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überstrapazieren. Kultur beginnt sich zu fragmentieren. Entsprechend verändert sich das Wertegefüge. Traditionelle Metanormen wie Stabilität, Beharrlichkeit und Kontinuität werden ersetzt durch Ideale wie Flexibilität, Spontaneität und Innovativität. Die Kulturdestabilisierung selbst wird zum Ideal und Kultur damit unmöglich. Die Gesellschaft tritt ein in die Ära der Postkulturalität. Da das Standardisierungszentrum sich unter dem Druck sozialer Mobilität aufgelöst hat, gibt es keine verbindlichen Normen mehr. Entsprechend etabliert sich eine Ideologie absoluter Toleranz. Alles gilt als wertvoll, der Pankulturalismus wird zur herrschenden Weltanschauung der postkulturellen Gesellschaft.

      Zentral für diese Entwicklung war die Idee des Fortschritts. Wie im zweiten Kapitel des vorliegenden Essays zu zeigen versucht wird, ist das Konzept des Fortschritts und das damit verbundene Geschichtsbild eng an den Monotheismus geknüpft. Damit die Idee des Fortschritts jedoch tatsächlich die in ihr verankerte weltanschauliche Dynamik entfalten konnte, musste die Gesellschaft beginnen, sich tatsächlich zu verändern. Fortschritt wird zu einer universalhistorischen Kategorie und damit zeitlich entgrenzt. Fortschritt gibt es nicht punktuell, sondern die Geschichte an sich erweist sich als Fortschreiten. So kehrt die Heilsgeschichte in säkularem Gewand zurück.

      Deutlich älter als die Idee des Fortschritts ist jedoch die Vorstellung vom Niedergang und kulturellen Zerfall. Es ist ein bezeichnendes anthropologisches Phänomen, dass quasi alle Mythen und Hochreligionen der Menschheit von einem goldenen Zeitalter zu berichten wissen, einem paradiesischen Zustand, der verloren gegangen ist und von dem die aktuelle Menschheit sich immer weiter entfernt. Doch Mythen sind Protohistorien. Zu einem tragenden gesellschaftlichen Bewusstsein säkularisierte der Niedergangsgedanke im Römischen Reich. Aus römischer Perspektive befand sich die eigene Kultur in einer Dauerabwärtsspirale, da sich die jeweils gegenwärtige Generation gegenüber den tugendhaften Ahnen als verweichlicht und dekadent erwies. Die römische Geschichte war aus Sicht ihrer Protagonisten eine Degenerationserzählung. Diesen Topos des Untergangs durch Dekadenz greift wirkmächtig Edward Gibbon auf, der damit der Moderne das zentrale Motiv ihrer Untergangsdiagnose schenkt. Denn bei allen Unterschieden im Detail läuft die kulturpessimistische Kritik im Kern auf das genannte Degenerationsmotiv hinaus.

      Im vorliegenden Essay werden grob zwei kulturpessimistische Denkschulen unterschieden. Theoretiker wie Joseph de Maistre, Henri Massis, René Guénon, aber auch ihre scheinbaren Antipoden Paul de Lagarde und Julius Langbehn gehen von einem ideengeschichtlichen Sündenfall aus, der je nach Herkunft und Überzeugung in der Aufklärung, der Reformation, der unabgeschlossenen Romanisierung Europas oder dem Aufkommen abendländischer Philosophie in der Antike verortet wird und wie eine virulente Infektion schließlich unter den technischen Bedingungen der Moderne ausgebrochen sei.

      Diesen ideologiegeschichtlichen Ansätzen stehen protosoziologische Theorien der Massengesellschaft gegenüber. In der Tradition Gustave Le Bons sieht insbesondere José Ortega y Gasset das Aufkommen der modernen Massengesellschaft als Ursache für den Zerfall traditioneller europäischer Kultur. Betont Ortega – ähnlich wie später Elias Canetti, Hendrik de Man und auch noch Theodor W. Adorno – vor allem den nivellierenden Charakter der industriellen Massengesellschaft, so war es der früh verstorbene Alfred Seidel, der, anknüpfend an Karl Mannheims Diagnose der modernen Pluralisierung der Denkstile, die abendländische Kultur vor einer entropieartigen Auflösung sieht. Ursache für diese Entwicklung sei das Bewusstsein für die Kontingenz der jeweiligen Weltsicht und die daraus folgende Heterogenisierung der Gesellschaft.

      Mannheim und Seidel liefern damit die Schlüsselbegriffe zum Verständnis der Moderne und die zentrale Diagnose für einen aufgeklärten Kulturpessimismus. Ging der traditionelle Kulturpessimismus von einer Angleichung, Einebnung und damit verbundenen Verflachung abendländischer Kultur aus, so wird im Abschlusskapitel des vorliegenden Essays dafür argumentiert, dass die europäische Kultur an ihrer Pluralisierung und Fragmentierung zugrunde gegangen ist, letztlich also an den Bedingungen der technischen und industriellen Moderne.

      Fixiert auf einen diffusen Kulturbegriff, der vermutlich im Wesentlichen den hochkulturellen Kanon des 19. Jahrhunderts und eine Reihe von sozialen Regeln umfasste, maß der klassische Kulturpessimismus den Niedergang von Kultur am Wegfall konkreter kultureller Normen. Das ist verständlich, aber zu kurz gedacht. Kultur oder Nichtkultur misst sich zunächst nicht an konkreten kulturellen Erscheinungen, der handwerklichen Kunst der Künstler, der literarischen Raffinesse der Literaten oder der Komplexität der Musik. Allerdings führt die Auflösung der Normierungskraft des Standardisierungssystems zwangsläufig zu einer Heterogenisierung der Kultur. Aus der Kultur werden »die Kulturen«.

      Auch das müsste noch nicht zwangsläufig zu einem Kulturzerfall führen. In Verbindung mit den sozialen Umwälzungsprozessen der Industrialisierung jedoch, mit dem entstehenden Massenwohlstand und der damit einhergehenden Kaufkraft kommt es zu einer umfassenden Demontage kulturermöglichender, kulturstabilisierender und kulturgenerierender Strukturen. Denn Kultur, auch die sinnlichste und barockste, basiert auf Verzicht und Askese. Schon Freud wusste, dass Kultur das Produkt einer Triebsublimation ist. Als Standardisierungssystem besteht sie aus einem komplexen System rigider Regeln der Symbolanwendung. Kultur und grenzenlose individuelle Selbstverwirklichung schließen daher einander aus, denn Kultur engt ein.

      Doch Kultur ist mehr als ein normierendes Symbolsystem. Sie schafft Bedeutung, indem sie den vergänglichen und endlichen, also allen Produkten menschlichen Tuns und letztlich dem Menschen selbst, Bedeutung verleiht. Das Symbolsystem Kultur fügt der Welt der Dinge, Tatsachen und Ereignisse eine Sinnebene hinzu. Hier, auf dieser Sinnebene, versucht der Mensch symbolisch seine Endlichkeit zu überwinden, indem er dem Zufälligen, Chaotischen und Vergänglichen der Natur Regeln, Ordnung und den Anspruch auf Ewigkeit entgegensetzt. In der Kultur transzendiert der Mensch sich selbst. Sie ist Ausdruck der metaphysischen Revolte (Albert Camus) des Menschen gegen seine Sterblichkeit, der absurde Versuch, Unendlichkeit zu schaffen. Deshalb auch sind Kulturen Heldensysteme (Ernest Becker), in deren Symbolwelt der Einzelne zum unsterblichen Helden werden kann und zugleich Bilder, Epen, Opern, Balladen und Filme von Helden erzählen. Aber auch die Kultur als Ganzes ist heroisch im Sinne des Versuchs, die Endlichkeit menschlicher Existenz zu überwinden. Daher ist es nur konsequent und kohärent, dass postheroische Gesellschaften zugleich auch postkulturelle Gesellschaften sind.

      Kultur will Ewigkeit, der Mensch der industriellen Moderne will jedoch das Jetzt und Hier. Kultur ist der Preis, den wir hedonistischen, friedfertigen Individualisten für unseren Lebensstil zu zahlen haben. Dieser Preis ist hoch. Doch wir erlangen für ihn ein nie gekanntes Maß an Wohlstand, Sicherheit und Gewaltfreiheit. Aufgrund der spezifischen Verfasstheit von Kultur ist es ein Irrglaube anzunehmen, Kultur sei mit einer zivilisierten, humanen, sozialen Wohlstandsgesellschaft vereinbar. Diese zerfällt in hoch disparate Lebenswelten, die ihre Postkulturalität als Multikulturalität affirmieren. Dabei darf man sich keine Illusionen machen: Die Entstehung der industriellen und spätindustriellen Wohlstandsgesellschaft geht mit einem echten Kulturverlust einher, nicht etwa mit einer Transformation oder einem Umbau dessen, was einmal Kultur war. Und dieser Verlust ist nicht nur ein ästhetischer oder ein Verlust an Tiefe oder Feingeistigkeit, wie traditionelle Kulturpessimisten orakelten, sondern ein handfester Verlust an Menschlichkeit. Die metaphysische Revolte Camus’ findet zumindest in dem, was einmal der abendländische Kulturbereich war, nicht mehr statt. Das Bedürfnis, die eigene Sterblichkeit zumindest symbolisch zu überwinden und sich so heroisch gegen die eigene Sterblichkeit aufzulehnen, ist einer Verklärung und Feier der Diesseitigkeit gewichen.

      Gefangen zwischen dem unhintergehbaren Bedürfnis nach gelebter Individualität und dem Bewusstsein der damit verbundenen Kosten in Gestalt der Auflösung der abendländischen Kultur bleibt dem Menschen der Spätmoderne nur ein aufgeklärter Kulturpessimismus. Darunter verstehe ich das Wissen, dass der Westen in eine nachkulturelle Phase eingetreten ist, dass dieser Zerfall tatsächlich einen Untergang, einen Verlust dramatischen Ausmaßes markiert, dass diese Kulturhavarie aber dennoch unausweichlich ist, wenn man zentrale Werte der Aufklärung nicht preisgeben will.

      Der Kulturpessimismus ist nicht widerlegt. Nur weil eine Gesellschaft ihren eigenen kulturellen Niedergang nicht mehr wahrnimmt oder sogar noch als Fortschritt begreift, bedeutet das nicht, dass es diesen Niedergang nicht gibt. Mehr noch: Die Umdeutung von Auflösungssymptomen als Fortschritt stellt eine spezifische Form kulturellen Zerfalls

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