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prächtig. Jenny und Kai strahlten um die Wette. Wolle fühlte sich ermutigt, die Polonaise nun auch die Freitreppe hinauf an den Whirlpools vorbei zum Sonnendeck zu führen. Der Zug geriet ein wenig ins Stocken, als Wolle mit seinen kurzen Beinen Stufe für Stufe der Freitreppe erklomm. Von hinten gab es einen leichten Druck der Polonaisemasse. Plötzlich spürte Wolle ein Kitzeln an seinem Oberschenkel, verursacht durch die Yucca-Palme, die zwischen den beiden oberen Whirlpools zur Staffage stand und afrikanische Assoziationen wecken sollte. Kitzeln hatte Wolle noch nie ertragen! Hinzu kam der Druck der nachrückenden Polonaiseschar und die Wirkung der Pilsbecher. Wolle strauchelte und stürzte mit einem riesigen Platsch in einen der Whirlpools. Zuerst der Kopf und dann der ganze Körper hinterher. Gierig schlürften die Düsen des Pools nach Wasser, das aber nur noch in Restmengen im Pool selbst vorhanden war, dafür in umso größerem Maße jetzt die Freitreppe hinunterströmte. Auf ähnliche Weise musste das Nördlinger Ries entstanden sein, als ein gewaltiger Meteorit einschlug. Wer die Entstehung von Impaktkratern nachvollziehen wollte, war hier Zeuge einer beeindruckenden geologischen Demonstration geworden.

      „Wat is denn da vorne los?“, krähte Jupp Schmitz vom Ende des Zuges. Vor ihm auf dem gesamten Pooldeck und oben an der Innenreling des Sonnendecks krümmten sich die NOFRETETE-Gäste vor Lachen. Wolle selbst war äußerst unglücklich mit der Nase auf einer lechzenden Sprudeldüse gelandet, die den Eindruck erweckte, sie wolle ihn in die Eingeweide des Whirlpools hineinziehen. Nur mühsam befreite er sich, richtete sich auf und sah, wieder in der King-Kong-Position auf dem Empire State, die wiehernde Masse. Dieses Mal wusste er, wie er sich zu verhalten hatte, auch wenn er zunächst nicht erkannte, warum das Lachen kein Ende nehmen wollte: Das Whirlpool-Wasser hatte die bei seiner Leibesfülle ohnehin nur rudimentären Stoffelemente der Dienstkleidung so eng an seinen Körper geklebt, dass er problemlos an jedem Wet-T-Shirt-Wettbewerb hätte teilnehmen können. Mit seinen ausgebildeten Brüsten überbot er Gesine Harms um ein Vielfaches. Auch bei einem Wet-Boxer-Short-Contest standen seine Chancen nicht schlecht, wie ein Blick auf den Bereich unterhalb des Bauchansatzes verriet. Wolle Luther, ein moderner Hermaphrodit, zwei in eins. Er blickte an sich herunter, erkannte sein Zwitterwesen und stimmte dann in das Gelächter mit ein. Als ob es die ganze nordafrikanische Festlandsbevölkerung hören sollte, brüllte er vergnügt:

      „Ist es ein lebendig Wesen,

      Das sich in sich selbst getrennt?

      Sind es zwei, die sich erlesen,

      Dass man sie als eines kennt?

      Solche Fragen zu erwidern

      Fand ich wohl den rechten Sinn.

      Fühlst du nicht an meinen Liedern,

      Dass ich eins und doppelt bin?“

      Lieder, das war das Stichwort für Jenny, ein paar heiße Sommerrhythmen aufzulegen. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt. Wolle avancierte binnen kurzer Zeit vom Buhmann zum Liebling. Anerkennend klopfte ihm Kai auf die Schulter. „Gut gemacht! Echt professionell, wie du noch mal die Kurve gekriegt hast, ha, ha!“

      Wolles Augen aber wanderten über das Pooldeck. Er sah, wie der Mann, der gefragt hatte, ob er wie der Reformator heiße, von einer Liege im Schatten aufstand. Mit einem Wink forderte er andere, die ebenfalls im Schatten lagen, zum Mitkommen auf. Alles Personen, die bei der Polonaise nicht mitgemacht hatten und auch nicht in Bikini oder Badehose, sondern in unauffälliger Sommerkleidung auf den Liegen unter dem Sonnendeck ausgeharrt hatten. Der Leiter der Gruppe war Cornelius Schwacke, Pfarrer und Luther-Beauftragter mehrerer Kirchenkreise der Evangelischen Kirche in Westostdeutschland, der eine Tagung auf der NOFRETETE über die Perspektiven des Lutherjahres 2017 mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Tourismus und Kirche durchführte. Leute, die sich bisher nur von Begegnungen in miefigen Sitzungsräumen her kannten. Kein Wunder, dass die sich nicht gleich voreinander entblößten. Perspektiven zum Lutherjahr 2017, da nehme ich teil, sagte sich Wolle. Doch wie sollte er das anstellen?

      Erst einmal hatte er einen Termin beim Kapitän, wie ihm Nadja vom Key Account Management mit bedeutungsschwangerer Miene mitteilte. War es eine Einladung? Oder eher eine Vorladung? Mit vielem rechnete Wolle. Nie aber damit! Seine Vergangenheit sollte ihn auf der NOFRETETE einholen. Der Hammer!

      V

      Ulrike Braunholz war, objektiv gesehen, keine makellose Schönheit. Das Gesicht etwas länglich und pausbäckig, die Nase schmal, die Wangenknochen slawisch ausgeprägt, die Figur unauffällig. Sie war nicht der Typ Mädchen, dem alle Jungs mit offenem Mund hinterherstarrten. Aber Didi war seit der ersten Begegnung an der Bushaltestelle vollkommen besessen von ihr. Unerfahren im Umgang mit dem anderen Geschlecht grübelte er Tage und Nächte nach einer Möglichkeit, sie kennenzulernen. Er wartete oft Stunden an der Haltestelle alle Busse ab, die in die Richtung fuhren wie bei der ersten Begegnung mit Ulrike. Nach einigen Tagen hatte er den Rhythmus ihrer Fahrten herausgefunden, registrierte, woher sie kam und wusste bald, dass sie am Mädchengymnasium war. Oft stand er seitdem hinter Büschen oder Bäumen und beobachtete sie, wie sie die Schule verließ oder morgens die Schule betrat. Bei ihrem Gang erschauerte er jedes Mal, mehr Schmerz als Freude empfand er. Das Nachstellen entwickelte sich zu einer Droge, ein Verhalten, das sich von Tag zu Tag steigerte. Mit der Zeit stieg er an ihrer Haltestelle mit aus, verfolgte sie in gehörigem Abstand und wusste bald über ihr Herkommen Bescheid: Ihr Vater war der bekannte Arzt und Stadtrat Dr. Friedrich Braunholz, Internist und CDU-Mitglied. Über die Gartenhecke erkannte er ein grün gefliestes Hallenschwimmbad, das an das Wohnhaus angebaut und am Abend exotisch beleuchtet war. Wenn er Personen durch die Glasbausteinwand schemenhaft ins Bad steigen sah, stellte er sich Ulrike im Bikini vor und bekam ein Gefühl, das mit Wollust nur unzureichend erfasst ist.

      Manchmal fragte er sich, ob Ulrike sein Spannen und Nachstellen nicht schon bemerkt hatte. Der Gedanke war ihm gar nicht unrecht, ergäbe sich doch, sollte sie ihn darauf ansprechen, endlich eine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Aber nur selten hatte er Blickkontakt, und wenn, sah Ulrike sogleich auf den Boden, wie sie es auch tat, wenn andere in ihre Augen sahen. Sie war scheu, sagte er sich, und mit ihren braunen Kulleraugen erinnerte sie ihn auch optisch an ein Reh.

      Um einen Fortschritt zu erzielen, begann er, morgens um 5.00 Uhr aufzustehen und das Haus zu verlassen. Seine Mutter wunderte sich, aber er konnte ihre neugierigen Fragen gut abwenden. Er behauptete, sich am Morgen am besten auf die Schulaufgaben zu konzentrieren. Das Lernen in der Natur falle ihm leichter. In Wirklichkeit begab er sich auf eins der Felder vor der Stadt und pflückte jeden Tag einen kleinen Sommerstrauß, den er vor der Haustür der Angebeteten niederlegte. Allerdings tat er das, ohne eine Nachricht beizugeben, dazu fehlte ihm der Mut. Rational gesehen eine völlig unsinnige Aktion. Aber was ist in dieser Lebenssituation schon rational? Er freute sich, Ulrike später aus dem Bus aussteigen zu sehen und zu wissen, sie hatte sich am Morgen schon über sein Blumengeschenk gefreut. Irgendwie hoffte er auf ein Wunder, auf eine Begebenheit, die die Dinge zum Guten wendete. Das Wunder geschah, aber nicht in der Weise, wie er es sich erhofft hatte. Eines Tages legte er ein Sträußlein aus Klatschmohn und Kornblumen gegen 6.00 Uhr vor den Eingang. Er trat ganz vorsichtig auf die Treppenstufen, um jedes Geräusch zu vermeiden. Doch trotzdem öffnete sich plötzlich die Tür und heraus trat ein älterer, sehr rüstiger Herr, der ihn festhielt und fragte, warum er jeden Tag das Unkraut hier ablege. Es war Ulrikes Großvater, der im Erdgeschoss wohnte und als Frühaufsteher jeden Tag zuerst die Blumen entdeckt und sofort entsorgt hatte. Mühsam riss sich Didi von ihm los und suchte das Weite. Die Aktion, ein totaler Fehlschlag, ein Debakel, von dem er nur hoffte, Ulrike möge es nicht mitbekommen. Denn einen so feigen und anonymen Verehrer, wieso sollte sie den erhören?

      So sah er nur noch einen Ausweg: Hubert. Er war der unbestrittene Flirtkönig der Klasse, hatte mit fünfzehn Jahren schon ein gutes Dutzend Freundinnen und mit den meisten „etwas gehabt“, wie er das geheimnisvoll umschrieb. „Jedenfalls mehr als Knutschen“, erläuterte er im Kreis der Mitschüler und genoss die bewundernden Blicke. Ihm, Didi, gegenüber zählte er nicht zu den Oberlästerern, ja, manchmal hatte er das Gefühl, Hubert hege sogar ein paar Sympathien für ihn. Immerhin hatte er ihn bei der letzten Englisch-Arbeit, bei der Hubert neben ihn strafversetzt wurde, ein paar Vokabeln spicken lassen und einen dankbaren Blick geerntet.

      Hubert Knabe, der Liebesexperte, der Casanova,

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