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weil es so steif war wie ein Brett, zu einem ‚Bretttuch‘ umbenannt. Und die Servietten betitelte sie als ‚Kleinbretttücher‘. Aber Großmama nannte sie alle zusammen ‚mein Dutzend‘, auch die Betttücher bezeichnete sie mit diesem für uns Kinder seltsamen Namen! Und auch die Spitzentaschentücher wurden nicht davon ausgenommen! Wie auch immer, auf jedes ihrer geliebten Dutzende ließ sie partout nichts kommen. Nur im Dutzend hatte das Einzelne seinen Wert, seinen beinahe heiligen Wert.

      „Und du … du schaust jetzt popelig versteckt aus meinem Ärmel heraus! Wo Du doch einst auch zum stolzen Dutzend gehörtest!“ Sie lächelt verschmitzt, auf den Ärmel ihres Gewands blickend. „Ja, damals …!“

      Die alte Dame sendet einen zweiten Lacher nach oben. Er streift an der Vitrine mit den Blumentellern und Goldgläsern entlang und verfängt sich schließlich in dem schweren Samtvorhang, der das große Butzenglasfenster beidseitig umrahmt. Der zweite Lacher entspringt ihrer Erinnerung an einen Haufen Kinder, ohne Ende Schabernack treibend. Nur ihr, meine lieben Enkeltöchter und Enkelsöhne, ihr macht mir nicht einmal das halbe Dutzend voll. Ihre gedankliche Reise zu der großen Herkunftsfamilie und zu ihrer eigenen Familie lässt sie seufzen, ehe sie ein ‚Ja, es war herrlich!‘ von sich gibt, das zu schnell wieder von einem ‚Gott sei Dank!‘ ausradiert zu werden scheint. Ihrer lieben Grandma gälte es heute klar zu machen, dass ein halbes Dutzend Kinder und weniger vollauf genügten, einfach deshalb, weil Kinder heutzutage nicht mehr so unbeweglich zu halten seien wie früher, dass sie nicht genauso wie ein Dutzend Bettlaken, Servietten oder Spitzentaschentücher in den Schrank verlagert werden könnten. Heute dürfen die Kleinen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten mehr gehorchen als früher und das strengt Eltern nun mal eben oft sehr an! Von daher, so sinniert sie, geht das mit dem halben Dutzend oder weniger bei meiner Nachkommenschaft schon in Ordnung.

      Die alte Dame liebt es, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, besonders dann, wenn sie alleine ist. Das Alleinsein, das mit sich Selbstsein, ist ihr inzwischen zur zweiten Natur geworden. Ja, Großmutters und Mamas Stolz auf ihre trefflich gestärkte Wäsche scheinen sogar sprichwörtlich verewigt. ‚Das Tuch steht wie eine Eins!‘ Dieses geflügelte Wort aus dem Munde unserer Mama verbreitete sich in Windeseile. Die alte Dame schmunzelt, die Armstützen fest umklammernd, zur Vergewisserung, dass sie im Hier und Heute lebt. „Und weil ich mit sieben Jahren wahrlich nicht dumm gewesen bin“, verbessert sie sich vorsichtig, „denn als zu vorlaut zu gelten, das war in unseren Kreisen wahrhaft ein Übel, ja, also äußerst behutsam musste ich Mama zu verstehen geben, dass die Eins doch noch einen Haken habe und auch nicht so aufrecht stünde wie das steife Tischtuch, auch wenn es sich an den Seiten vollgestärkt präsentierte. Ich bemerkte das nicht ohne Stolz, denn die Familie brüstete sich nur allzu gerne mit wissbegierigen Kindern. Und wie erwartet erntete ich dabei ein leises verständnisvolles Nicken der Erwachsenen. Jedenfalls steckten wir Kinder oft einen winzigen Mokkalöffel in die aufgestellte steife Serviette und spielten mit ihr Segelboot. Dabei durften wir aber nicht zu wild unser Segelboot hin und her schaukeln lassen, denn sonst ernteten wir womöglich einen ‚Gehört-sich-nicht-Klaps‘, und zwar einen gehörigen, einen, mit dem nicht zu spaßen war. Ach, ja … Und Du, mein Spitzentüchlein, hier im Ärmel drin! Oder auch ein anderes Deiner elf Geschwister.“ Und je mehr ihre Gehirnwindungen mit Jungbrunnenwasser durchschwemmt werden, je mehr scheint der alte graue Kopf mit den geschrumpften Runzeln weit nach oben zu schweben, am Kronleuchter vorbei, die Zimmerdecke durchbrechend, jener Sphäre entgegen, die raum- und zeitlos von der Ewigkeit Kunde gibt!

      „Ach, ja … damals …! Hilfe, ich entschwebe …! Alles an Tante Marie ist dick. Ich umarme sie nur, weil und wenn ich es muss; beim Begrüßen, Verabschieden und beim sich Bedanken; das ist heilige Pflicht. Ich liebe ihre Umarmungen überhaupt nicht, weil sie mich dann jedes Mal so feste an sich drückt, dass ich dann wie ein kleines, wehrloses Geschöpf nach Atem ringen muss. Und weil sie dabei so sehr schwitzt und stinkt wie ranzige Butter, ja, darum hasse ich alles an ihr. Alles, wirklich alles an Tante Marie ist dick: ihre Hände sind dick, ihr Bauch ist am dicksten, aber auch ihre Brust ist so schwer, dass sie, wenn Tante bei Tisch sitzt, wie eine schwere Last auf die Tischplatte gedrückt wird. Alles an Tante Marie ist eben unförmig, ihre Arme und Beine, ja sogar ihre Ohrläppchen und ihre Backen dazu. Diese zeigen sich noch meistens knallrot und ihre Augen funkeln wie Katzenaugen in der Nacht. Aber am allerallerdicksten ist ihr Po. Wir Kinder lachen, wenn Mama uns zuflüstert: Da kommt die Po-Tanz-Matrone! Aber eigentlich gehört sich das nicht, so über eine alte Tante zu sprechen, das gibt Mama später selbst zu. Und wir Kinder lachen uns krank, auch wenn wir kein Fieber dabei kriegen. Tante Marie wackelt nicht nur mit dem Po, sondern mit allem, was an ihr dran ist, wie roter Wackelpudding sieht sie aus, und zwar wie solch einer, den wir Kinder doch besonders lieben, einen mit Himbeergeschmack, wie köstlich! Nur die dicke Tante, die mögen wir eben gar nicht, weil die Matronentante nämlich alles andere als köstlich daher kommt. – Hahaha!“ Spöttisches Lachen im Alleingang muss erlaubt sein. Auch das Alter und der Stand, sie schützen so manches Mal auch vor Übermut nicht! Wie sehr unsere alte Dame vor ihrem Schreibsekretär hockend, im phantastischen Jungbrunnenland verweilend, sich den Kindheitserinnerungen hingibt – und das mit allergrößtem Vergnügen! – das ist an ihrer Trance zu merken, die sie himmelwärts zu tragen scheint: Tante Marie springt plötzlich auf. Ein dicker Hefekloß war gerade in ihren Magen gerutscht, als sie wie von der Tarantel gestochen, vom Stuhl hochhüpft. Ich muss losprusten, meine Schwestern Jenny und Diana ebenso. Erst recht mein Bruder John! Wir halten uns den Mund zu, während unsere Backen dicker und dicker werden und zu platzen drohen.

      Tante Maries Arme umgreifen ihre wallende Brust und kreisen in einer Mordsgeschwindigkeit um Brust, um Bauch und Po, wobei die Bewegungen immer heftiger und ungezügelter werden. Die ganze Tante kommt jetzt wie ein wahrer Wackelpudding daher, diesmal muss es ganz bestimmt einer mit Himbeergeschmack sein, denn das Gesicht und ihr Hals, ja alles an ihr, was unbedeckt ist, erstrahlt in Himbeerröte, während süße vergorene Himbeeren ihr aus allen Poren dringen. Dabei wuchtet sie ihre kurzen Arme über den massigen Rücken; weit reichen sie nicht, diese kleinen wibbeligen Dinger – während sie dabei Zetermordio schreit: „Zum Donnerwetter! Hilfee!“

      Als sie von Mama ein Spitzentaschentuch gereicht bekommt, um sich damit die Nase zu putzen, beginnen ihre funkelnden Augen wahre Sturzbäche zu produzieren. Ein Nieser jagt den anderen, ein wahres Spektakel für uns Kinder. Ach je, … wenn ich auf das Ende seh’, … dabei wird’s mir mulmig und flau im Magen …, ein siebenjähriges Herzchen beginnt zu flattern, so wie es im Buche steht! Ein achtzigjähriges Herz flattert mit dem siebenjährigen im Duett, jetzt in diesem träumerischen Erinnerungsmoment. Und dabei wird das gute lebenserhaltende Stück wie schon so oft im Leben mächtig aus dem Takt gebracht. Wenn die Ewigkeit auch aus Stockschlägen besteht, wehe mir, ja dann … und die alte Dame, wieder in der Gegenwart angekommen, setzt zunächst ein Bein auf den Wohnstubenboden, ein siebenfaches Dong-Dong vernehmend, als sie sich mit beiden Füßen auf dem Parkett und mit ihrem samtenen Gesäß auf dem schnörkeligen Sessel mitten zwischen Rosen herrlichster Farbschattierungen wiederfindet und den Arm nach dem ausstreckt, das sie schon seit langem sucht und bis jetzt noch nicht gefunden hat.

      „Oh, je, ich zürne und habe doch kein Recht dazu! Nun zur anderen Sache: Bei meinem Vater hat’s damals Stockschläge gehagelt. Und das alles nur, weil der böse Bruder John die Idee mit den Hagebuttenkernen hatte! Und bekanntlich ist mit dem Juckpulver nicht zu spaßen! Und dass Tante Marie das Opfer geworden ist, das kam auch nicht von ungefähr!“ Sie spricht oft mit sich selbst, fühlt sie sich inzwischen doch viel einsamer in ihrem großen alten Landhaus als in früheren Zeiten. Die alte Dame lächelt, ein wenig verträumt noch, um sich anschließend wieder auf ihren Beinen befindend, die Schultern zu kitzeln, und den Rücken zu jucken, ehe sie sich dann wieder formvollendet mitten auf die Sessel-Rosenwiese platziert: „Mein Gott! Ich bin doch nicht mehr sieben, ich stecke niemanden mehr Juckpulver, wer weiß wohin, ich bin die altwürdige gräfliche Dame Ethel, Witwe des weltweit hochverehrten Earl of Cromer, Mutter zweier wohlgeratener Söhne und Großmutter von vier quicklebendigen Enkeln, und ich bin und bleibe …“, trotzig tritt sie mit ihrem Fuß auf das spiegelglatte Parkett fest auf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, „eine feine Dame, eine Dame von Welt mit Anstand und Manieren! Das bin ich meinen Altvorderen schuldig! Ja – und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“

      Lady Ethel liebt Bequemlichkeit. Die

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