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waren geradezu geschmacklos, andere sehr ästhetisch. Am besten gefielen Victor die Stadtansichten, von denen Alfons auch einige in Öl gemalt hatte – darunter wieder Sacre Cœur.

      Doch Victors Blick wanderte immer wieder zu dem Bild auf der Staffelei. Das Fräulein Eva sah unschuldig und gleichzeitig verrucht darauf aus, was möglicherweise an der Federboa lag, die, in zarten Strichen gemalt, ihren Körper umschmeichelte. Allerdings sah sie nur so lange unschuldig aus, bis man den Blick nach unten auf die weit gespreizten Beine lenkte. Alfons hatte kein Detail ausgelassen, und Victor hielt die Hand mit der Bierflasche vor seinen Schritt, als er merkte, dass die Darstellung Wirkung zeigte.

      «Die gefällt dir, was? Aber sieh dich vor – ihr Verlobter kann wirklich ein rasender Stier sein, nach allem, was man so hört.»

      «Mir gefällt das, was ich auf der Leinwand sehe. Und soweit ich erkennen kann, hast du dort keinen Verlobten gemalt.»

      «Du hast ja Humor», feixte Alfons. «Auch wenn du das bisher gut versteckt hast!»

      Victor verzog das Gesicht. Er hatte es nicht spaßig gemeint.

      Aus Kappes Vorsatz, Klara zum Umzugsthema zu befragen, wurde nichts. Erst hatte er es vollkommen vergessen. Als es ihm im Bureau erneut eingefallen war, hatte er sich einen Notizzettel gemacht. Doch abends fand er keine ruhige Minute. Die Kinder waren ungewöhnlich laut und quengelig.

      «Die brüten bestimmt etwas aus», seufzte Klara.

      «Hoffentlich nichts Ernstes!» Kappe hatte am Tag zuvor gehört, dass ein Nachbarskind an Diphtherie erkrankt war, und seither waren seine heimlichen Ängste wiederauferstanden. Als er damals zur Volksschule ging, war sein Klassenkamerad Oskar an Kehlkopfdiphtherie gestorben. Ihm war die Luftröhre zugeschwollen, bis er keine Luft mehr bekam. Die Vorstellung, einem seiner Kinder könnte dieses grauenhafte Schicksal widerfahren und er könnte rein gar nichts dagegen unternehmen, schnürte Kappe fast die Kehle zu.

      Jedenfalls standen die Kinder mehrfach aus dem Bett auf, und der kleine Karl-Heinz rief bis nach Mitternacht immer wieder nach seiner Mama. Als endlich Ruhe eingekehrt war, war Klara so müde, dass sie gleich darauf ins Bett ging.

      Als Kappe sich endlich für die Nacht fertiggemacht hatte, hörte er nur noch ihre regelmäßigen Atemzüge. Leise legte er sich dazu und schlief ebenfalls rasch ein, doch gegen halb zwei drückte die Blase.

      Danach war er putzmunter. Der verdammte Kaffee! Gestern hatte er Gertrud Steiner gebeten, den Bureaukaffee ein wenig dünner zu machen, mit dem Erfolg, dass sie ihm mit beleidigter Miene etwas serviert hatte, das an gefärbtes Wasser erinnerte. Heute war sie wieder zur alten Gewohnheit zurückgekehrt und hatte den Kaffee so stark gebrüht, dass in der Brühe auch ein Hufeisen nicht untergegangen wäre. Und an einem Hufeisentag sollte man die letzte Tasse nicht zu spät trinken. Er schlief dann zwar abends meist trotzdem rasch ein, doch er schrak stets gegen zwei Uhr früh auf und lag wach, bis der Wecker um halb sechs gnadenlos zum Aufstehen bimmelte.

      Auch heute hatte er das Gefühl, immer wacher zu werden, denn zu viel ging ihm durch den Kopf. Klara schien in letzter Zeit mit ihren Gedanken ständig woanders zu sein. Sie war überhaupt nicht mehr bei der Sache. Neulich hatte sie ihm sogar einen falschen Knopf ans Hemd genäht und es nicht einmal gemerkt. Der Kaffee war alle, weil sie vergessen hatte, neuen zu kaufen.

      Kappe seufzte leise. Das dritte Kind war ganz offensichtlich zu viel gewesen. Der kleine Karl-Heinz war ein sehr fordernder Junge und saugte offenbar die letzte Kraft aus ihr heraus. Schon Gretchen war nicht einfach mit ihrem ausgeprägten Dickkopf, den sie wohl von ihrer Patentante und Namensvetterin Margarete Klump übernommen hatte, doch Karlchen konnte man praktisch gar nichts recht machen. Schon als ganz kleiner Wicht hatte er Nachbarn und Freunde zum Lachen gebracht, weil er oft unglaublich missmutig in die Weltgeschichte schaute. Kappe fragte sich bis heute, wie es sein konnte, dass schon ein Baby den Widerwillen gegen die Welt so deutlich mit seiner Mimik zum Ausdruck brachte. Ganz abgesehen davon, dass er auch viel schrie.

      Hartmut war das genaue Gegenteil von Karl-Heinz. Bereits als Säugling war er still und vergnügt gewesen. Man konnte ihn schon mit den einfachsten Dingen glücklich machen. Als Kleinkind hatte er stundenlang mit Klaras Töpfen gespielt, ohne dessen überdrüssig zu werden.

      Doch dass Hartmut so pflegeleicht war, wog das Genöle von Karl-Heinz nicht auf. Oft genug war Kappe heilfroh, der Tyrannei des Kleinen entrinnen zu können, indem er ins Bureau flüchtete. Klara hatte diese Chance nicht und wurde mit der Zeit immer unleidlicher. Und nun war ihr dieser ganze Zirkus offenbar auch aufs Gehirn geschlagen. Kappe konnte sich ihre Verstimmung und die geistige Abwesenheit zumindest nicht anderes erklären, denn es hatte in ihrem Leben ja ansonsten keine Veränderung gegeben.

      Wenn er doch nur die Gedanken abstellen könnte! Kappe versuchte, an etwas anderes zu denken. An etwas Schönes. Er wollte sich einen Spaziergang am Meer vorstellen, doch so ganz wollte ihm das nicht gelingen, denn er war noch nie am Meer gewesen. Als Kind war er mit seinem Vater im Fischerboot oft auf dem Scharmützelsee gefahren, aber das konnte man bestimmt nicht vergleichen.

      Überhaupt, sein Vater … Der war vor zwei Jahren gestorben, mit gerade einmal 65 Jahren. Nie war er vorher ernsthaft krank gewesen, und wenn er mal so etwas wie einen Schnupfen bekommen hatte und Mutter ihn zum Arzt hatte schicken wollen, hatte er stets nur ein mürrisches Brummen zur Antwort gegeben. Bevor sein Vater zugegeben hätte, dass er sich nicht wohl fühlte und vielleicht sogar ärztliche Hilfe hätte brauchen können, hätte er sich lieber die Zunge abgebissen. Als Fischer könne er sich solchen Pipifax wie eine Krankheit nicht leisten, hatte er stets gesagt.

      Und nun war sein Vater tot. Schon in den Monaten zuvor war er geistig stark verwirrt gewesen. An Kappes vierzigstem Geburtstag hatte er seinen eigenen Sohn nicht einmal mehr erkannt. Und natürlich hatte sein Vater sich auch nicht mehr daran erinnern können, dass er nie begriffen hatte, weshalb Kappe als Kind kein Draufgänger gewesen war. Er hatte diese Tatsache in den Diskussionen stets seiner Frau angelastet. «Du verzärtelst den Jungen. So wird nie ein echter Kerl aus ihm!», war ein Satz, den Kappe oft gehört hatte.

      Abends, wenn er nicht einschlafen konnte, hatte er sich nämlich oft in den dunklen Flur geschlichen und hinter der Küchentür gelauscht, was die Eltern so zu erzählen hatten. Dabei hatte er so manches gehört, was nicht für seine Ohren bestimmt war.

      So wie neulich, als Kappe eher versehentlich ein Gespräch belauscht hatte, das Dr. Brettschieß am Telefon geführt hatte. Er war an dessen Bureautür vorbeigegangen, die einen Spalt offen stand. Plötzlich hörte er, dass von der NSDAP die Rede war, und er konnte gar nicht anders, als stehenzubleiben, um zu hören, um was es ging. Sein Chef hatte für seinen Geschmack nämlich im Februar entschieden zu laut getrauert, als der SA-Sturmführer Horst Wessel von zwei Mitgliedern des Roten Frontkämpferbundes in seiner Wohnung erschossen worden war.

      Am Telefon hatte Brettschieß sich mit seinem Gesprächspartner dann über das Horst-Wessel-Lied unterhalten. Es waren Sätze gefallen wie «Endlich haben wir eine anständige Hymne!», und Brettschieß hatte gesungen: «Schon bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen!» Kappe hatte fast schon die Flucht ergriffen, doch die Neugier hatte ihn zurückgehalten.

      Richtig beunruhigt war er dann gewesen, als Brettschieß vollmundig gesagt hatte: «Bald weht hier ein anderer Wind! Dann können die Itzigs, Tagediebe und Faulenzer sich warm anziehen! Und im Präsidium wird auch aufgeräumt!»

      Kappe wagte nicht sich auszumalen, was das bedeuten könnte. Wenn es an Entlassungen ging, würde Kappe vielleicht als einer der Ersten auf der Abschussliste stehen. Was sollte dann aus ihm werden? Aus Klara und den Kindern? Und wieso wollte Klara auf einmal unbedingt von hier weg? Klara …

      Als der Morgen dämmerte, war Kappe endlich wieder eingeschlafen. So hörte er auch nicht, dass der kleine Karl-Heinz lauthals schrie und auf sein vermeintliches Recht auf Aufmerksamkeit bestand. Er hörte auch nicht, wie Klara aufstand und grummelte, dass Kappe wenigstens ein einziges Mal reagieren und den Kleinen trösten könne.

      «Oh, hallo, wir kenn’ uns doch!»

      Victor zuckte zusammen. In Gedanken versunken war er auf dem Weg zum Landwehrkanal gewesen, wo er eine Brücke malen wollte.

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