesprochen hatten. Die vier Kriegsgefangenen schauten auf den Tisch – die Gesichter hatten sich wieder verdüstert. Alle anderen schauten zum Fenster hinaus oder, unangenehm berührt, auf den schon etwas sanierungsbedürftigen Putz an den Wänden. Nur Opa Alfred und ich trugen etwas zur Unterhaltung bei. Ich hatte bei Opa den Verdacht, dass er die Situation retten und etwas besonders Kluges unternehmen wollte. Er schrie mit seiner dunklen, verraucht-kratzigen Stimme überlaut plötzlich in die Runde: „Nun habt ihr doch alle großen Hunger, vor allem ihr, die ihr eine so weite Reise auf euch nehmen musstet. War denn im Zug alles in Ordnung und bequem? Wie lange dauerte denn die Fahrt? Konntet ihr denn da schlafen? Haben euch die deutschen Soldaten gut betreut oder musstet ihr euch ärgern?“

      So eine umfangreiche Rede hatte ich von Opa lange nicht gehört – er schien selbst sehr verdutzt über sich zu sein und da ihn alle fragend anschauten, wurde er plötzlich unsicher und spuckte den letzten Rest von seinem Kautabak auf den Holzfußboden. Tante Friedel ärgerte sich sehr darüber: „Opa, ich habe dir schon hundert Mal gesagt, du sollst den Kautabak nicht auf die Erde spucken, noch dazu hier in der Stube, wo wir essen wollen. Das ist ja ein Skandal. Hebe das sofort auf!“

      Als sie aber sah, wie der ehemalige Fleischermeister unsicher und brummelig in die Runde guckte, tat es ihr wieder leid und sie hob selbst das kleine Stückchen braunschwarzen schmierigen Tabaks auf und schaffte es in die Küche, um es in die Asche zu legen.

      Anders ich. Ganz stolz saß ich neben Johann, nahm heimlich seine rechte Hand (ich saß rechts von ihm), drückte sie und himmelte ihn an: „Bist du auch froh, Johann, dass du neben mir sitzt? So können wir uns immer schön unterhalten“, schrillte ich mit meiner Fistelkinderstimme.

      Johann schaute mich väterlich an, sagte: „Oui, tu as raison“, gab mir den Mittelfinger und sagte etwas Unverständliches – es klang wie: Zieh hier! Dann gab er mir den Finger, nahm meine rechte Hand und drückte sie als Umklammerung um seinen Finger. Dann zog er seine Hand weg – meine Hand war mit dabei: „Non, non, non.“ Jetzt kam vollkommen wirres Zeug aus seinem Mund, fand ich zumindest, und er schob meine umklammernde Hand wieder zurück. Danach umfasste er mit seiner rechten Hand den Mittelfinger seiner linken Hand und zog mit großer Gewalt daran. Es knackte fürchterlich und ich erschrak. Johann wiederholte das Ganze und dann noch einmal, es knackte ständig. Nach dieser Aktion griff er in seine Hosentasche, kramte ein Weilchen und gab mir dann ein kleines längliches, rechteckiges Stück Papier. Da ich nicht so recht etwas damit anzufangen wusste, nahm es Johann mir aus der Hand und wickelte die Umhüllung aus. Den Inhalt gab er mir – es war eine längliche dünne graue Masse. Johann bedeutete mir mit dem Zeigefinger, es in den Mund zu stecken, was ich natürlich sofort tat. Ich kaute – es schmeckte nach Pfefferminz. Prima, dachte ich. Lothar schrie aufgeregt: „Ich will auch so etwas!“

      Plötzlich kamen Mutti und Oma mit großen Abendbrotplatten wieder herein. Mama schaute mit ihrem üblichen Kontrollblick (das war mir immer zuwider, ich konnte es einfach nicht leiden!) auf mich. „Was kaust du denn da schon? Mit dem Essen geht es jetzt gleich los, aber erst, wenn Oma zum Abendbrot aufgefordert hat. Das weißt du doch, Klaus.“

      „Das hat mir der gute Johann geschenkt. Es ist etwas zum Kauen und schmeckt wunderbar.“

      „Nimm das sofort heraus, Klaus, und wirf es weg!“

      Ich dachte daran, wie es gerade Opa mit seinem Kautabak ergangen war, nahm die Masse aus meinem Mund und klebte sie hinter das linke Ohrläppchen. Der Besitzer des Kontrollblickes schüttelte nur erstaunt und etwas unwillig den Kopf.

      Nun wurde endlich aufgetragen. Es gab Quark, Butter, Brot und Salz, aber auch Speck mit Senf. Meine Tante Friedchen ging plötzlich auch in die Küche und kam mit drei Heringen, welche auf einem dicken Holzbrett lagen, zurück.

      „Das sind Matjes Heringe“, verkündete sie stolz.

      „Wo haste denn die nun wieder aufgetrieben, rührige Friedel? Naja, ist ja eigentlich auch egal – Hauptsache wir haben etwas zu futtern.“

      Plötzlich stand Oma auf und ging mit der Bemerkung: „Mir fällt gerade noch etwas Tolles ein – ich habe noch etwas ganz Feines – wartet mit dem Essen“, mit einem strahlenden Gesicht, fast wie eine Heilige, noch einmal hinaus. Alle sahen dies mit einer gewissen Spannung – auf der anderen Seite hatten sie das lange Warten auch satt, da allen der Magen in der Kniekehle hing.

      Mir ging es auch so und aus lauter Verzweiflung, da es mit dem Essen keinen Anfang nehmen wollte, wandte ich mich wieder meinem väterlichen Freund zu und fing an, an seinen Fingern zu ziehen. Offensichtlich stellte ich mich nicht mehr so anfängerhaft an wie vorhin – es knackte ab und zu, ich strahlte vor Freude über das ganze Gesicht.

      Als Mutti das sah, rief sie, schon wieder ganz besorgt: „Nein, nein Klaus und Johann, das dürft ihr nicht machen. Das tut doch dem Johann weh.“

      „Non, non“, entgegnete dieser sehr leise und dann hörten wir noch: „So Ordnung, gut.“

      Aufgeregt rief Mama: „Johann, kannst du etwa Deutsch?“

      „Non, non, wenig, schlecht, muss denken.“

      Mama rief erfreut aus: „Das ist ja wunderbar, Johann, da

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