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die Anorexia nervosa über die Lippen, als sich nämlich Gesine Harms an ihnen vorbei zur Obstbar schlängelte.

      Die Sonne war ein gutes Stück am Horizont hochgeklettert, eine leichte Brise wehte. Auf dem Pooldeck erschien das strahlend weiß gekleidete Animationsduo: Jenny, 25 Jahre, Studienabbrecherin aus der Hansestadt Bremen, die einfach gerne was mit Menschen machen wollte und mal gucken wollte, was sich beruflich vielleicht so ergibt, und die NOFRETETE ist ja irgendwie toll, da sind so viele spannende Leute und immer schönes Wetter und das Meer und mit der Crew einen Cocktail zwischendurch trinken und, ach, ich weiß auch nicht. Kai aus Leipzig, sein Abitur lag schon acht Jahre zurück, wollte nur mal ein paar Monate nach den Prüfungen relaxen, war ja echt Stress, auch wenn’s nur mit dem Notendurchschnitt drei Komma zwei endete, aber dann waren die Fristen zum Einschreiben an der Uni verstrichen, BWL und so, und dann hat ein Kumpel in einem Hotel auf Ibiza den Animateur gegeben und geschwärmt und dann hat sich das mit der NOFRETETE ergeben und ist ja auch total cool, obwohl, ich mein, manchmal geht’s auch ganz schön auf den Geist, jede Woche das gleiche Programm abziehen, den ganzen Sommer über, und manchmal gibt’s richtig Ärger mit Gästen, die rummaulen, und was soll aus mir werden, frag ich mich schon und überhaupt, und, ach, ich weiß auch nicht.

      Mit ein paar launigen Floskeln weckten die beiden Animateure die vom Frühstück erschöpften Beckers, Schmitz’, Haseneiers (gesprochen Hase-neiers), Greis’, den Frauenkneippverein, die sächsischen Imker und all die anderen. Wie dösende Seelöwen, speckig glänzend von der ersten Sonnenmilch, hatten sie dagelegen. Jetzt stellten sie die Liegen in die Sitzposition um. Jenny piepste begeistert: „Nun präsentieren wir Ihnen unseren Neuzugang. Wir, Kai und ich, wir haben unser Team erweitert. Freuen Sie sich mit uns über unseren neuen Animationsassistenten, Wolle Luther!“

      Bei diesen Worten trat Wolle aus der Pool-Bar hervor und zeigte sich der Menge. Der anfangs noch sehr spärliche Applaus ging, für ihn rätselhafterweise und ohne, dass er etwas getan hatte, in ein Gelächter über, das sich wie ein Lauffeuer über das ganze Deck verbreitete. Wie er aus manchen witzig gemeinten Äußerungen mitbekam, war es seine Kleidung, die diese Wirkung erzielte. Wie seine beiden Kollegen hatte er eine weiße kurze Hose und ein gleichfarbiges T-Shirt an, beides mit dem marineblauen Emblem der NOFRETETE. Bei der Bestellung der Größen war man offenbar von Bonsai und seinen Kollegen ausgegangen. Die riesigen Bestände an Mannschaftsbekleidung auf der NOFRETETE reichten nicht über die Größe XL hinaus. So hing das T-Shirt an Wolle mit seinen stattlichen 150 Kilogramm eher wie ein Lätzchen am Säugling. Nicht mal bis zum Bauchnabel reichte der Stoff, darunter quoll die gewaltige Plautze in mehreren Wulsten hervor. Die Hose war an Wolles Körper nur ein Höschen und erinnerte fatal an einen String-Tanga, bedeckte sie gerade mal das Geschlecht und einen Teil des Gesäßes, nicht den größten.

      „Wolle, wenn wir absaufen, leihst du mir dann einen deiner Rettungsringe?“, prustete Hans Blumenstiel los, einer der Imker.

      „Sexy, sexy“, riefen die drei Becker-Söhne fast unisono frech.

      „Is dat Hagrid, Rubeus Hagrid?“, staunte Julia Schmitz, die ausgewiesene Harry-Potter-Expertin an der Seite ihres zähnebleckenden Vaters.

      Nur Pfarrer Cornelius Schwacke, der mit seinen raspelkurzen Haaren und seiner rauhen Stimme verblüffend an den Sänger Sting erinnerte, fragte ernst hinter seiner Sonnenbrille hervor, einem Gucci-Imitat: „Schreibt er sich wirklich Luther? Wie der Reformator?“

      „Ja, ihr Lieben“, griff Kai die Worte auf, „ich merke, Wolle schlägt voll bei euch ein. Mit seinen 51 Jahren ist er im Herzen jung geblieben, wie ihr seht. Sonst hätte er sich nicht auf so einen Job beworben. Ha, ha. Vielleicht sagst du mal selbst was zu deiner Person. Ich meine, wer du so bist, Wolle, und wo du herkommst und so. Echt cool, dass du hier bist, altes Haus.“

      Er drückte Wolle, der auf die Freitreppe gestiegen und damit für alle gut sichtbar war, das Mikro in die Hand. Dieser stierte verärgert ins Wasser des neben ihm sprudelnden Whirlpools.

      „Los, sag was, Wolle, ha, ha“, spornte Kai ihn an.

      Wolle pumpte Luft in sich, das T-Shirt spannte bis zum Äußersten, dann brüllte er los:

      „Ihr wollt mich hier alle verarschen, was? Lachen auf meine Kosten, oder was? Wisst ihr, wie ich das nenne? He? Gottlos ist das!“

      Wolle stand auf der Freitreppe wie King Kong auf dem Empire State Building, bereit zum Sprung auf die unter ihm liegende Meute.

      Gespenstische Stille trat ein. Einige klappten die Liegen wieder runter und machten den Seelöwen. Vom hinteren Teil des Pooldecks riefen einige „Pfui“, „Dafür haben wir nicht bezahlt“, „Uns noch beschimpfen lassen! Sauerei! Wir wollen Spaß haben!“, „Was soll das mit Gott? Wir sind doch hier in keiner Kirche. Unverschämt. Ich bin Atheist!“

      Kai und Jenny lösten sich erst langsam aus der Erstarrung, die sich ihrer bemächtigt hatte. Sie baten um eine kurze Unterbrechung und zogen Wolle in die Küche der Pool-Bar.

      „Sag mal, du bist wohl völlig bescheuert“, erregte sich Kai, „du kannst doch nicht die Leute anpflaumen. Wir müssen die unterhalten, verstehst du? Sonst verlieren wir hier alle unseren Job!“ Jenny nickte heftig. Die beiden taten Wolle leid. Er hatte sie in richtig große Schwierigkeiten gebracht, weil er die Gepflogenheiten auf dem Schiff und die strengen Anweisungen für das Personal nicht kannte. Kleinlaut fragte er die beiden, was er tun solle, um die Scharte wieder auszuwetzen. „Keine Ahnung, lass dir was einfallen! Wir machen jetzt erst mal weiter.“

      Jenny und Kai sprangen wieder aufs Freideck, zeigten beste Laune und begannen ein Quiz, bei dem Cocktails und andere leckere Preise winkten. Wolle dagegen saß geknickt in der Küche der Pool-Bar. Schon mit seinem ersten Auftritt hatte er sich viele Sympathien verscherzt! Wie sollte er da seine Vision umsetzen, Luthers kreatives Denken und sein Vertrauen in die höhere Macht unters Volk zu bringen, wenn er selbst so ein Spielverderber war? Der Mann aus Nazareth, erinnerte er sich, hat auf der Hochzeit zu Kana nicht die Party mit irgendwelchen Befindlichkeiten verdorben. Im Gegenteil, als der Wein alle war, hat er noch besseren besorgt, damit die Party weitergeht.

      Auf Deck war sie schnell wieder da, die unverwechselbare, einzigartige NOFRETETE-Laune. Schepperndes, brüllendes, wieherndes Lachen auch beim dünnsten Witz, gierige Blicke beim Verteilen der Strohhalme auf richtige Fragen, die den erfolgreichsten Sammlern reiche Cocktail-Ausbeute in Aussicht stellten. Jenny und Kai hatten es binnen kurzer Zeit geschafft, den von Wolle angerichteten Flurschaden nicht nur einzudämmen, sondern vergessen zu machen. Das Quiz war abgeschlossen, viele zufriedene Gesichter. Die beiden Animateure setzten an, mit Waka-Waka, This Time for Africa von Shakira auf den nächsten Hafen, La Goulette in Tunesien, einzustimmen, da ertönte Wolles ein wenig pastoral wirkende Stimme unverkennbar aus dem Poollautsprecher. „Achtung, Achtung, eine Durchsage. Hier spricht ein reuiger Sünder. Wolle Luther hat sich noch nicht akklimatisiert auf dem Schiff. Er kennt den NOFRETETE-Code noch nicht. Doch gelobt er jetzt Besserung. Hinter dem Vorhang zur Pool-Bar steht eine kleine Versöhnungsgabe. Bitte bedient euch. Ende der Durchsage. Euer Wolle.“

      Zwei Philippiner zogen den Vorhang, der vor der Pool-Bar aufgebaut war, auseinander und legten den Blick frei auf einen länglichen Tisch mit Hunderten Plastebechern voller frisch gezapften deutschen Pilsbieres. Eigentlich war das der Begrüßungstrunk des Kapitäns. Wolle aber hatte das erfahren, sich vergewissert, dass dieser nicht persönlich vorbeikam, sodann das Zweitmikrophon ergattert und sich die Runde Freibier auf die eigenen Fahnen geschrieben. Jenny, Kai und der philippinische Barchef der Pool-Bar durchschauten das Manöver. Allerdings sprangen die Seelöwen jetzt erstaunlich behände von ihren Liegen hoch und sicherten sich jeder einen, manche auch zwei der Halbliterbecher. Sie stießen auf Wolle an und ließen ihn hochleben. Dieser strahlte mit den kleinen Augen hinter seinem wallenden Bart hervor, stieß mit jedem fröhlich an und hatte am Schluss selbst einige Becher bei mittlerweile starker Sonnenhitze gekippt. Jenny und Kai waren froh, den Stimmungsfauxpas auf diese Weise ausgebügelt zu wissen. Waka Waka ertönte, und Wolle schritt stark hin und her wackelnd übers Deck und lud andere ein, ihm zu folgen, eine Polonaise zu bilden. Schon bald schlängelte sich ein langer Zug, darunter alle Jüngerinnen des Gesundheitsapostels Sebastian Kneipp aus Stuttgart-Bad Cannstatt und die sächsischen Imker mit Panamahüten,

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