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hier, was mich traurig stimmt. Dieses riesige, alte Haus, in dem die Gespenster unserer Ahnen und unsere familiäre Vergangenheit herumspuken. Papas Geschäfte, die alle schiefgehen. Die traurigen Augen der Mama. Der altersbedingte Verfall unseres Lenchens. Die Flegeleien meines Vetters Heiko. Die Trinksucht meines Patenonkels Johann. Die gequälten Grimassen von Onkel Ewald, der nicht die Willenskraft aufbringt, seine Drogensucht zu bezwingen. Diese Zustände machen mich sehr, sehr traurig, lieber Reimer (es wäre doch schön, ihn so nennen zu dürfen, einfach ‚Reimer‘, nicht etwa ‚Herr Madrigal‘ …). Manchmal habe ich den großen Wunsch, all dies einfach zu verlassen und über alle Berge, weit, weit weg zu flüchten. Aber wohin fliehen? Und selbst wenn mir hierauf eine Antwort einfiele, fehlte mir dazu der Mut. Ich liebe meine Familie, ich mag dieses Haus, in dem ich geboren wurde. Aber ich werde immer trauriger, weil ich hilflos mit ansehen muss, wie hier alles unaufhaltsam zerfällt …“

      Reimer Madrigal würde ihre Hände in die seinen nehmen und ihr ein Gedicht ins Ohr flüstern, eine traurige Geschichte der jungen Clarissa, die in einem kalten Schloss von einem fürchterlichen Ungetüm gefangen gehalten war, bis sie eines Tages von einem romantischen Kavalier befreit wurde. Sie verliebte sich in ihren Retter, der sie mitnahm in ein fernes Land, wo sie beide miteinander glücklich lebten bis an ihr Ende.

      Clarissa senkt ihren Kopf und lächelt amüsiert über ihren Gedankenausflug. Sie kann es einfach nicht lassen, sich in ihrer Fantasie zu verlieren, Geschichten und Romane zu erfinden. Manchmal, in der Schule, träumt sie mit offenen Augen inmitten ihrer Schüler, während einer Lektion. Wenn sie wieder in die Wirklichkeit zurückfindet, umgibt sie der Heidenlärm ihrer Kinder. Der Rektor hat sie bereits deswegen ermahnt …

      Clarissa klappt das Buch zu. Der Duft von Morgenkaffee aus der Küche steigt ihr in die Nase und bringt sie in die Gegenwart zurück: Sie hat Hunger. Geräusche dringen aus der Küche, Sicherlich bereitet Kathrein heißes Wasser, um die Frühstückseier zu kochen.

      Clarissa öffnet die Tür und geht hinunter in das Esszimmer. Die Verbindungstür zum Salon ist geschlossen. Dort, im Dunkeln, befindet sich das Bild des Generals. Clarissa geht geschwind daran vorbei, ohne hinzusehen.

      Sie ruft in die Küche: „Kathrein, bringst du mir bitte den Kaffee?“

      Kurz nach neun Uhr erscheinen Gesche und Gesine, beide in knalligen, gelben Kleidern, um sie zur Kirche abzuholen.

      Gesche stottert: „Cl… C… Cla…“

      Gesine kommt ihrer Schwester zu Hilfe: „Clarissa.“

      Gesche führt fort: „Wwwwwie ffff… findest du un… unsere Kk… Kk…“

      „Kleider?“, beendet Gesine die Frage.

      Clarissa findet sie grauenhaft, die grelle Farbe tut den Augen weh. Sie kommt aber um die Notlüge nicht herum: „Sie sind wirklich sehr nett. Wer hat sie denn gemacht?“

      Gesche versucht zu antworten, aber, wie üblich, ist es Gesine, die eine verständliche Antwort gibt: „Unsere Tante Rosa, sie ist ja Schneiderin.“

      Sie machen sich auf den Weg. Die Zwillinge gehen kleine Schritte. Clarissa hakt sich bei beiden unter und schon laufen die drei Mädels ihren Schatten vorweg. Drei junge Gesichter: eines in zweifacher Ausführung, rundlich, mit vollen, rötlichen Wangen, knolligen Nasen, lustigen Äuglein. Das dritte, oval, apart und hübsch, mit himmelblauen Augen. Die Sonne beleuchtet die drei Gesichter mit der gleichen Intensität, ohne eines davon zu bevorzugen. Trotzdem, jene jungen Männer Oldenmoors, die ihnen begegnen und sie grüßen, lassen ihre Augen länger auf Clarissas Gesicht ruhen, bevor sie vorbeigehen: Hannes Suhr vom Modehaus, Friedrich Winkler, Redakteur bei der Lokalzeitung, Detlef Bartels, Referendar beim Notariat.

      Gesine beginnt eine Unterhaltung: „Clarissa, rate mal, wen ich heute früh schon gesehen habe?“

      „Keine Ahnung, sag schon!“

      „Den Deichkater.“

      „Was, Heiko?“

      „Ja, den Heiko.“

      „Wo denn?“

      „Auf dem Marktplatz; er saß auf einer Bank.“

      „St… stell dir vor, eeer hh… hat u… u…“, versucht sich Gesche, vergeblich. Gesine ergänzt: „Er hat uns nicht einmal gegrüßt!“

      Was geht mich das eigentlich an?, fragt sich Clarissa. Diese dummen Gänse schnattern wirklich nur über belangloses Zeug. Was habe ich mit dem Heiko zu tun? Bin ich denn seine Mutter? Nee! Ich trage doch keine Schuld daran, dass er solch ein Rüpel ist. Ich kann ihn nicht erziehen und zwingen – gerade den Deichkater! –, dass er diese Gänse grüßt. Was für ein Schwachsinn!

      Manche Leute gucken aus den offenen Fenstern und genießen den herrlichen, sonnigen Morgen.

      „Guten Morgen!“

      „Moin, moin!“

      Überall „Guten Morgen!“

      Für jeden ein freundliches Lächeln. Alle Gesichter sind bekannt. Man muss also höflich grüßen, sonst geht das Gerede hinter dem Rücken los: „Die ist aber hochmütig!“ Und dies und das …

      „Guten Morgen!“

      „Moin, Moin, guten Morgen!“

      Sie kommen auf den Marktplatz, in dessen Mitte die Kirche thront.

      Gesine meint: „Last uns schnell hineingehen, dann kriegen wir einen guten Platz.“

      Sie beeilen sich und betreten die Kirche. Typischer Kirchengeruch umfängt sie. Clarissa hat hierfür nie eine andere Bezeichnung finden können. Sie setzen sich auf eine Bank in der vorletzten Reihe.

      Mit einem humorvollen Lächeln auf den Lippen bittet Clarissa während der Andacht den lieben Gott stumm um genügend Geduld, um Gesche und Gesine ausstehen zu können. Die beiden sind doch wirklich so einfältig, dass es ihr oft schwerfällt, sie auszuhalten.

      Das Mittagessen geht zu Ende und die Mama bittet das Lenchen, die Nachspeise zu servieren.

      Clarissa sieht ihren Vater an. In dem kunstvoll verzierten Eichensessel am Kopfende des Tisches, in dem früher der alte Oliver von Steinberg den Familienvorsitz führte, kauert Hans-Peter. Von Zeit zu Zeit seufzt er und blickt deprimiert vor sich hin.

      Kathrein bringt die Teller mit dem Nachtisch: Arme Ritter.

      Hans-Peter schaut lustlos auf die in Fett gebackenen Brotscheiben, die mit Zucker und Zimt überstreut sind. „Haben wir nichts Besseres zum Nachtisch?“

      „Nein, leider nicht“, antwortet Frau Annette beklommen.

      „Warum lässt du denn nichts Ordentliches vom Café Petersen holen?“

      Der stumme, ausdrucksvolle Blick von Frau Annette ist eine ausführliche Antwort.

      Hans-Peter begreift. „Ach so, lassen die auch nichts mehr anschreiben?“

      Die Mama nickt.

      Hans-Peter springt wütend vom Sessel auf, wirft seine Serviette auf den Teller und läuft aufgeregt und mit kreideweißem Gesicht im Esszimmer auf und ab: „Verfluchtes Gesindel! Mir den Kredit zu verweigern! Mir! Gerade mir! Ungeheuerlich!“

      Tante Therese isst ihren Armen Ritter mit gesenktem Kopf. Frau Annette schaut ihrem Mann nach, während es Clarissa nicht wagt, die Augen von ihrem Teller zu heben.

      Wie ein wildes Tier im Käfig wandert Hans-Peter aufgeregt zwischen Tisch und Fenster hin und her, die Fäuste tief in den Hosentaschen geballt. Hin, her, hin, her … „Undankbare Mistkerle! Der alte Oliver hat euch ernährt, als ihr hungertet, hat euch erwärmt, als ihr gefroren habt! Und jetzt erdreistet ihr euch, seinem Sohn den Kredit für ein Stück Kuchen zu verweigern!“

      Frau Annette schüttelt traurig den Kopf. Tante Therese fragt, ob sie noch ein Stück der Nachspeise haben darf.

      „Der Petersen!“, fährt Hans-Peter heftig fort. „Gerade dieser Petersen, der zerlumpt und arbeitslos in der Gegend

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