Скачать книгу

sauberste Zimmer als Prämie fest. Das zweite bekam vierzig, das dritte dreißig, das vierte zwanzig und das fünfte zehn. Am nächsten Tag war Kirmes. Das Geld war ersehnt. Alle strengten sich an. Nur Karsten nicht. „Es sieht doch gut aus“, lächelte er verunsichert.

      Ich begriff nichts.

      Ein Jahr später besuchten wir seine Oma in Hamm. Als ich die Wohnung betrat, waberte ein eigenartig stinkender Geruch in meine Nase, ein Geruch, den ich aus Karstens Zimmer kannte. Mitten im zugemüllten Messie-Haushalt saß Karsten im Ohrensessel seiner Oma und lächelte. Ich sah ihn an und fragte:

      „Karsten, wo fühlst du dich wohler? Hier“, ich zeigte auf den gesamten Unrat, „oder in deinem aufgeräumten Zimmer?“

      „Hier!“ Wieder lächelte er verunsichert.

      Und jetzt begriff ich es.

      Monatelang hatte ich ihn mit meinen Sauberkeitsvorstellungen überfordert und gekränkt, ihm sogar Faulheit vorgeworfen. Welch’ ein Trugschluss meinerseits, welche Missachtung seiner Gefühlswelten!

      Er verzieh mir, lächelnd.

      Ich hatte verstanden, meine Wahrnehmungen und Vorstellungen auf den Prüfstand zu stellen, wenn es um die Loyalität zu einem Kind und seiner Familie geht.

      Mir fiel ein, wie sehr ich meine neuen Eltern gekränkt haben musste, jedes Mal, wenn wir Besuch bekamen. Ich spielte Theater und tat so, als ob ich ein armes, armes, vernachlässigtes Heimkind wäre.

       Besucher erkundigten sich nach mir, dem Knilch, und fragten, ob es mir gut ginge in der neuen Familie. Krokodils-Tränen rollten über meine Wangen und verstärkten die mitleidigen Blicke über mein grausames Schicksal, von der leiblichen Mutter abgegeben worden zu sein. Der Fairness halber hätte ich freudig lächelnd antworten müssen, dass es mir sehr gut ginge. Das aber tat ich nicht.

      Die traurigen Blicke meines Vaters trafen mich. Er setzte sich an mein Bett, der Besuch war gegangen, und schaute mich schweigend an. Und ich spürte ein seltsames Gefühl in mir aufsteigen, ein Gefühl, das ich nicht kannte, das ich nicht wollte. Trotzig heulte ich ins Kissen: Was habe ich falsch gemacht? Es muss aber falsch gewesen sein, sonst würden sie nicht so reagieren, mahnten mich diffuse Gefühle, soweit ich mich erinnern kann.

       Meine Mutter war so schwer beleidigt, dass sie zum Gute-Nacht-Sagen erst gar nicht mehr erschien. Das gab mir zu denken. Irgendwie schämte ich mich, und wusste nicht, wofür.

       Jahre später las ich das zweite Buch: ‚Herr Knilch und Fräulein Schwester‘, mit dem mein Vater seinen Frust über mich von der Seele geschrieben hatte, allerdings auch, um Adoptiv-Eltern trotz aller Rückschläge Mut zu machen.

       „Bist du mit dem, was ich über dich geschrieben habe, wirklich einverstanden, soll ich etwas ändern?“

       Diese Frage meines Vaters überraschte mich, zumal ich ihn mit einem aufmüpfigen Spruch zwei Tage zuvor aus der Fassung gebracht hatte. Er wollte mich wieder wegen irgendeiner Eselei mit seinem Spazierstock züchtigen. Ich nahm all’ meinen Mut zusammen und rief: „Denk’ daran, du verdienst dein Geld mit mir!“

       Er schaute mich irritiert an, ließ den Stock fallen und zog seine Stirn in Falten. Dann brach es aus ihm heraus:

       „Ich habe Krieg und Gefangenschaft überstanden. Ich danke Gott und dem Schicksal. Jetzt bin ich für dich da. Ich weiß, dass Eltern keine Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten können, Adoptiv-Eltern schon gar nicht, wofür auch? Du kannst nichts für dein Schicksal, aber, hast du jemals etwas von Familienehre und Liebe und Loyalität und Dankbarkeit gehört?“

       Fragen über Fragen schossen mir als Sechzehnjährigem durch den Kopf, als ich seine Gedanken und Empfindungen las, die das Zusammenleben mit mir betrafen, dem Knilch, oft zermürbend, selten beglückend: Hätte ich bereits damals vom ersten Tag an und immer wieder zeigen müssen, dass es mir in dieser Familie gut geht? Dass sie sich intensiv um mich kümmern? Dass sie meine Eigenarten ertragen? Dass sie mich überhaupt zu sich genommen haben? Dass sie mir zeigen, was gut und was böse ist? Auch, dass sie mich verhauen, wenn ich Mist gemacht habe? Muss ich dafür dankbar sein? Wie zeigt man Dankbarkeit? Muss ich meiner Mutter dankbar sein, dass sie mich in fremde Hände gegeben hat?

       Ich stutzte. Und nahm mir vor, nie wieder schlecht von ihnen zu denken oder Falsches über sie zu erzählen.

       Betroffen legte ich das Manuskript zur Seite. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, wie anstrengend, wie fordernd ich war, und wie wenig ich zurückgegeben hatte. Ich schämte mich. Aus diesem Gefühl erwuchs der Gedanke, es wieder gut machen zu wollen, bei anderen Kindern.

      Wenn Eltern resigniert resümieren: „Wir haben alles erdenklich für dich getan, wir machen alles nur für dich – und du, was machst du? Warum machst du alles kaputt, was haben wir falsch gemacht?“ Steckt hinter diesen Gedanken und Fragen nicht der unbewusste Wunsch nach dankbaren Kindern?

      Jahre später erlebte ich Adoptiveltern, die an ihrer selbstgewählten Aufgabe wuchsen. Ihr sehnsüchtiger Wunsch nach einem leiblichen Kind erfüllte sich nicht. Sie wollten aus unterschiedlichen Gründen unbedingt ein Kind, um ihre Ehe zu retten, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, um der biologisch-tickenden Zeitbombe ein Schnippchen zu schlagen und der ureigentlichen „Aufgabe“ einer Frau gerecht zu werden.

      Das Adoptionsverfahren in Deutschland hat so seine Tücken und dauert verhältnismäßig lange. Schneller geht es, wenn man ein Kind aus Brasilien oder Indien oder Haiti oder Afrika in unsere beschützende Kultur integriert, ihm unglaublich viel Liebe schenkt und mit Luxusgütern umgibt, als Wiedergutmachung zum vorherigen Leben, in dem es an Hunger, diversen Krankheiten oder als Opfer grausamer Misshandlungen gestorben wäre.

      „Es wird keine Dankbarkeit erwartet, wirklich nicht“, sagen alle Adoptiv-Eltern, offiziell, wenn sie gefragt werden.

      Heute, am einundzwanzigsten September 2016 feiern wir den Welttag der Dankbarkeit. Man dankt nicht mehr, weder dem Polizisten, noch den Ärzten, den Geistlichen sowieso nicht, den Lehrern ebenfalls nicht. Man nimmt, fordert, alles wie selbstverständlich. Eigenartigerweise freut man sich auf eine kleine Geste des Autofahrers, der, trotz seiner Vorfahrt, einen vorlässt. Oder in der Schlange an der Kasse, wenn einer vorgelassen wird, der nur zwei Kleinigkeiten im Arm hat. Oder wenn einer sagt: „Dankbarkeit ist eine Stufe zum Glück!“

      „Ich freue mich, wenn Jakob meine Werte verinnerlicht, die ich ihm vorgelebt habe, aber Dankbarkeit? Dankbarkeit hat so etwas Demütigendes, sich Unterordnendes zur Folge. Das will ich nicht“, sinniert Gerald. Ein merkwürdiger Glanz in seinen Augen verrät verborgene Empfindungen im tiefsten Inneren. Der Glanz bezeugt den heroischen Einsatz, einem jungen Leben Optimales zu bieten, er nimmt seelische Verletzungen in Kauf, die durch dieses älter werdende Mündel überhaupt erst entstehen. Irgendwann werden Herz und Verstand reagieren, so seine unausgesprochene Hoffnung, ein Traum eben, der den Lohn für sein Engagement, seine Freude am Gelingen und eine nicht eingeforderte, unausgesprochene Dankbarkeit einschließt.

      „Wenn ich gefragt werde, ob ich ein zweites Mal diese Tortur einer Adoption eines Kindes wagen würde“, sagt Gerald ungefragt, „egal ob Kinder aus anderen Kulturen oder hier aus Europa, würde ich mit NEIN antworten. Wenn das urvertrauende Liebesband zwischen Mutter und Kind zerrissen ist, kann man die Wunde zwar behandeln, nie aber heilen!“

      Jakob nimmt nervös seine große Dunkelrandbrille von der Nase, rückt sein stylisches Halstuch zurecht, sein Vater trägt ähnliches, und antwortet, dass er keine Dankbarkeit kenne und nur sich selbst lieben würde, „wen denn sonst?“

      Kann es sein, dass Adoptivkinder diesen Traum ihrer Adoptiv-Eltern nach inniger Harmonie und gegenseitiger Dankbarkeit, die Eltern immer mit Kindern verbindet, intuitiv spüren und darum ein keimendes Gefühl der Abwehr dieser ihnen entgegengebrachten Zuneigung zelebrieren müssen? Eine aus der Tiefe erwachsene Abwehr, aus Angst davor, fallengelassen zu werden? Obgleich da Menschen sind, die sich auf

Скачать книгу