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zu verhindern. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, was „an Paul Reusch lag“.

      Paul Reusch war kein Politiker. Aber was immer er in den 33 Jahren als Vorstandsvorsitzender der GHH-Konzerns tat oder sagte, war eminent politisch.2 Vor allem in den Jahren der Weimarer Republik, aber keineswegs nur da, übte er politische Macht aus und ist deshalb in die Verantwortung zu nehmen für die politischen Katastrophen in den drei Jahrzehnten seines Wirkens von 1909 bis 1942. Denn Verantwortung ist das Korrelat der Macht (Hans Jonas) – je mehr Macht, desto mehr Verantwortung.

      Wenn diese biographische Studie das besondere Augenmerk auf das politische Handeln legt, so darf der Begriff „politisch“ nicht zu eng gefasst werden. Das politische Handeln eines einflussreichen Großunternehmers umfasst mehr als die direkte Lobby-Tätigkeit bei Regierungsangehörigen und Parlamentariern, wenngleich diese Art der Einflussnahme immer mit im Zentrum des Interesses steht. Das Engagement in der Verbandspolitik geht über gezieltes Lobbying weit hinaus. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, z. B. durch den Kauf von Zeitungsverlagen, gehört in diesen Zusammenhang. Aber auch vermeintlich unpolitische, „rein geschäftliche“, ausschließlich an den engeren Firmeninteressen orientierte Aktivitäten können immense politische Auswirkungen haben. Dies gilt vor allem für die betriebliche Sozialpolitik, für das Verhältnis zu Betriebsräten und Gewerkschaften, aber auch für die Expansion zum Großkonzern. Wenn „Expansion“ das zentrale Element und Kennzeichen des Imperialismus ist und wenn der Imperialismus eine der Wurzeln des Nationalsozialismus ist (Hannah Arendt), dann kann die vertikale Expansion eines schwerindustriellen Konzerns nicht „unpolitisch“ sein. Die Unternehmensgeschichte kann daher nicht ausgeblendet werden. Dennoch ist hier eine Grenzziehung unvermeidlich: Eine biographische Studie über einen Unternehmer kann die Unternehmensgeschichte nicht ersetzen.

      Die Frage nach der Verantwortung des mächtigen Großunternehmers Paul Reusch wird also in erster Linie an der politischen Dimension seines Handels festgemacht. Gliederungsprinzip ist natürlich die Chronologie, lässt sich doch seine sehr lange Zeit als Vorstandsvorsitzender von 1909 bis 1942 in klar voneinander zu trennende Zeitabschnitte einteilen: Es geht um die Rolle von Reusch in der „fatalen imperialistischen Hochrüstungsepoche“ (Klaus Tenfelde) vor dem Ersten Weltkrieg, dann im Verlauf dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts 1914 bis 1918, danach während der ersten deutschen Demokratie bis 1933 und schließlich in der Barbarei des Dritten Reiches.

      Die Rolle der führenden Politiker der drei Jahrzehnte von 1909 bis in den Zweiten Weltkrieg hinein ist bis in alle Details von Historikern ausgeleuchtet worden. Dies gilt nicht in gleichem Maße für die Großunternehmer, mit denen Paul Reusch ständig zu tun hatte – als Konkurrenten, als Verbündete, zum Teil als Gleichgesinnte, zum Teil aber auch als politische Gegner. Dass das Drama dieser Jahre in eine unvorstellbare Katastrophe mündete, „lag auch an ihnen“ – um die Formulierung von Karl Jaspers erneut aufzugreifen.

      Das Drama von Reuschs drei Jahrzehnten als Vorstandsvorsitzender der GHH – fast deckungsgleich mit der Periode, die heute bisweilen als zweiter Dreißigjähriger Krieg bezeichnet wird – hat seinen Niederschlag im Archiv der Gutehoffnungshütte gefunden. Große Teile dieses Buches beruhen auf den Dokumenten dieses Archivs. Wenn ich den Leser sozusagen mitnehme nach Köln ins Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv, wo die Akten heute aufbewahrt und gepflegt werden, so fordere ich ihn damit auf zu beurteilen, ob ich dort alle wichtigen Dokumente entdeckt und diese richtig interpretiert habe.

      Ich war nicht der erste, der diese Akten erschlossen hat. Renommierte Historiker haben vor mir im GHH-Archiv gearbeitet und über Reusch publiziert. Natürlich verlasse ich mich im vorliegenden Buch auch auf deren Urteil. Hier sind vor allem zu nennen: Gerald D. Feldman, Bernd Weisbrod und Henry A. Turner, Jr. Bei der Akzentuierung der Sachverhalte und bei der unvermeidlichen Wertung greife ich durchgängig auf die Standardwerke von Hans Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler zurück. Vor allem für die Endphase des Kaiserreichs und den Ersten Weltkrieg, aber auch darüber hinaus, orientiere ich mich an den Erkenntnissen von Fritz Fischer, für die Weimarer Republik und für das Dritte Reich an vielen Stellen an den Forschungen von Hans Mommsen.

       1Karl Jaspers, Geleitwort, September 1955, in: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Pieper, München/Zürich, 6. Aufl. 1998, S. 12; ursprüngliche Originalausgabe: „The Origins of Totalitarianism“, New York 1951.

       2Diese Unterscheidung bei: Günter Brakelmann, Zwischen Mitschuld und Widerstand. Fritz Thyssen und der Nationalsozialismus, Essen 2010, S. 7.

       Prolog

      Paul Reusch wurde am 9. Februar 1868 in Königsbronn in Württemberg geboren. Nach seiner Schulzeit in Königsbronn, Aalen und Stuttgart studierte er an der Technischen Hochschule in Stuttgart Bergbau- und Hüttenwesen. Seine Berufstätigkeit als junger Ingenieur begann er bei den Jenbacher Berg- und Hüttenwerken in Tirol. Nach einer einjährigen Unterbrechung 1890/91 zur Ableistung des Militärdienstes in München ging er für zehn Jahre ins Ausland, zunächst zur Firma Ganz & Co nach Budapest, dann 1895 zur Witzkowitzer Bergbau- und Hüttengesellschaft in Mähren. Die Eindrücke in Osteuropa haben ihn stark geprägt; er berief sich in späteren Jahren immer wieder auf seine Erfahrungen als junger Ingenieur in den östlichen Ländern der Donaumonarchie.

      Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, am 1. September 1901, trat Paul Reusch eine Stelle als Direktor bei der Friedrich-Wilhelms-Hütte in Mülheim an der Ruhr an. Er muss in dieser Position herausragende Leistungen gezeigt haben, denn nur vier Jahre später berief der Aufsichtsrat des Gutehoffnungshütte Aktienvereins den 37-Jährigen in den Vorstand nach Oberhausen. 1908 folgte die Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden. Als gerade 41-Jähriger übernahm er diese Verantwortung. Er bekleidete diese Position fast 33 Jahre lang bis Anfang 1942.

       „Ich habe mir, solange ich im wirtschaftlichen Leben stehe, stets die größte Mühe gegeben, der Sozialdemokratie und den sozialdemokratischen Gewerkschaften das Wasser abzugraben.“ (Paul Reusch am 22. 12. 1913)

       1.Der neue Vorstandsvorsitzende der GHH im Kaiserreich

      Gemessen an der Zahl der Beschäftigten (21.657) behauptete die Gutehoffnungshütte (GHH) 1907 ihren dritten Platz unter den Firmen der Schwerindustrie an der Ruhr, weit hinter dem Marktführer Krupp (64.354) und knapp hinter der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (31.252), aber noch vor Thyssens Gewerkschaft Deutscher Kaiser im benachbarten Hamborn.1 Aus dieser Position der Firma ergab sich aber nicht zwangsläufig ein gleichrangiger persönlicher Einfluss des neuen Vorstandsvorsitzenden der GHH. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gaben im Kreis der Ruhr-Barone neben der überragenden Figur des Hugo Stinnes Emil Kirdorf, August Thyssen und der neue Krupp-Direktor Hugenberg den Ton an, sowohl wirtschaftlich und verbandspolitisch als auch hinsichtlich des direkten politischen Einflusses auf staatliche Institutionen.2 Es war für den neuen, noch sehr jungen Generaldirektor der GHH gewiss nicht leicht, gegenüber diesen machtbewussten Gestalten die Stellung zu behaupten bzw. sich überhaupt erst eine unabhängige Machtposition zu erkämpfen. Wenn er für sein Unternehmen und für die Stadt Oberhausen einen „Platz an der Sonne“ reklamierte, so war dies nicht nur eine rhetorische Verbeugung vor Kaiser Wilhelm, sondern hatte seinen realen Hintergrund im Konkurrenzkampf mit den mächtigen Unternehmen in der Nachbarschaft.

      Innerhalb des Unternehmens jedoch und auf lokaler Ebene lagen die Dinge anders. Spätestens Reuschs Auftritt bei der 50-Jahr-Feier der Stadt Oberhausen, drei Jahre nach seiner Ernennung, zeigte, dass es nicht die Eigentümer der Gutehoffnungshütte waren, die als Großunternehmer im öffentlichen Leben in Erscheinung traten, sondern der angestellte Vorstandsvorsitzende. Dies setzte bei der GHH eine lange Tradition fort: Auf die Luegs im 19. Jahrhundert folgten im 20. Jahrhundert die Reuschs. Die Verlagerung der Macht hin zu den angestellten Unternehmern entsprach dem Trend, der generell in den Werken der Schwerindustrie zu beobachten war.3 Nicht zufällig berief auch die Konkurrenzfirma in Essen in diesem Jahr 1909 einen neuen Vorstands-Vorsitzenden: Alfred Hugenberg übernahm diese

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