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Weise, fast ohne einen Kontakt miteinander zu pflegen. Und jetzt steht Heiko auf einmal wieder da, ein ganzer Mann, allerdings mit einem sonderbaren, fremdartigen Gesichtsausdruck, mit Manieren, die ganz anders als die üblichen sind – herb, lässig, provozierend, aggressiv, unerzogen –, aber eben seine eigenen, niemand anderem ähnlich.

      Clarissa sieht Heiko direkt ins Gesicht und vermag nicht zu entscheiden, was sie genau für ihn empfindet: Sympathie oder Hass. Hass? Was für ein hochtrabendes Wort!

      Heiko schlägt vor: „Großmama, lass uns bitte jetzt gehen, ja?“

      Johann steht schwerfällig auf: „Ein sehr guter Vorschlag, ich habe einen riesigen Durst!“

      Hein erscheint in der Tür: „Gute Nacht euch allen!“

      Seit zwölf Jahren wiederholt er allabendlich, pünktlich um zehn Uhr, diese Worte.

      Hans-Peter und Frau Annette küssen Tante Alexandra. Sie verlässt das Haus, auf Heikos Arm gestützt. Johann folgt ihnen mit schweren Schritten bis zur nächsten Straßenecke. Dann schlägt er eilig die Richtung zu seiner Stammkneipe ein.

      Tante Therese verabschiedet sich von ihrem Verlobten und zieht sich anschließend in ihr Zimmer zurück. Hans-Peter, seine Frau und die Tochter verbleiben im Esszimmer. Der Papa hadert mit dem Zeitgeist: „Es ist doch unglaublich, dass die heutige Jugend keinen Respekt mehr vor dem Alter hat. Tradition bedeutet ihr überhaupt nichts mehr! Was soll aus dieser Welt noch einmal werden? Alles hat sich verändert.“ Pause. „Clarissa!“

      Ach, dass man sich meiner überhaupt noch erinnert! „Ja, Papa?“

      „Wie hieß noch jener bekannte Schriftsteller, der einmal sagte, dass die Jugend die Alten nicht verstehen kann und die Alten die Jungen nicht verstehen möchten?“

      Clarissa denkt kurz nach. „Tut mir leid, Papa, der Name fällt mir gerade nicht ein.“

      „Macht nichts. Jener Herr Schriftsteller, wie er auch heißen mag, irrt gewaltig. Die Jugend kann, aber möchte nicht verstehen. Die junge Generation ist viel zu haltlos, sie ist verloren! Ich verabscheue diese Modernismen. Und ich wünsche nicht, dass mein Fräulein Tochter mit solchen Individuen Umgang hat! Habe ich mich wohl deutlich genug ausgedrückt?“ Der Unterton in seiner Stimme enthält eine unverhüllte Drohung.

      „Ist schon gut, Hans-Peter“, besänftigt ihn Frau Annette. „Schimpf nicht mit Clarissa, sie kann doch nichts für Heikos flegelhaftes Benehmen.“

      Clarissa, gekränkt, senkt ihre Augen auf das Buch. Ihr Poet sagt: „Im Grunde existiert nur diese traurige Wahrheit: Wir alle leben in Einsamkeit.“

      Frau Annette und ihr Gatte verlassen das Esszimmer. Clarissa schließt das Buch und geht hinauf in ihr Zimmer. Sie tritt ans Fenster und öffnet es. Ein heller Halbmond erleuchtet die klare Nacht. Aus der Ferne erklingt leise Musik.

      Ohne zu wissen warum, verspürt sie auf einmal ein unwiderstehliches Gefühl, weinen zu müssen.

      Am Sonntagmorgen erwacht Clarissa als Erste im Herrenhaus. Das starke Sonnenlicht, das durch den Vorhang schimmert, scheint ihr direkt ins Gesicht. Sie reibt sich die Augen wach, kriecht unter der schweren Federdecke hervor und steckt ihre Füße in die Hausschuhe. Dann stellt sie sich mit prüfendem Blick vor ihrem geöffneten Kleiderschrank auf. Welches Kleid soll sie heute anziehen?

      Noch immer unentschlossen, geht sie zunächst ins Badezimmer hinunter und wäscht sich. Während sie sich abtrocknet, fällt sie ihre Entscheidung: das blaue mit dem weißen Kragen. Sie geht zurück in ihr Zimmer, setzt sich vor die Frisierkommode und blickt in den Spiegel, wobei ihr ein trauriger Gedanke in den Sinn kommt, der ihren Blick verfinstert: Ich werde immer hässlicher. Früher habe ich sehr oft gelächelt, heute tue ich das kaum noch. Wir haben ja hier nicht viel, über das man lachen könnte. Ich mache ein ernstes, murriges Gesicht, das mit Falten durchzogen, blass und mager geworden ist. Typisch! Ganz das Fräulein Lehrerin! Dieser Gedanke trotzt ihr dennoch ein Lächeln ab.

      Sie kämmt ihre kastanienfarbenen, langgelockten Haare, die in der strahlenden Morgensonne glänzen.

      Im Herrenhaus ist es noch still. Keiner außer ihr mag am Sonntag früh aufstehen. Das Lenchen behauptet immer, dass Clarissa mit ‚de Vogels opwoken dait‘.

      In der Tat, die Vögel zwitschern vergnügt und spazieren, auf der Suche nach fetten Regenwürmern für ihr Frühstück, gemächlich auf dem Rasen herum. Sie hat den Vorhang zur Seite gezogen und das Fenster ganz geöffnet. Ein feuchter Lufthauch mit dem Geruch nach frischer Landluft weht ihr ins Gesicht. Für einen Augenblick empfindet Clarissa das Gefühl von Fröhlichkeit.

      Alles erscheint wie neugeboren an diesem wunderbaren Morgen! Sogar das alte Gemäuer sieht aus wie neu und der Himmel gleicht einem Freskengemälde. Stiegen die weißen Wölkchen noch höher in den blauen Himmel empor, würden sie sich sicherlich blau verfärben. Unten ist der Rasen noch recht grün, wenn auch schon viele Blätter von den Bäumen darauf gefallen sind.

      Im Hintergrund des Hofes steht der alte Brunnen. Man erzählt sich, dass in jenen Zeiten, als Tante Alexandra noch ein junges, hübsches Mädchen war und große Bälle im Hause des Generals Peter von Steinberg veranstaltet wurden, eine hohe Wasserfontäne aus dem Brunnen empor sprudelte. Chinesische Lampions leuchteten über dem Hof. Vornehme Gäste – adelige Gutsherren, Offiziere in schmucken Uniformen, Künstler und Dichter mit langen Haarmähnen, Damen mit festlichen Reifröcken – waren zu diesen festlichen Anlässen geladen. Man tanzte bis in die frühen Stunden des nächsten Tages hinein. Tante Alexandra hatte ihr einmal erzählt, dass sich dort, weiter hinten, neben der hohen Esche, zwei Männer ihretwegen duelliert hatten.

      Welch ein herrlicher Morgen! Clarissa lehnt sich aus dem Fenster und blickt über die Hecke hinweg auf die Straße hinab. Keine Menschenseele ist in Sicht. Die Sonne entreißt den Backsteinen der Häuserwände und den Pflastersteinen wahre Glitzerfunken. Die Schwan-Apotheke gegenüber ist geschlossen. Sie hat heute wohl keinen Notdienst. Hier und dort sprießen Grashalme zwischen den Steinen. An ihnen hängen Tautropfen, von der Sonne mit ihren magischen Kräften in strahlende Diamanten verwandelt.

      Clarissa geht ins Zimmer zurück, zieht ihr Nachthemd über den Kopf und kleidet sich an. Zuletzt steigt sie in das blaue Kleid. Wieder vor dem Spiegel korrigiert sie ihre Frisur, legt ein wenig Puder auf die Nase und einen Hauch Lippenstift auf ihre wohlgeformten Lippen, die sie danach fest aufeinanderpresst. Ein Blick auf die Armbanduhr sagt ihr, dass es erst sieben Uhr ist.

      Was tun, um die Zeit bis zum Frühstück zu überbrücken? Sie greift nach ihrem geliebten Buch und setzt sich in den Sessel. „Gedichte auf dem Wasser“.

      Sie öffnet es an einer zufällig aufgeschlagenen Stelle und liest: „Die Liebe, die sich noch nicht erklärte, ist wie eine Melodie, deren Tonfolge noch unbestimmt ist. Sie lässt das Herz mitunter freudig, manchmal unruhig schlagen und hat dennoch den flüchtigen und geheimnisvollen Zauber einer Weise, die von Weitem, aus der Ferne erklingt …“

      Clarissa legt das Buch beiseite, lehnt sich im Sessel zurück, schließt die Augen und beginnt nachzudenken. Musik aus weiter Ferne … das ist wirklich hübsch gesagt. Solch eine Liebe muss schön sei, wie die Liebe in den Romanen. Wie mag wohl dieser Dichter Reimer Madrigal aussehen?

      Sie versucht ihn sich vorzustellen … In ihren Gedanken nimmt er Gestalt an: schlank, groß, blass, nobles Gesicht. Dunkelbraune, heiß blickende, tief liegende Augen. Reimer Madrigal fand schon ganz gewiss die große Liebe seines Lebens. Wer weiß? Vielleicht sogar eine unerwiderte, unglückliche Liebe. Er spricht mit sanfter Stimme. „Eine Stimme wie eine Fontäne“, so beschreibt er in seinen Gedichten die Stimme der Geliebten. Clarissa würde sich gern mit ihrem Dichter unterhalten. Am liebsten in ihrem schönen Garten … Reimer würde sich ihr anvertrauen, ihr von seinem Leid erzählen. Sicherlich würden sie sehr gute Kameraden werden. Er würde doch auch einige Verse für seine Freundin dichten. Worauf reimt sich eigentlich Clarissa? Ach, es ist so schwierig, für diesen „undeutschen“ Namen etwas Passendes zu finden; er ist zweifellos ungeeignet für Poesie. Na, was für ein Glück, dass die Gedichte von Reimer

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