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Weine (inklusive Auflistung der einzelnen Châteaus, achte bloß auf die Rechtschreibung, der

      Anzeigeerstatter ist ein Kenner). Nach über einem Jahr im Elend, mit Notunterkünften und Schwarzarbeitsjobs, eine ätzende Zeit, ist sie nun seit zwei Monaten Polizeiermittlerin im Kommissariat des 19. Pariser Arrondissements. Weit weg von dem dichten Geflecht familiärer Hassausbrüche und Gewalt. Aber auch weit weg von den Schulfreundinnen, den Lehrern, die manchmal ein offenes Ohr hatten, den heimlich verschlungenen Büchern und dem Theaterspiel im Foyer des Gymnasiums. Auf die Bühne steigen, aus sich selbst heraus existieren und jemand anders sein, der dich beschützt, eine wunderbare Entdeckung. All das ist mit einem Schlag in weiter Ferne, eine unerreichbare Welt … Worauf sie brennt: der Wunsch, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Und zwar schnell.

      Als sie endlich achtzehn ist, unternimmt sie mit Hilfe von Frauenorganisationen die nötigen Schritte, um wieder Papiere zu bekommen, endloses Warten in verschiedenen Rathäusern, wo sie eines Tages zufällig diese Anzeige liest: »Aufnahmeprüfung. Polizeiermittler. Voraussetzung: Mittlere Reife.

      Mittlere Reife. Mit sechzehn musste sie runter vom Gymnasium, um der Mutter zu helfen, und Studieren ist sowieso nichts für Mädchen. Für Jungs übrigens auch nicht. Ihre beiden großen Brüder haben in der Hochhaussiedlung Besseres zu tun. Voraussetzung: Mittlere Reife. Ich hab zwar nicht mehr, aber das habe ich. Polizeiermittlerin … Eine Arbeit, was Sicheres. Mehr noch, ein Ausweis, ein Platz im Leben, eine Rolle, die ich spielen kann, auf der Seite des Gesetzes, auf der Seite der Macht.

      Und heute wie an jedem Tag Formulare in dreifacher Ausfertigung, davon eins für die Versicherungen, Routine. Routine ist an diesem Morgen auch das Verschwinden von 174 Pekingenten, die in Privatküchen im Viertel Bas-Belleville in Schwarzarbeit zubereitet wurden und für die dort florierenden Chinarestaurants bestimmt waren. Vergeltungsmaßnahme, Erpressung, Eintreiben von Schutzgeldern, Beutezug von Hungernden? Im hiesigen Chinatown fühlt sich keiner aus dem Kommissariat so richtig wohl. Eine Ablenkung: Der Kommissar ruft Noria in sein Büro.

      »Nehmen Sie sich diese Akte vor, Kindchen«, hellbrauner Pappeinband, darin Fotokopien. »Rund fünfzehn Anzeigen in nicht mal einem Monat, alle zum selben Thema und am selben Ort. Keine große Sache, macht aber einigen Ärger. Ich hatte einen Anruf vom stellvertretenden Bürgermeister, die Wahlen rücken näher. Befragen Sie die Anzeigeerstatterinnen. Beruhigen Sie die guten Frauen, zeigen Sie ihnen, dass die Polizei etwas tut und bürgernah ist. Ich verlasse mich auf Sie, erstatten Sie mir heute Abend Bericht.«

      »Jawohl, Herr Kommissar.«

      Kindchen. Meinen Namen, Noria Ghozali, kriegt er wohl nicht über die Lippen. Das Atmen fällt ihr schwer. Aufs Schlimmste gefasst nimmt sie die Akte und setzt sich zum Lesen an einen freien Schreibtisch.

      Vier Frauen zwischen 67 und 85 Jahren, alle wohnhaft in einem der als ruhig geltenden, auf einem Hügel gelegenen »Dörfer« des 19. Arrondissements. Die Omas geben an, dass sie vor lauter Angst das Haus nicht mehr verlassen, da seit ungefähr einem Monat in Hundekot versteckte Knallfrösche explodieren und sie mit Hundescheiße bespritzen, wenn sie vorbeigehen.

      Noria atmet tief durch. Ich bin die Jüngste hier, die einzige Frau, die einzige Polizistin maghrebinischer Herkunft, einfache Ermittlerin mit Untergebenenstatus und noch ohne Festanstellung: Ist doch klar, dass ich die Hundescheiße kriege. Wer weiß, vielleicht stehen mir, wenn ich groß bin, überfahrene Hunde zu, wär ja ’n echter Aufstieg.

      Liste mit den vier »Opfern« und ihren Adressen, alle auf dem Hügel. Sie macht sich auf den Weg. Ruhige Sträßchen, wenige Autos, ein paar Fußgänger, die es nicht eilig haben, einander grüßen, ein Schwätzchen halten, dicht an dicht stehende Backsteinhäuschen mit Panoramablick auf die Basilika von Montmartre, die bei dem schönen Wetter mit ihrem minarettartigen Glockenturm und ihrem mediterranen Weiß wie eine Moschee anmutet.

      Die Erste auf der Liste ist Madame Aurillac, 67, die seit mehr als vierzig Jahren ein kleines Restaurant mit Tagesgericht führt, fünf Anzeigen allein von ihr. Ein niedriges Haus, Speiseraum ebenerdig, im Stock darüber zwei große Fenster mit bestickten weißen Gardinen. Noria öffnet die Tür und tritt ein. An einem Tisch sitzen vier betagte Frauen lachend bei einem Schwätzchen und einer Flasche Suze, in der nicht mehr viel drin ist, elf Uhr vormittags und schon beschwipst.

      »Madame Aurillac?«, fragt Noria.

      Die vier Frauen richten ihre Blicke auf sie, taxieren sie. Mittelgroß, die Figur in Hose und Jacke aus braunem Segeltuch nicht erkennbar, leicht mondgesichtig, glanzloser Teint, undurchdringliche schwarze Augen unter markanten Brauen, das schwarze Haar zu einem straffen Knoten gebunden.

      »Zu streng und schlecht frisiert«, sagt die erste.

      Eine stark geschminkte aufgetakelte Blonde setzt nach: »Bist du Anfängerin?«

      »Man könnte vielleicht den exotischen Aspekt stärker hervorheben«, sagt die dritte.

      Noria zückt ihre Karte. »Polizei.«

      Die Alten sind konsterniert. Eine der Frauen erhebt sich, schwarze Schürze um die Taille, gefärbte Kräuseldauerwelle, Pantoffeln. »Ich bin Madame Aurillac. Hier liegt eine Verwechslung vor. Wir haben einen Termin mit einer Bewerberin …«

      »Wegen einer Anstellung als Putzfrau«, ergänzt die Blonde.

      Just in diesem Moment erscheint die Bewerberin, frisiert, geschminkt, Pfennigabsätze, schwarzer Minirock und hautenges rosa Baumwolloberteil, bauchfrei und mit überbordendem Busen, alles wie aus dem Bilderbuch. Madame Aurillac eilt zu ihr, zieht sie hinter sich her auf die Straße, spricht ein paar Worte zu ihr und kehrt allein ins Restaurant zurück.

      »Dies ist ein seriöses Haus, müssen Sie wissen. Fragen Sie Inspektor Santoni, er isst oft hier zu Abend.«

      Santoni, Macho, Wampe und offenbar gut im Viertel eingeführt, der fehlte gerade noch.

      »Möchten Sie etwas trinken, einen kleinen Suze vielleicht?«

      »Danke nein, Madame. Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Ihre Anzeigen wegen der Knallfrösche zu reden.«

      »Wir haben auch Anzeige erstattet«, rufen die anderen im Chor.

      »Es ist nicht nur wegen der Knallfrösche. Das sind ungezogene kleine Rowdys. Sie kommen aus den Sozialwohnungsblocks weiter unten und machen hier auf dem Hügel nichts als Ärger.«

      »Sie spielen spät abends auf der Straße Fußball und drehen dabei ihre Radios auf volle Lautstärke, diese Hottentottenmusik.«

      »Würden Sie sie wiedererkennen?«

      »Die sehen doch alle gleich aus, sind alles Araber …« Madame Aurillac verstummt und sieht Noria verlegen an. »Das wollte ich so nicht sagen.«

      »Was wollten Sie denn sagen?«

      »Glauben Sie, Sie können diesem Treiben ein Ende machen?«

      »Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Sie steht auf.

      »Nicht doch ein kleines Tröpfchen?«

      Draußen atmet sie tief durch. Das entspannt. Heute Abend einen Bericht … Worüber? Die Puff-Oma-Gang? Santonis Freizeitgestaltung? Da wären mir die Pekingenten doch lieber gewesen.

      Mal unten bei den Sozialbauten vorbeischauen. Direkt gegenüber ein Geschäft mit Spielwaren, Bürobedarf, Büchern, geführt von einem alten Ehepaar in weißen Kitteln, klein, krumm, freundlich.

      »Polizei«, sagt Noria.

      Die beiden sehen sich an, sie schiebt sich hinter ihn.

      »Routinebefragung. Verkaufen Sie Knallfrösche?«

      »Sicher. Vor allem jetzt, vor dem 14. Juli. Wie alle Spielwarenläden. Nicht wahr, Mutti?«, sagt er und dreht sich zu seiner Frau um.

      Sie nickt.

      »Knallfrösche mit langer Lunte?«

      »Ja, auch.« Er zögert. Natürlich weiß er von der Sache mit der Hundekacke. Aber deswegen gleich die Polizei rufen …

      »Und

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